Kapitel 6: Jagende Schatten

„Deine blutbefleckten Hände können das Schwert nicht loslassen, oder? Sei ehrlich zu dir selbst, Battosai..."

Jinne Udo, RK Episode 21, untertitelt

Schweiß tropfte von seinen Augenbraue, und er keuchte von der Anstrengung, die das Stehen erforderte, aber zumindest war Kenshin wieder auf den Beinen. Er lächelte und war für den Moment schon zufrieden, langsam den Raum zu durchqueren und die Außentür zu erreichen. Er schob sie auf und bemerkte, dass seine begrenzte Stärke dafür gerade ausreichte.

Er sah in den Innenhof des Hauses hinaus, der in eine Decke aus schmelzendem Schnee gehüllt war. Die Sonne schien hell, und der Himmel über ihm war tiefblau. Kenshin stand im Türrahmen, gebannt vom Himmel und den hohen Wolken, die darüber hinweg zogen. Eine leichte Briese wehte durch den Garten, bewegte das Windspiel, das von einem Balken hing, und ließ immer wieder drei Noten erklingen. Der Wind glitt wie Finger durch sein Haar und zupfte verspielt an seiner Kleidung. Er lächelte, schloss seine Augen, ließ den Wind über sich streichen und roch die frische und milde Luft.

„Es tut gut zu sehen, dass du wieder auf den Beinen bist.", sagte Toshihiro von der gegenüberliegenden Tür aus. Er hielt ein Tablett in den Händen und lächelte seinen Freund an.

Kenshin drehte sich um und erwiderte das Lächeln. Wie er dort im Türrahmen stand, hätte Kenshin fast gesund ausgesehen, wäre seine ohnehin schon helle Haut nicht noch blasser gewesen, und wäre er nicht so dünn geworden, das die Knochen aus seinem Gesicht hervortraten.

„Das ist kaum verwunderlich, bei seiner Krankheit," dachte Toshihiro.

Das Fieber hatte Himura fast das Leben gekostet und sein Körper war dadurch sehr geschwächt worden. Wenn er nicht extrem vorsichtig war, würde er seine alte Stärke vielleicht nie wiedererlangen.

Toshihiro trug das Tablett mit Essen zu seinem Freund herüber, setzte sich auf den Boden und bedeutete Himura, es ihm gleichzutun.

„Vater will nachher mit dir sprechen, aber er sagt, du sollst erst essen."

Kenshin nickte, ließ sich neben Toshihiro nieder und lehnte den Rücken gegen den Türrahmen. Die Anstrengung kostete ihn das Bisschen Energie, das er hatte, und Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er wischte ihn weg und schüttelte die Haare aus der Stirn, bevor er eine Schüssel mit Reis aufnahm und langsam zu essen begann. Er war nicht wirklich hungrig, aber er wusste, dass er essen musste wenn er seine Kräfte wiedererlangen wollte. Er verharrte und betrachtete wieder den kargen Garten, dann wandte er sich an Toshihiro, einen ernsten Ausdruck auf dem Gesicht. Er fragte sich, über was Asukara mit ihm sprechen wollte, ahnte die Antwort jedoch schon.

„Dein Vater will mit mir über meine Krankheit sprechen."

Toshihiros Augen weiteten sich bei Himura's Feststellung, denn sie bedeutete, dass Himura wusste, was sein Vater mit ihm bereden wollte.

„Es gibt da auch etwas, über das ich mit ihm sprechen will." Kenshin's Augen hatten eine schwach goldene Farbe angenommen, als er weiter seinen Reis aß.

Toshihiro nickte und bemerkte die Veränderung, die seinen Freund überkommen hatte. Für einen Moment sah Toshihiro, warum dieser Mann vom Shogunat so gefürchtet worden war. Da war eine Aura von Gefahr und Tod um Himura, die jene fühlen konnte, die in seine Nähe kamen. Er spürte es nur für einen Augenblick, bevor sich Himuras Verhalten wieder änderte und der Mann zurück war, den er kannte.

Kenshin sah zurück über den Garten. „Es tut gut, wieder die Sonne zu spüren.", sagte er leise, das Essen vor ihm vergessen.

Toshihiro lächelte. „Das ist der erste wirklich schöne Tag, den wir haben."

Kenshin saß nur da, die Augen geschlossen, und spürte die Sonnenwärme auf seinem Gesicht und seinem Körper. Er atmete gleichmäßig und benutzte den Rhythmus seines Atems, um sich zu beruhigen. Er lauschte den Geräuschen um ihn und konnte die Leute auf der Straße reden hören, die Schreie der Kinder und die Rufe der Händler, die ihre Waren anpriesen. Er lächelte bei den normalen Klängen des Dorfes, aber unter all dem schien ein Anflug von Spannung in der Luft zu liegen. Kenshin runzelte die Stirn. Klangen die redenden Leute ein wenig ängstlich? War die Heiterkeit in den Stimmen der Händler erzwungen? Er lauschte weiter und hörte schließlich etwas, dass er gehofft hatte nie wieder zu hören: das Geräusch von Stiefeln und, in der Entfernung, das schwache Schrillen einer Polizeipfeife.

Er öffnete rasch die Augen und spürte, wie sich der Hitokiri in ihm zu erheben begann. Er schob ihn zurück und wandte sich an Toshihiro.

„Was ist passiert? Die Leute da draußen fühlen sich ängstlich an", fragte er leise, erwähnte aber nicht die Gegenwart der Polizei und der Armee, die vorher nicht da gewesen war.

Toshihiros Gesicht verdunkelte sich und er sah für einen Moment weg. „Vergangenen Monat sind fünf Leute in ihren Häusern brutal ermordet worden."

Kenshins Augen weiteten sich bei diesen Worten, und er nickte, damit Toshihiro fortfuhr.

„Sie wurden alle mit einem Schwertstreich getötet, und der Mörder hat jedes Mal eine Nachricht hinterlassen, ‚Himmlische Gerechtigkeit'." Er unterdrückte ein Schaudern.

Kenshins Augen wurden schmal, als die Worte ‚Himmlische Gerechtigkeit' ihn wie ein Schlag trafen, und er verfiel in Gedanken.

Hier ist noch ein Hitokiri. Ich habe wochenlang versucht dich zu warnen, aber du wolltest ja nicht hören. Er hat die Polizei und die Armee hergebracht.

„Sieht so als, als wäre dieses Dorf nicht so unscheinbar, wie es auf den ersten Blick scheint."

Jetzt sind wir in Gefahr. Wir müssen uns schützen. Sollen wir gehen?

Kenshin war überrascht von Battosai's Frage. Normalerweise ging Battosai eher nach der ‚Erst handeln, dann denken' - Methode vor.

„Nein, noch nicht. Niemand weiß, das wir hier sind."

Aber wenn wir das Dorf nicht verlassen, gehen wir das Risiko ein, das man uns findet, und wir wollen nicht gefunden werden. Noch nicht.

„Ich sage dir, sie sind keine Bedrohung für uns. Was mir mehr Sorgen macht, ist die Gegenwart dieses Hitokiri, der nicht aufhören kann zu morden, und dass er unschuldige Menschen tötet. Er ist eine wirklich Bedrohung und ich werde nicht zulassen, das er so weitermacht." Der Hitokiri murmelte, stimmte aber Kenshins Einschätzung der Situation zu.

Kenshin sah Toshihiros besorgtes Gesicht und erhob sich vorsichtig. „Bring mich jetzt zu deinem Vater."

*

Kenshin saß Asukara gegenüber und versuchte die Nachricht zu verarbeiten, die er soeben von dem Doktor erhalten hatte. Schließlich, nach einigen Moment tief in Gedanken, sah er auf und begegnete Asukaras Blick.

„Ihr sagt also, das ich mich vielleicht nie völlig von meiner Krankheit erholen werde?"

Asukara sah den jungen Schwertkämpfer traurig an, bevor er vorsichtig antwortete. „Das Fieber hat deinem Körper ernsthaft zugesetzt. Das, zusammen mit deinen früheren Verletzungen, wird dich irgendwann weiter schwächen, wenn du jetzt nicht die Ruhe bekommst die du benötigst."

Kenshin nickte langsam und stricht das Haar zurück, dass ihm ins Gesicht gefallen war. „Ich verstehe, Asukara-dono, und ich werde versuchen auszuruhen. Aber da ist etwas, was ich euch sagen muss. Dann sollt ihr entscheiden, ob ich hier bleiben kann bis ich stark genug bin wieder zu reisen. In Kioto... in der Vergangenheit, war ich bekannt als..."

„...Hitokiri Battosai.", vollendete Toshihiro den Satz für ihn. „Das wissen wir bereits."

Kenshins Augen weiteten sich überrascht. „Woher...?" sagte er, völlig fassungslos.

„Du hast im Schlaf gesprochen, als du krank warst, und du siehst auch so aus, wie die Gerüchte sagen."

Kenshin senkte den Kopf, sein Verstand arbeitete fieberhaft und für einen Moment geriet er in Panik.

Sie wissen es! Sie müssen jetzt zum Schweigen gebracht werden! Tu es, bevor sie uns verraten! tobte der Hitokiri in ihm.

„Wenn ihr wisst, wer ich bin, dann wisst ihr auch das ihr euch in Gefahr bringen könntet, wenn ihr mich in eurem Haus beherbergt." Sein Haar verdeckte die Sicht auf seine zusammengekniffenen Augen, und seine Hand ballte sich zur Faust, als er auf diese allzu bekannten Worte wartete, während die Forderung des Hitokiri stärker wurde, jene, die seine Identität kannte, zum Schweigen zu bringen.

Die erwarteten Worte kamen nie und Kenshin hob verblüfft den Kopf, als Asukara wieder sprach. „Wir akzeptieren die Risiken, wie wir es von Anfang an getan haben. Alle Leute verdienen Respekt, und als Arzt kann ich nicht zulassen, dass jemand leidet, egal wer es ist."

Kenshins Augen weiteten sich und er verneigte sich so tief, wie es von seiner sitzenden Position aus möglich war, ehrlich erleichtert.

„Arigato, Asukara-san. Ich danke euch für euren Respekt und euren Schutz, auch wenn ich nichts von beidem verdiene. Ich denke, ich werde jetzt gehen und mich ausruhen."

Kenshin erhob sich, verbeugte sich erneut und verließ den Raum schweigend, tief in Gedanken. Fürs erste war die Stimme des Hitokiri verstummt, offensichtlich ebenso von den freundlichen und unerwarteten Worten des Doktors aus der Fassung gebracht.

„So ein bescheidener junger Mann." sagte Asukara leise. „Er trägt so viel auf seinen Schultern und bleibt dennoch bescheiden."

Toshihiro sah seinen Vater überrascht an, und Asukara sah ihn an, mit Weisheit in den Augen.

„Wenn du mal so alt bist wie ich, dann wirst du verstehen, was ich meine. Ich habe in meinem Leben viele von seinem Schlag gesehen, solche, die das Ergebnis von Krieg oder Hungersnot waren und die zugelassen haben, dass ihren sanfteren Naturen von den niederen Instinkten, um jeden Preis zu überleben, überwältigt wurden. Himura ist so ein Mann, und dennoch ist er sowohl bescheiden als auch sanft geblieben. Wenn sein Wille stark genug ist, wird er seine sanftere Natur wiederbeleben können, ohne den Waffenstillstand zwischen den zwei Seiten seiner Seele beibehalten zu müssen. Er wird wieder ein Mann werden."

Toshihiro nickte in Zustimmung, und nahm die Wahrheit dieser Worte an, auch wenn er sie nicht verstand. Er erhob sich von seinem Platz und verneigte sich. „Ich muss mich jetzt um den Laden kümmern, Vater."

Asukara entließ seinen Sohn mit einer Handbewegung, und Toshihiro verließ ihn, immer noch tief in Gedanken.

*

Die nächsten Tage waren erholsam für Kenshin, und langsam spürte er wie seine Stärke zurückkehrte. Aber nach einer Woche begann er ruhelos zu werden. Sein Körper sehnte sich nach mehr Aufregung als Spaziergänge durch den Garten. Schließlich bat er Toshihiro, den Hirayoshi-Hof zu besuchen und ihm sein Sakkabato zu holen, da er selbst noch nicht dazu in der Lage war. Sobald dieser damit zurückgekehrt war, begab sich Kenshin in den Garten um zu trainieren, ungeachtet der Tatsache dass die Sonne fast schon unterging.

Er schob die Saya durch den Gürtel und fühlte sich sofort sicherer. Er ging in die Battojutsu-Stellung und führte langsam jede der Hiten Mitsurugi Battojutsu-Techniken durch, da die meisten anderen seine gegenwärtigen Fähigkeiten übersteigen würden. Toshihiro beobachtete ihn und erkannte bald, warum Kenshin einer der gefürchtetsten Attentäter der Bakumatsu geworden war und warum sein Name bereits jetzt eine Legende war. Er war schnell, und seine Schläge waren präzise und gezielt.

„Kein Wunder, dass man ihn den Stärksten nannte", dachte Toshihiro als er ihm zusah.

Kenshin ignorierte seine Gegenwart und fuhr mit seinen Übungen fort, bis er zu erschöpft war um weiterzumachen. Dann schob er sein Schwert in die Scheide und setzte sich neben Toshihiro in den Schatten der Veranda. Das Schwert ruhte an seiner Schulter und seine Augen waren geschlossen. Toshihiro sagte nichts, sondern wartete darauf, dass sein Freund sprach. Das lange Schweigen wurde durch Kenshins leise Stimme gebrochen.

„Das Schwert ist eine Waffe. Die Schwertkunst ist die Kunst des Tötens. Diese Techniken sind die eines Mörders, und das ist es was ich war und womit ich für immer kämpfen werde."

Er erhob sich, ging ins Haus zurück und ließ Toshihiro allein mit seinen Gedanken.

*

Der Himmel über ihm hatte einen gespenstisch rote Farbe angenommen; rot wie das Blut das er vergossen hatte. Um ihn herum wurden die Schreie der Verwundeten und Sterbenden übertönt von dem Klang der Kanonen und dem Knacken der Flammen; das war alles, was von den Dörfern Toba und Fushimi übrig geblieben war.

„Es ist vorbei. Es ist vorbei," dachte er, das Herz pochte dumpf in seiner Brust. „Endlich vorbei."

Durch den Dunst des Rauchs der Kanonen überblickte er das Feld, das von der untergehenden Sonne blutrot gefärbt wurde. Das Kanonenfeuer von beiden Seiten hatte den Boden zerrissen, der getränkt war mit dem Blut von vielen hundert Männern, die bereit gewesen waren für ihre Überzeugung zu sterben. Die Leiber von Feinden und Kameraden gleichermaßen lagen da in grotesken Positionen. Aber jetzt waren sie nicht mehr Feinde oder Kameraden, nur Opfer des sinnlosen Blutvergießens. Die Schreie der Verletzten und Sterbenden waren weiter zu hören und Kenshin schloss die Augen um die Anblicke und Klänge zu verdrängen, auch wenn er wusste, dass er sie nie würde vergessen können.

„Nie wieder. Es ist endlich vorbei und ich werde nie wieder hierher zurückkehren oder das Schwert des Attentäters aufnehmen."

Er schüttelte den Kopf und rammte sein Schwert in den Boden, aber als er versuchte den Griff loszulassen, schien seine Hand daran festzukleben. Er öffnete die Augen und sah sich erschrocken um. Alle seine Opfer waren um ihn herum versammelt und zogen an seiner Kleidung, ihre Wunden bluteten noch immer und hinterließen tiefe rote Pfützen am Boden. Sie bildeten eine Wand um ihn herum, so dass er sich nicht bewegen oder ihnen entkommen konnte. Dann begannen sie zu singen, ihre Stimmen kalt und voll bitterer Wut.

„Du kannst das Schwert des Attentäters niemals loslassen. Deine Taten können nie vergeben und vergessen werden, denn sie haben sich in dein Fleisch eingebrannt. Wir fordern Gerechtigkeit. Wir wollen Vergeltung. Die Himmlische Gerechtigkeit wird bald über dich hereinbrechen, Mörder!"

Sie zogen ihn herunter und er konnte fühlen, wie der Gestank von Blut und verrottendem Fleisch ihn zu ersticken drohte, überwältigend in seiner Intensität, bis alles verschwand und nur der metallische Gestank blieb. Er spürte, wie er die Kontrolle verlor, der Drang zu töten wurde immer stärker. Mit einem Kampfschrei schlug er nach seinen Angreifern.

*

Er saß kerzengerade auf dem Futon, sein Atem hastig und der Geruch von Blut noch immer in seiner Nase. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und wartete, aber der Blutgeruch wurde stärker anstatt zu verschwinden. Er öffnete seine Augen und sah entsetzt, dass er sich den Geruch nicht einbildete. Der Fußboden und der Futon waren blutgetränkt, und seine Hände waren damit bedeckt. Seine rechte Hand umklammerte sein Sakkabato. Kenshin's Körper begann zu zittern, als er sich in dem verwüsteten Raum umsah. Überall war Blut und bald fand er dessen Quelle.

Dr. Asukara lag in einer sich langsam ausbreitenden Pfütze aus Blut, sein Körper war von der rechten Schulter bis zum linken Oberschenkel aufgeschlitzt. Kenshins Augen weiteten sich und er merkte, wie er das Bewusstsein zu verlieren begann. Dann fielen seine Augen auf eine Notiz, die mit ungeübter Hand in das Blut des toten Mannes gekritzelt worden war.

„Himmlische Gerechtigkeit. Dies ist unsere Himmlische Gerechtigkeit für deine Verbrechen, Hitokiri Battosai!"

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Glossary:

Himmlische Gerechtigkeit: auf japanisch „Tenchuu". Habe irgendwo mal eine sehr passende Definition gefunden: „Auch wenn das Gesetz euch verschont, der Himmel  wird euch trotzdem bestrafen." Battosai galt als Überbringer dieser Himmlischen  Gerechtigkeit.