Kapitel 14
Tod und Verderben

Aran-dûrs feines Gehör nahm das Geschoss bereits wahr, als es die Bogensehne kaum verlassen hatte – aber er kümmerte sich nicht darum. Keine Waffe auf diesem Schlachtfeld konnte ihm etwas anhaben, selbst die Elbenklingen, die manche Dúnedain führten, waren ihm im Moment seines größten Triumphes gleichgültig. Er hob sein Schwert noch ein wenig höher und beendete seinen Zauber mit einem scharfen Laut und siehe, die Tore Fornosts barsten wie trockenes Holz! Metallsplitter und Eisenbeschläge flogen nach allen Seiten davon und trafen jeden, der sich nicht schnell genug zu Boden geworfen hatte. Die Schreie der Verwundeten und Sterbenden hallten von der Festungsmauer nieder und vermischten sich mit den Geräuschen unzähliger Füße. Die nachströmenden Orks stürmten über die Körper ihrer Feinde und ihrer Kameraden mit lautem Gekreische in die Stadt hinein.
Aran-dûr spürte den Pfeil wie einen winzigen Hauch auf seine dunklen Gewändern. Mit einer fast widerwilligen Neugier zog es seinen Blick zu dem Bogenschützen hin, der es gewagt hatte, auf ihn anzulegen.

Freders Herz blieb fast stehen, als sich die Gestalt auf dem schwarzen Pferd zu ihm umwandte und ihn mit unsichtbaren Augen zu mustern schien. Der Pfeil war wirkungslos von den dunklen Gewändern abgeprallt, was Freder gleichermaßen mit Verwunderung wie Entsetzen erfüllte.
Hastig ergriff er einen zweiten Pfeil aus seinem Köcher und legte ihn so schnell an, wie er es noch nie getan hatte, denn der unheimliche Reiter wendete sein Ross und lenkte es langsam auf den bebenden Hobbit zu, das lange Schwert wachsam in der rechten Hand.
Freder erhaschte nun einen Blick auf brennende fürchterliche Augen, die ihn unter der Kapuze hervor musterten und in einen Bann zu zwingen trachteten, aber er wehrte sich, indem er an all die dachte, die er liebgewonnen hatte und die ihm am Herzen lagen – und die er verloren hatte!

Voller Zorn und Kummer ließ er den Pfeil von der Bogensehne schießen und wünschte nichts sehnlicher, als das er sein Ziel finde.
Ein Fauchen drang unter der Kapuze hervor, das Freder das Blut in den Adern gefrieren ließ und er stolperte rückwärts. Die Gestalt griff mit einer behandschuhten Klaue nach dem gefiederten Schafft, der kaum zwei Finger breit über dem Kragen des Mantels stecken geblieben war und zog daran, bis sich der Pfeil löste. Freder sah, dass die eiserne Spitze rauchte und mit einem Mal war sie verschwunden.

Aran-dûr schnaubte verärgert. Der Pfeil hatte sein geisterhaftes Fleisch durchdrungen und sich in seine Kehle gebohrt. Er empfand nichts dabei, aber es erzürnte ihn, dass das kleine Wesen mit dem Bogen so hartnäckig war und nicht erkannte, wann es hieß, aufzugeben und davonzulaufen. Und als Freder ein drittes Mal den Bogen hob, beschloss Aran-dûr, dem ermüdenden Spiel ein Ende zu machen. Mit einer fast anmutigen Bewegung erhob er den Schwertarm ...

Fassungslos starrte Freder das Schwert an, das aus seiner Brust ragte und dessen verzierter Knauf in einem eigenen Licht zu funkeln schien. Nur zu deutlich sah der Hobbit die fremdartigen Runen auf der Klinge, die sich zu winden schienen wie schwarzes Gewürm aus den Tiefen der Erde. Seltsamerweise spürte Freder keinen Schmerz, er fühlte nur, dass seine Beine zu wanken begannen und dass er langsam auf die Knie fiel und dann war da nichts mehr als eine große Zufriedenheit.

Schweigend betrachtete der Herr von Angmar den kleinen, zerschundenen Körper vor sich im Schnee. Ein wenig war er verwundert, denn ein solches Geschöpf war ihm noch nicht unter die Augen gekommen.
Das kleine Wesen hatte Mut bewiesen – mehr Mut als unzählige andere, die ihm jemals gegenübergestanden hatten. Sie waren davon gerannt oder auf ihr Angesicht gefallen und hatten um Gnade gewinselt. Nicht so dieser kleine Krieger, der seinen kurzen Eschenbogen noch in der Hand hielt und dessen braune Augen gebrochen in den düsteren Himmel schauten, aus dem lautlos die Flocken fielen und sich wie ein Leichentuch über das Schlachtfeld legten.
Aran-dûr lenkte sein Pferd noch ein wenig näher heran, denn ein Blitzen wie von Sternensilber hatte seine Aufmerksamkeit erregt. In den zerrissenen Gewändern des Hobbits entdeckten seine scharfen Augen Teile einer Brosche. Er konnte genau erkennen, was sie einmal dargestellt hatte, auch wenn sein Schwert sie gespalten und zerstört hatte.
Ein verächtliches Lächeln glitt über Aran-dûrs schmale Lippen.
Narsil!

Ein jämmerliches Symbol vergangener Größe, an dem die Dúnedain festhielten, obwohl sie doch längst verloren hatten. So weit war es gekommen, dass sie Fremdlinge mit ihrem Schmuck behingen und in ihren Reihen kämpfen ließen. Dabei war alles umsonst.
Fornost war gefallen und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis nach Arnor auch Gondor unterging. Der Dunkle Herrscher würde schon dafür sorgen, wenn er erst einmal wieder die Gestalt angenommen hatte, die seine wahre Macht deutlich machen würde. Bis dahin war es Aran-dûr und seinen acht Gefährten vorbehalten, Saurons Willen zu vollstrecken, seine Augen und Ohren zu sein und Schrecken über Mittelerde zu bringen.
Aran-dûr spürte den erdrückenden Geist seines Herrn immerfort auf seiner Seele lasten, aber er kämpfte nicht mehr dagegen an. Sein Widerstand war gebrochen und er hatte sich ergeben. Sauron war wieder mächtig geworden – auch ohne den Einen, der alle beherrschte – und er begann langgehegte Pläne mit Umsicht und Heimlichkeit in die Tat umzusetzen. Aran-dûr erschauerte. Ein wenig Eigenständigkeit war ihm noch verblieben, aber alle seine Bemühungen waren letztlich nur darauf gerichtet, seinem finsteren Herrscher zu gefallen – denn Saurons Missfallen war fürchterlich über alles Vorstellbare hinaus!
Also würde Aran-dûr das Haupt beugen und dem Lidlosen Auge seine Seele bieten ... und das besiegte Arnor. Der entscheidende Schritt war heute getan.

Der Herr von Angmar erhob langsam die Hand, seine behandschuhten Finger streckten sich und er rief sein Schwert. Mühelos löste es sich aus dem Leib des Hobbits und kehrte zu seinem Gebieter zurück und die Blutstropfen an ihm gefroren, als der Herr der Nazgûl es berührte.
Aran-dûr zog sein Pferd herum und ritt auf die geborstenen Tore Fornosts zu, um seinen Fuß in die besiegte Stadt zu setzten. Lange genug hatte es gedauert, aber er war nicht mehr an die Zeit gebunden, die alle Sterblichen unterwarf und selbst die kühnsten und edelsten unter ihnen einmal ins Grab brachte. Er überdauerte Jahrhunderte und Jahrtausende mit dem Ring an seiner Hand und er würde in alle Ewigkeit sein, denn der Sieg der Dunkelheit war nah!
Aran-dûr ritt über eine Straße aus zerbrochenen Gliedern und Blut in die Hauptstadt Arthedains ein, die ebenso ein Schlachtfeld war, wie es vor den Toren lag und er lachte und alle, die in seiner Nähe waren fielen entsetzt auf ihr Angesicht, so grässlich war dieser Laut.
Der Herr von Angmar war zufrieden und wenig später hatte er vergessen, dass ihm ein Halbling die Stirn geboten hatte ...

© Heru n' nerte 12/2002
überarbeitet 08/2003

Fortsetzung im dritten Teil.