Jack
Der Schnee, der auf die Windschutzscheibe gefallen war, hatte den Innenraum des
Autos abgedunkelt und mit dem dämmrigen Industrielicht der Straßenlaterne, dass
nur vorsichtig den Weg hindurch die Decke fand, wirkte die ganze Szene schon
fast surreal. Mit einem Ruck riss sich Jack aus der Stimmung, in der er die
letzten 30 Minuten auf sein Lenkrad gestützt verharrt hatte und drückte die Tür
auf. Er sollte wirklich darauf achten, dass ihm sein Schloss in der Kälte nicht
einfror, dachte er bei sich als er mit der Hand die Kerze und Tüte auf dem
Rücksitz ergriff. Der Friedhof war nicht so menschenleer wie er sonst so oft
gewesen war und überall versuchten kleine Lichter gegen die Wucht des Schnees
und die drückende Dunkelheit anzukämpfen. Während Jack den festgetrampelten
Spuren anderer folgte, formte sein Atem merkwürdige Gebilde in der Luft, die für
einen kurzen Moment fast anfassbar aussahen. Vor einem kleinen Grabstein am
Rande des Platzes blieb er stehen und er beugte sich kurz hinunter, um ihn zu
berühren. „Hi, Kleiner. Fröhliche Weihnachten." Fröhliche Weihnachten – Ha, er
konnte immer noch gut lügen: was war denn bitte an diesem Fest fröhlich?! Sein
Blick fiel auf eine andere Kerze in Schnee und unter dem angelehnten Tannenzweig
lag leicht verdeckt ein Briefumschlag. In der geschwungenen Schrift seiner
Ex-Frau stand dort geschrieben „Charlie". Vorsichtig und mit zitternden Fingern
öffnete er ihn. Als in seiner Hand eingerahmt ein paar Photos lagen, spürte er
wie der Schmerz plötzlich eingesogener Luft seine Lunge hinunter ran. Vom
obersten der Bilder lächelte ihm ein Baby zu, mit dem gleichen Blitzen in den
Augen, dass Charlie einst gehabt hatte. Auf der Rückseite war geschrieben: „Für
meinen großen Bruder Charlie." Das nächste Photo mit der Bildunterschrift:
„Christopher James Wood. Geboren am 21-11-2002" zeigte Sara wie sie ihren Sohn
im Arm hielt. Als letztes beinhaltete der Umschlag den Zeitungsausschnitt in dem
Sara und ihr neuer Mann stolz die Geburt ihres Sohnes verkündeten. Ohne jedes
Geräusch fielen die Bilder auf den Boden und mit ihnen sank Jack auf die Knie.
Langsam und bedrohlich zog sich die Nässe und mit ihr die Kälte im Stoff der
Hose hinauf und erinnerten so daran, dass einige Stunden vergangen waren. Einige
Stunden, in denen Jack sich nicht gerührt hatte, und in denen er so manchen
mitleidsvollen Blick von den anderen Menschen auf diesem Platz bekommen hatte.
Heiße Tränen hatten den Schnee an manchen Stellen für einen winzigen Moment in
der Zeit geschmolzen, aber längst waren ihre Spuren wieder überdeckt worden. Auf
einmal stand Jack ruckartig auf. Sollte er die Kälte vorher nicht bemerkt
haben?! Bestürzt fragte er sich, ob sein Herz erstarrt war, so wie die Kälte
hier draußen. Mit einem letzten Strich über den Grabstein und „Auf Wiedersehen,
Charlie." suchte er sich den Weg durch die Dunkelheit zu seinem Auto.
