Cassandra
Stumm blickte sie die Straße entlang, die sie langsam passierte. Die eisige
Kälte machte die Nacht kristallklar und manchmal schien es, als wenn der Rauch
der Schornsteine still stehen würde. Durch die Fenster der Häuser leuchtete
sanft der Schein von Kerzen, in einem Garten lächelte ihr ein Engel entgegen,
steif und unbeweglich auf Metall und Glas gezwängt. Stetig und leise rannen
Cassandra die Tränen die Wangen hinunter und verwischten die Reste des Make-ups.
Ein Weihnachtsmann, der aus einem der zahlreichen Kleinlastwagen der Agenturen
stieg, rief ihr irgendetwas hinterher, aber sie hielt es noch nicht einmal für
nötig sich umzudrehen. ‚Zauber der Weihnachtszeit' – Ha! Davon hatte sie dieses
Jahr nichts gespürt. Als sie vor einigen Jahren die Erde zu ihrer Heimat gemacht
hatte, war sie von diesem Fest fasziniert gewesen. Dieses Jahr war die
Adventszeit nur von dem andauernden Streit mit ihrer Mutter, wo sie den
Weihnachtsabend verbringen würde, geprägt, der darin resultiert hatte, dass sie
an diesen Morgen kurzerhand das Haus ohne jeden Gruß verlassen hatte und zu
ihrem Freund gefahren war. Wie wenig und noch dazu schlecht sie Dominik
eigentlich gekannt hatte, war ihr am heutigen Tag erst richtig klar geworden.
Als er sie Anfang Dezember dazu eingeladen hatte, Weihnachten mit ihm zu
verbringen, hatte sie ein gemütliches, romantisches Weihnachtsfest mit einem
großen Tannenbaum, roten Kerzen und einem großen Festessen vor Augen gehabt –
eben so wie sie es von zu Hause kannte. Dominiks Tannenbaum war aus Plastik, 30
cm hoch, die Kerzen künstlich und kaputt und der Weihnachtsbraten hatte die
Aufschrift „5 Min, Höchste Stufe in ihrer Mirkowelle" getragen. Zudem hatte sie
sich spätestens nachdem er versucht hatte, sie vor dem Weihnachtsbaum zu
verführen, gefragt, ob er überhaupt wusste wie man das Wort „romantisch"
buchstabierte. Wütend war sie aufgestanden und hatte die Tür in die Angeln
geworfen, ohne überhaupt zu wissen wohin sie gehen wollte.
Plötzlich und unerwartet merkte Cassandra wie sie vor ihrer eigenen Haustür
stand und mit tauben Fingern wühlte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel.
Vorsichtig öffnete sie die Tür. Der Hausflur war dunkel und auch sonst war in
keinem der Zimmer ein Lichtschimmer zu finden. Während sie durch die Zimmer
ging, und den halbfertigen Weihnachtsbraten auf dem Fußboden der Küche und die
echten Kerzen neben dem zimmerhohen, ungeschmückten Weihnachtsbaum im Wohnzimmer
fand, rannen die Tränen immer heftiger die Wangen herunter. „Mum?" Sie erhielt
keine Antwort. Schluchzend brach Cassandra auf dem Boden zusammen – was hatte
sie ihrer Mutter angetan?! Und noch viel wichtiger – wo war sie? Zögernd fiel
ihr Blick auf die Kommode, auf der neben zahlreichen Bildern von ihr selber auch
einige andere standen und in diesem Moment wusste Cassandra, wo sie ihre Mutter
finden würde. Zitternd wählte sie die Nummer eines der zahlreichen
Taxiunternehmen und ohne genau zu wissen warum, schob sie die Kerzen in ihre
Handtasche. Dann verlies sie das Haus und wartete im fallenden Schnee auf die
Ankunft des Taxis. Die Tränen rannen ihr immer noch die Wangen hinunter.
