Kapitel 2: Frieden
„Das Schwert ist im Mann."
Altes japanisches Sprichwort
In den nächsten 2 Wochen nahm Kenshins Tagesablauf einen geregelteren Ablauf an, und zum ersten Mal seit er Kioto verlassen hatte, begann er sich wirklich zu entspannen. Die Hirayoshis waren freundlich zu ihm und behandelten ihn fast wie einen lange verlorenen Sohn, und Katsuo und Mitsuko, die 2 Diener der Familie, respektierten ihn als ihnen höhergestellt, obwohl er Wäsche wusch und Gemüse schnitt. Die Diener, die verheiratet waren, aber nie Kinder gehabt hatten, nahmen ihn unter ihre Fittiche. Sie mochten den höflichen und ruhigen Samurai und fühlten Mitleid für ihn. In seinen violetten Augen hatten sie ein tiefes Leid bemerkt. Irgendetwas hatte das Herz des jungen Mannes tief verwundet.
„Während des Krieges muss ihm etwas passiert sein." meinte Katsuo nachdenklich eines nachts, lange nachdem Kenshin die Küche verlassen hatte.
„Der Krieg hat uns den jungen Herrn genommen. Dummer, nutzloser Krieg.", sagte Mitsuko mit einem Anflug von Ärger in der Stimme, dann wurde sie weich: „Aber andere haben auch geliebte Menschen verloren. Ich glaube, Himura-san ist einer dieser Unglücklichen. Ich habe ihn im Schlaf den Namen einer Frau rufen hören."
Obwohl die zwei oft darüber spekulierten, warum Kenshin so traurig schien und warum ein junger Mann, der offensichtlich ein Samurai gewesen war, sich entschieden hatte ein mittel- und herrenloser Ronin zu werden, drangen sie nie in seine Vergangenheit. Kenshin bemerkte ihre Neugier wohl, gab aber nicht mehr Informationen über sich preis außer seinem Namen und der Tatsache, das er für einige Zeit im Krieg gedient hatte. Er wagte es nicht, ihnen mehr zu erzählen; nicht weil er versuchte sich zu verstecken, sondern weil er fürchtete, sie weiter in Gefahr zu bringen. Deshalb hatte er Mazumoto und zahllosen anderen die selbe Warnung gegeben. Aber der Hitokiri in ihm hatte eine andere Vorstellung davon, wie man die, die seine Identität entdeckt hatten, zum Schweigen brachte. Wenn es nach ihm ginge, würde er all die töten, die das herausgefunden hatten, wie er es immer in Kioto getan hatte. Wenn jemand ihn sah oder versuchte zu fliehen, musste er sterben. Jahrelang hatte er so seine Identität als Hitokiri Battosai geschützt.
Jetzt fand er es schwierig, die Verhaltensweisen, nach denen er einst gelebt hatte, zu ändern. In Kioto hatte es geheißen: töten oder getötet werden, jeder, der deine Arbeit gesehen hat stirbt, egal wer es ist. Die einzige Ausnahme von dieser Regel war Tomoe gewesen. Sie hatte ihn den Attentäter töten sehen, den die Bakufu auf ihn angesetzt hatte, und er wusste dass sie ihn gesehen hatte. Es gab keine Möglichkeit, dass sie ihn nicht gesehen hatte, denn sie war über und über mit dem Blut dieses Attentäters bespritzt. Der Hitokiri in seinem Kopf hatte ihn angeschrieen, sie zu töten, denn sie hatte ihn gesehen und kannte somit seine Identität. Aber er brachte es nicht über sich, eine unbewaffnete Frau zu töten, egal was sie gesehen hatte. Sie war nicht irgendein bewaffneter Gegner wie der Attentäter und statt sie zu töten, wie der Hitokiri es befahl, war er einmal seinem Herzen gefolgt und hatte sie mit zurück in das Gasthaus genommen. Als er erfuhr, dass sie betrunken gewesen war, hatte er sich in seinen Taten bestätigt gefühlt und der Hitokiri blieb ruhig, auch wenn sie beide wussten dass es nur eine Entschuldigung war. Kenshin wusste, dass sie gesehen hatte was passiert war und Tomoe wusste, dass er wusste, dass sie sich an das Ereignis erinnerte, aber es zählte für keinen von ihnen. Alles was zählte war, dass sie einander gefunden hatten, zwei umschattete Herzen hatten denjenigen gefunden, der ihnen ihr verlorenes Glück zurückgeben konnte. Er hob die Hand zu seiner linken Wange und zog mit dem Finger die kreuzförmige Narbe nach.
„Tomoe...", flüsterte er, als seine Fingerspitze den Teil der Narbe berührte, den ihr Dolch verursacht hatte. „Ich werde dich nie vergessen... und dich immer lieben."
Sie war es gewesen, die jene Veränderung in seinem Herzen hervorgerufen hatte. Nur sie hatte das Licht zurück in seine dunkle Seele bringen können, und nur wegen ihr lebte er jetzt. Tomoe hatte ihr Leben gegen das seine eingetauscht, vor 4 langen Jahren. Und deswegen würde er weiter versuchen, ein Leben ohne Töten zu führen, auch wenn es ihn nicht länger kümmerte, ob er lebte oder starb. Er war sich nicht sicher, wann sein Leben angefangen hatte, ihm gleichgültig zu sein. Er wusste nur, dass ihm in den Schatten, in denen er während der Bakumatsu-Zeit gelebt hatte, jeglicher Lebenswille verlorengegangen war. Vielleicht lag es daran, dass er so viel Blut und Tod gesehen hatte. Irgendwo in dem blutroten Strom, der von seinem Schwert geflossen war, hatte jedes Leben aufgehört, ihm etwas zu bedeuten, sogar sein eigenes. Auch wenn er sich nicht völlig sicher war, wie oder wann es passiert war- auf jeden Fall war es passiert. Sogar jetzt, da der Krieg vorbei war, verspürte er keinerlei Drang weiterzuleben, aber er konnte sein Versprechen ihr gegenüber nicht erfüllen, wenn er jetzt starb. Sein Schwur zu Tomoe war alles, was ihm geblieben war, aber er hoffte, eines Tages seinen Lebenswillen wieder zu finden. Bis dahin würde sein Schwur diesen Platz einnehmen.
Ein Gedankemuster zu verändern, das so tief verwurzelt war, dass es normal schien, war schwierig. Aber er würde tun, was er ihr versprochen hatte. Nur so konnte er für seine Verbrechen und sein blutgetränktes Schwert büßen. Er würde Tomoes Geschenk des Lebens nicht beschmutzen, indem er seinen Schwur brach. Und genauso wenig würde er sein Schwert des Friedens wieder mit Blut beflecken. Sie hatte Leben für ihn bedeutet und ihn wieder in die Welt der Lebenden gezogen, auch wenn er ihr nur den Tod zurückgegeben hatte. Es war schwer, das Verlangen des Hitokiris zu kontrollieren, aber mit ihrer Erinnerung als seine Führerin würde er es schaffen. Später würde er den Hitokiri in seinem Herzen vielleicht selbst unter Kontrolle halten können, aber nie würde er sie vergessen.
„Arigato, Tomoe, koishii... für alles." Sein Herz krampfte sich vor Schmerz zusammen und er fühlte eine Träne seine Wange hinabrollen.
Er senkte den Kopf um seine Augen von Blicken abzuschirmen und wischte sie schnell weg. Er schloss seine Augen und atmete mehrmals tief ein. Dann hob er wieder den Kopf und fuhr fort, das Gemüse fürs Abendessen zu schneiden, ein trauriges Lächeln auf dem Gesicht und einem Ausdruck tiefen Leides in seinen Augen.
Mitsuko bemerkte das und nickte zu sich. Kenshin bemerkte ihre Bewegung, sah auf und lächelte sie an. Sie erwiderte das Lächeln und sah die Traurigkeit in seinen Augen.
„Ich weiß, du wirst mir jetzt nicht glauben, aber es wird besser werden und der Schmerz wird verblassen, wenn die Jahre vergehen. Die Zeit wird deine Wunden heilen.", flüstere sie.
Kenshin warf ihr einen durchdringenden Blick zu, und sie sah die ungeweinten Tränen in seinen schwach goldenen Augen. Ohne eine Miene zu verziehen, erwiderte Mitsuko seinen Blick, und Kenshins Lächeln begann zu zittern. Sein Blick verschwamm, und heiße Tränen tropften auf seine Hände. Er legte das Messer ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, um sie zu trocknen. Mitsuko ging um den Tisch herum und nahm den widerstandslosen Jugendlichen einfach in die Arme, und in diesem Moment konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Kenshin wusste nicht, wie lange er sich an ihrer Schulter ausweinte, aber danach fühlte er sich besser als seit langer Zeit. Plötzlich wurde ihm klar, dass er nie um Tomoe geweint hatte, nicht seit dem Tag an dem er Otsu verlassen hatte, um nach Kioto zu gehen, für Jahre des Blutvergießens. Er hatte keine Zeit gehabt, richtig um ihren Tod zu trauern. Die ganze Zeit hatte er das Leid in seinem Herzen gehalten, hatte es nie rausgelassen und vor anderen verborgen. Damals war keine Zeit für Trauer oder Leid gewesen, und während der Bakumatsu-Zeit konnte er sich solche Ablenkung nicht leisten.
Er sah zu Mitsuko auf und lächelte das erste wirklich Lächeln seit langer Zeit. Der Schmerz in seinem Herzen schien leichter geworden zu sein.
„Jetzt kann dein Herz die lange Reise der Heilung antreten.", sagte Mitsuko leise. „Und eines Tages wirst du merken, das du wieder leben und lieben kannst." Kenshin bezweifelte zwar, dass das jemals passieren würde, aber er nickte trotzdem.
„Für jetzt erinnere dich an deine erste Liebe. Wenn die Zeit reif ist, wirst du eine neue Liebe finden und kannst die erste gehen lassen." Sie blickte ihn an und zum ersten Mal sah er ein Leid, ähnlich seinem eigenen, in ihren Augen.
Sie hat auch ihre erste Liebe verloren, realisierte er erschrocken und er erwiderte die Umarmung.
„Arigato, Mitsuko-dono. Ich werde an deine Worte denken." Er ließ sie los, und mit einem Nicken beendete er seine Arbeit mit einem ruhigen, ernsten Ausdruck in den Augen.
Sie lächelte und kehrte zu ihrer eigenen Arbeit zurück, froh, dass sie ihm hatte helfen könne.
*
Nach diesem Ereignis begann Kenshins Leben, ein bisschen weniger dunkel zu scheinen als bisher. Er bereute seine Taten als Hitokiri immer noch sehr, er trauerte immer noch um die, die er getötet hatte und um Tomoe, er fühlte immer noch Angst und Zweifel über seine Zukunft, aber all diese Schwierigkeiten schienen nicht mehr so sehr auf seinem Herzen zu lasten. Er spürte den ersten Anflug von Hoffnung, dass sein Leben wieder neu beginnen würde, dass seine zerrissene Seele eines Tages wieder ganz sein könnte und er irgendwo eine zweite Chance erhalten mochte.
„Irgendwo werde ich einen Ort finden, an dem meine Vergangenheit nicht zählt und ich wieder ein Zuhause finden kann."
Der Schnee lag in tiefen Wehen um ihn herum, als er aus dem Fenster seines Zimmers sah. Es war weiß, rein und neu, und zum ersten Mal fühlte er nicht den Schmerz, den Schnee normalerweise mit sich brachte. In der Vergangenheit hatte Schnee für ihn immer Tod bedeutet, aber jetzt sah er sogar in seiner kalten Umarmung Leben.
Er schloss das Fenster, drehte sich um und verließ sein Zimmer. Er ging in die Küche, um sich zu erkundigen, was er alles vom Markt mitbringen sollte. Die Hirayoshis hatten ihn gebeten, ins Dorf zu gehen, als es zu schneien begann, und mittlerweile war er dort zweimal die Woche ein gewohnter Anblick geworden. Die Händler machten ihm Sonderangebote auf alles, was er kaufte. Das machte die Sache für die Hirayoshis leichter und erlaubte ihm, Süßigkeiten oder Spielzeug für die Kinder mitzubringen, die sich sehr darüber freuten.
Von Anfang an waren die Dörfler freundlich und offen ihm gegenüber gewesen. Und nach dem anfänglichen Schreck über sein rotes Haar oder, noch öfter, über seine ungewöhnliche Narbe, hatte sie ihn als einen der Ihren angenommen. Sie hatten ihn so bereitwillig aufgenommen, weil er stets höflich und hilfsbereit war, und die Kinder liebten ihn. Er hatte schon drei verlorenen Kindern geholfen, ihre Mütter wiederzufinden. Kenshin war ebenso bescheiden, verlangte keine Belohnung für seine Hilfe, versicherte jedem, dass er es tat weil es seine Aufgabe war anderen zu helfen.
Ihre Freundlichkeit hatte ihn überrascht und den Hitokiri entnervt, der glaubte, dass es sich um irgendeine Falle handeln müsste. Als die Zeit verging, wurde Kenshin gelassener und die Warnungen des Hitokiri wurden ein schwaches Murmeln in seinem Hinterkopf. Kenshin genoss das veränderte Verhalten ihm gegenüber. Nie zuvor hatte ihn jemand dafür akzeptiert, was er hinter der Maske des Hitokiris und Battosais Namen war. Hier kannte ihn niemand als diese Person, und deshalb konnte er sich hier freier bewegen als sonst wo.
Kenshins Ankunft im Dorf an diesem Morgen verursachte keine Aufregung, zumindest nicht mehr als die Ankunft von sonst jemandem. Mehrere Händler hatten früh geöffnet und riefen ihm Begrüßungen zu, als er an ihren Ständen vorbeiging. Er wimmelte sie höflich ab und steuerte auf den Laden von Toshihiro zu, wo er sich aufwärmen konnte bevor er seine Einkäufe erledigte.
Wie immer hatte Toshihiro ein warmes Feuer und eine heiße Tasse Tee für Kenshin, als dieser die Apotheke betrat. Der Laden gehörte eigentlich Toshihiros Vater, dem einzigen Arzt des Dorfes. Hier roch es immer nach einer Mischung aus Kräutern, warmem Tee und Holz vom Kamin.
„Pünktlich wie immer, Himura-san."
Kenshin lächelte seinem etwa gleichaltrigen Freund zu und setzte sich neben ihn. Er legte seine Hände um die Tasse, die Toshihiro ihm reichte, um sie zu wärmen, und nahm einen kleinen Schluck.
„Was für ein Auftrag bringt dich denn an so einem kalten Morgen hierher?"
„Tee, Tofu und Fisch. Und ein Gespräch mit einem guten Freund." Kenshins Augen waren bei dem Wort „Auftrag" schmal geworden, aber Toshihiro schien es nicht zu bemerken.
„Nun, mit den ersteren kann ich dir nicht dienen, aber mit dem letzten auf jeden Fall.", sagte er gutgelaunt. „Ich kann sicher reden, wenn ich will."
Kenshin lachte, denn er wusste, dass dies nichts weniger als die Wahrheit war. Das erste Mal, als er Toshihiro getroffen hatte, hatte der Mann ihn fast in Grund und Boden geredet, aber gerade deshalb hatte er sich mit ihm angefreundet und besuchte ihn oft. Er wusste alles, was im Dorf und einigen benachbarten Orten vor sich ging. Kenshin brauchte diese Information um zu erfahren ob ihm jemand gefolgt war, so dass er sich und andere schützen konnte. Das war ein Überbleibsel aus seinen Leibwächter-Tagen, als sein Leben und die Leben derer, die er beschützte, allein von den Informationen abhingen, die er von vertrauten Leuten erhielt. Wie auch immer, heute war er nicht deshalb gekommen.
„Hast du schon die Neuigkeit gehört? Kira hat vor drei Tagen ihr Baby bekommen. Ein guter starker Junge für den Isahiro-Klan. Kira ist die Tochter einer der Bauernfamilien, die viele Söhne im Krieg verloren hat."
Kenshin senkte den Kopf, so dass seine Augen durch die roten Strähnen abgeschirmt waren.
„Das sind gute Neuigkeiten.", sagte er leise und hoffte, dass noch mehr gesunde und starke Kinder geboren werden würden, um die zu ersetzen, die in Krieg und Hungersnot gestorben waren.
Toshihiro bemerkte Himuras nachdenkliche Stimmung und beobachtete seinen Freund besorgt. Himura war immer ruhig, hörte lieber zu, statt zu sprechen und normalerweise übernahm Toshihiro das Reden, aber heute schien Himura noch stiller als gewöhnlich. Toshihiro fragte sich, was seinen Freund bedrückte und hoffte, dass er die Gerüchte noch nicht gehört hatte. Das Dorf war sehr abgelegen, aber Nachrichten von außen drangen auch bis hierher. Es gab einige Händler, die Neuigkeiten mitbrachten, und einzelne Leute, wie sein Vater, die oft in die näher an den großen Städten gelegenen Dörfer reisten. Es gingen Gerüchte um von einem Hitokiri, der der neuen Regierung entkommen war und von dieser gesucht wurde.
Toshihiro glaubte nicht an Gerüchte und Hörensagen, denn erst letzten Monat hatte jemand ein Gerücht in die Welt gesetzt, dass Ausländer Hörner und Schwänze hätten wie irgendwelche Dämonen. Als er schließlich einen von ihnen getroffen hatte, war das gar nicht der Fall gewesen. Dennoch, er war neugierig über den jungen Mann, der aus heiterem Himmel und gerade vor Einbruch des Winters in ihr Dorf gewandert war. Er war doppelt neugierig, weil Himura den Gerüchten zufolge so aussah wie der Hitokiri Battosai, mit dem roten Haar und der Narbe. Hitokiri Battosai hatte, besagten die Gerüchte weiter, Hunderte von Männern ohne Reue ermordet, und die Meiji-Regierung suchte ihn seit seinem Verschwinden von Toba und Fushimi.
„Wenn Himura-san wirklich der legendäre Attentäter ist, ist dann nicht das ganze Dorf in Gefahr?", dachte Toshihiro und musterte seinen Freund. Er wunderte sich immer noch und hoffte in seinem Herzen, dass es nicht wahr war.
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Glossary:
Ronin- Samurai ohne Lehnsherr
Koishii- jap. Anrede, etwa „Geliebte" oder „Liebste"
