Stolz & Vorurteil, Kapitel 9: Ein wenig Stolz, aber ohne Vorurteil

Sie waren die Nacht hindurch geritten, um die fünf verletzten Soldaten schnellst möglich nach Minas Tirith zu bringen. Jegliche Verzögerung hätte die ohnehin angeschlagene Gesundheit der Männer nur noch verschlimmert. Man hatte sie abgemagert vorgefunden. So sehr, dass sie bis auf wenige Sätze nicht viel von den Monaten ihrer Gefangenschaft hatten erzählen können. Faramir und Boromir hatten von Everard nur noch in Erfahrung gebracht, dass die Orks im Begriff waren, die Geschwächten durch Prügel voran zu treiben. Warum sie überhaupt gefangen genommen und nicht wie sonst üblich bei Orks sofort getötet worden waren, würde zunächst ein Rätsel bleiben.

Vor den Toren der Weißen Stadt vernahmen sie schon die Klänge der Hörner, die sie freudig begrüßten. Als sie die Mitte der Stadt erreicht hatten, verstummte das Volk. Wer waren die Fremden, die verletzt auf den Pferden der Soldaten lagen? Sie sollten es noch nicht erfahren, denn man brachte sie sofort in die Häuser der Heilung. Während die Verletzten vorsichtig in fünf Betten gelegt wurden, erhaschte Boromir einen Blick auf Gwyneth. Sie begrüßte ihn mit einem erleichterten Lächeln, bevor sie sich wieder Everard zuwandte.

Die Versorgung der fünf Fremden beschränkte sich darauf, sie zu baden, einige Wunden zu versorgen und ihnen dann langsam Nahrung zuzuführen. In den nächsten Tagen würden immer mindestens zwei Heilerinnen über sie wachen, für den Fall, dass sich doch schlimmeres einstellen würde. Am Abend der Ankunft klopfte Boromir vorsichtig am Zimmer von Frau Ioreth, die ahnte, wen der Herr eigentlich sprechen wollte und sogleich Gwyneth von den Kranken weg holte, bevor sie selbst dort deren Dienst übernahm.

"Guten Abend," flüsterte Boromir fast. "Ich wollte Euch für das Wässerchen danken, Gwyneth."
Die zog ihre Augenbrauen staunend nach oben. "Ihr habt es also tatsächlich eingenommen? Nun, soviel Mut hätte ich Euch fast nicht zugetraut."

Boromir tat empört. "Nicht? Es trifft mich schwer, dass ihr so wenig Vertrauen in mich habt." Er ging einen Schritt auf sie zu und sprach dann weiter. "Ich bin Euch jedoch zu Dank verpflichtet. Mich traf erneut ein Pfeil in eben jene Stelle, in der schon der letzte ein Unheil verursacht hatte. Diesmal aber blieb ich verschont von jenem Gift, dass mich zuvor so schwächte. Seht," er hob sein Hemd an," seht, es blieb diesmal nur ein kleiner Kratzer zurück."

"Darf ich?", fragte Gwyneth, als sie noch näher zu ihm ging. Er nickte zustimmend und sie streckte vorsichtig ihre Hand nach der

Wunde aus, um sie mit den Fingerspitzen abzutasten. Boromir zuckte ob der Berührung leicht zusammen und Gwyn zog ihre Hand zurück.

"Es schmerzt nicht," sagte er hastig, "es ist nur..."

Doch in diesem Moment klopfte es an der Tür zum Zimmer, was Boromir und Gwyneth dazu brachte, sich prompt einige Schritte voneinander zu entfernen. Schon stand Faramir in der Tür, den Gwyneth herzlich mit einer Umarmung begrüßte. Er drückte sie fest an sich und ließ sie erst einige Zeit später wieder los, ja, küsste sie sogar noch auf die Stirn. Boromir wandte seinen Blick ab und zog es statt dessen vor, grimmig aus dem Fenster zu starren.

"Gwyn, ich war auf der Suche nach dir und Ioreth meinte, du wärst hier. Ich wusste ja nicht, dass wir mehr als fünf Verletzte mitgebracht haben." Faramir grinste nur und wartete darauf, was sein Bruder oder Gwyneth erwidern würden.

"Dein Bruder ist nicht verletzt, nur muss ich seine Wunde regelmäßig untersuchen, um sicher zu stellen, dass sie sich nicht entzündet."

Boromir starrte weiterhin aus dem Fenster und hoffte so, seinem Bruder begreifbar zu machen, dass er möglichst bald wieder gehen sollte. Das tat er dann auch, nicht aber, ohne sich noch an seinen Bruder zu wenden.

"Boromir, Vater erwartet uns. Wenn die Untersuchung für heute beendet ist, wäre es gut, du würdest sofort mitkommen."

"Ja, ich komme." Und so verließ er den Raum, drehte sich erneut um und sagte: "Danke und einen schönen Abend, Gwyneth."

"Gute Nacht," wünschte sie den beiden Brüdern und schloss die Tür hinter ihnen.

"Dass du die Aufmerksamkeit des jüngeren Bruders hattest, war bereits allgemein bekannt. Dass dir aber der ältere mindestens ebenso verfallen ist, scheint mir neu," bemerkte eine der Frauen flüsternd und mit einem Schmunzeln auf ihrem Gesicht, als Gwyneth das Zimmer der fünf Kranken betrat. Die junge Frau errötete prompt und beschäftigte sich damit die benutzten Handtücher einzusammeln, um so ihr Gesicht vor den anderen zu verbergen.

"Faramir und ich sind wie Bruder und Schwester."

"Und Boromir? "

"Man sagt, er habe Frau Mellyanna allein wegen dir nicht zur Frau genommen," mischte sich eine andere ein.

"Hach, wie romantisch," seufzte die nächste. "Aus Liebe zu einer Frau widersetzt sich Boromir den Wünschen seines Vaters. So etwas gibt es nicht mehr oft heutzutage."

"Ihr habt wohl alle zu lange an den Heilkräutern gerochen," begann nun Gwyn sich zu wehren. "Ihr bildet Euch all das doch nur ein."

"Gwyn, wir haben Augen im Kopf..."

"Genug," versuchte nun Ioreth alle zum Schweigen zu bringen. "Wir müssen den Kranken unsere ungeteilte Aufmerksamkeit widmen und nicht irgendwelchen Dingen, die allein auf Gerüchten basieren. Die Bewohner von Minas Tirith erzählen viel, wenn der Tag lang ist."
Ioreths ermahnende Worte brachten die anderen endlich zum Schweigen.

Währenddessen saßen Boromir und Faramir an der langen Tafel im Saal des weißen Turmes und warteten darauf, was ihnen ihr Vater zu sagen hatte. Die Bediensteten schenkten Wein in die drei Gläser ein, die auf einem Tablett auf einem kleinen Tischchen standen. Als Denethor, der Truchsess von Gondor, den Saal betrat, erhoben sie sich von ihren Plätzen und grüßten ihren Vater mit einer Verbeugung.

"Berichte mir von Eurer letzten Mission, Boromir. Wie ich höre, ward ihr erfolgreich."

"Ja, Vater," begann Boromir zu erzählen, "doch war es Faramir, der die ganze Zeit über die Verantwortung trug. Ihn musst du zu Einzelheiten befragen."

"Also, Faramir, erzähle DU mir, wie Eure letzte Mission verlaufen ist."

"Nun Vater..."

Und so gab Faramir einen Bericht, während Boromir seinen mittlerweile bevorzugten Platz an einem der Fenster einnahm und in die Dunkelheit starrte. Sein Glas schwenkte er in leichten Kreisen und nahm hin und wieder einen Schluck von dem süßlichen Wein, der ihn in den Kopf zu steigen drohte, wenn er nur mehr davon tränke. Vielleicht wäre das gut. Vielleicht könnte er dann die unschönen Gedanken verdrängen, die sich in seinem Geiste langsam ausbreiteten. Unruhig tippte er mit seinem linken Zeigefinger an die Wand, an der er sich abstützte. Langsam senkte er seinen Kopf, schloss die Augen und atmete tief ein. Was, wenn Gwyneth und Faramir doch mehr für einander empfänden? Würde er sich zurückziehen? Oder...

"Boromir? Ist dir nicht gut?", fragte Faramir besorgt, als Denethor für ein paar Minuten den Saal verlassen hatte. Er trat neben seinen Bruder und wartete auf eine Antwort. Statt dessen zog Boromir es weiterhin vor zu schweigen.

"Warum sagst du ihr nicht, dass du sie liebst?", versuchte Faramir erneut seinen Bruder zum Reden zu bewegen.

"Das," er holte wieder tief Luft, "das habe ich... Oder fast. Ich habe sie geküsst."

"Vorhin?"

"Nein, an dem Tag, als sie das Bogenschießen gewann."

"Und was sagte sie?"

"Sie erwiderte den Kuss," sagte er ruhig und fügte etwas verzweifelter hinzu "Aber dann lief sie weg. Sie meinte, dass es nicht sein dürfe."

"Dann..." doch Faramir sprach nicht weiter, denn in diesem Augenblick kam ihr Vater zurück in den Saal. Zufrieden rieb er seine Handflächen aneinander.

"Die Verletzten sind also Leute von Aranel. Ich werde noch heute eine Nachricht an ihn senden. Das könnte unsere letzte Chance sein. Vielleicht kommt es so doch noch zu der Hochzeit zwischen dir und Mellyanna, Boromir. Es wäre ein wichtiger Schritt für die Zukunft."

"Vater," fasste Boromir nun endlich Mut Denethor die Wahrheit zu sagen, "eine Hochzeit zwischen Mellyanna und mir wird es nicht geben. Niemals."

Denethors Augenbrauen umzogen sich düster zusammen.

"Dann stimmt es also, was mir zu Ohren gekommen ist? Diese... diese Magd hat dir den Kopf verdreht?" Der Truchsess war ruhig, doch schwang Wut in seiner Stimme mit.

"Sie ist keine Magd - doch das steht nun auch nicht zur Diskussion. Vor allem möchte ich nicht heiraten, wenn ich meine Braut nicht liebe," antwortete Boromir, während er seinen Vater ansah. "Auch du hast Mutter geliebt."
Das traf Denethor tief, denn den Verlust seiner geliebten Frau hatte er nie überwunden. Als er den Saal verließ, drehte er sich ein letztes Mal um.

"Aber du siehst, wohin mich die Liebe gebracht hat, mein Sohn."

Noch am selben Abend ritt einer der Boten mit einer Nachricht für Aranel los, die besagte, dass Everard und vier weitere seiner Soldaten in den Häusern der Heilung in Minas Tirith weilten. Und so klopfte am nächsten Abend eine zarte Hand stürmisch an die schwere Holztür von Ioreths Zimmer.

"Herein," rief die alte Heilerin. Die Tür öffnete sich und herein kam Mellyanna, dicht gefolgt von Herrn Boromir.

"Frau Ioreth," sagte die Lady und verbeugte sich. "Wie ich höre, haben sie fünf Soldaten hier. Ich würde sie gerne sehen, wenn es möglich wäre."

"Aber natürlich," antwortete die Alte mit einem Lächeln, bevor sie nach Gwyneth rief. Die kam aus einem kleineren
Hinterzimmer und trocknete sich noch die Hände ab. Freudig begrüßte sie die Besucher.

"Würdest du bitte die Herrschaften zu den Soldaten führen?"

"Ja. Folgt mir."

Als sich die Tür zum Zimmer der fünf Herren endlich öffnete, betrat Mellyanna den Raum mit klopfendem Herzen und sah sich um. Vier schliefen tief und fest, aber einer saß aufrecht in seinem Bett und glaubte zu träumen, als die Lady den Raum betrat. Ihr liefen bereits Tränen die Wangen herunter, als sie an Everards Bett trat. Was dann geschah, sahen Gwyneth und Boromir nicht mehr, denn sie hatten bereits die Tür geschlossen.

"Ich glaube, Ihr habt Mellyanna zur glücklichsten Frau von ganz Gondor gemacht," bemerkte Gwyn mit einem Lächeln.

Boromir gab das Lob gern zurück. "Ihr selbst seid für die Genesung der Herren verantwortlich."

"Wie geht es Euch? Schmerzt die Wunde?"

"Ich verspüre keine Schmerzen. Doch solltet Ihr vielleicht trotzdem danach sehen. Nur wenn Ihr Zeit habt, natürlich," fügte er schnell hinzu und fuhr sich nervös durch seine blonden Haare.

"Für einen so wichtigen Patienten wie Euch habe ich immer etwas Zeit."

Damit drehte sie sich um und lief den Gang entlang, zu einem Zimmer, das Boromir sehr gut bekannt war.

"Das war mein Zimmer," bemerkte er, als sie eingetreten waren.

"Ja. Setzt Euch bitte auf das Bett. Aber streift zunächst das Hemd ab, sonst könnte es schwierig werden, die Wunde zu untersuchen."

Boromir tat wie ihm geheißen und setzte sich nieder. Auch Gwyneth setzte sich ihm gegenüber auf das Bett und betrachtete die alte Wunde zunächst nur mit den Augen. Dann streckte sie ihre Hand aus, zog sie jedoch gleich wieder zurück und bemerkte mit einem nervösen Grinsen, dass ihre Hände wohl zu kalt wären, um die Wunde richtig zu untersuchen. Da nahm er ihre Hände und umschloss sie ganz mit den seinen. Gwyneth zitterte innerlich und merkte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss.

"Ich," begann sie zu sprechen, doch ihre Stimme zitterte. "Ich glaube, sie sind nun warm genug."

Nur widerwillig ließ er ihre Hände los. Als sie ihn berührte, spürte sie seine Körperwärme und sein Herz machte einen Sprung, so dass er sie mit lachenden Augen betrachtete.
"Die Wunde ist sehr gut verheilt. Mehr kann ich nicht tun." Sie erhob sich vom Bett, als er sich sein Hemd wieder überstreifte und ihr schnell folgte.

"Wartet," rief er, als sie schon das Zimmer verlassen wollte. "Wartet, Gwyneth, ich möchte Euch danken." Wieder nahm er ihre Hände und versuchte ihren Blick festzuhalten. "Es war mehr als Eure Medizin, die mich zurück ins Leben holte. Ich weiß, dass ihr einen großen Teil Eurer Zeit auf mich verwandt habt. Es hat mir sehr geholfen, Eure Nähe zu spüren, Gwyn. Von Zeit zu Zeit plagen mich aber immer noch Albträume und ich wünsche, ihr könntet auch dann wieder bei mir sein."

Aufmerksam achtete er auf Gwyneths Reaktion und sah, dass sich ihre Lippen langsam zu einem Lächeln formten. Dann blickte sie auf den Boden, doch er hob ihren Kopf vorsichtig mit seiner rechten Hand an. "Ich liebe Dich," flüsterte er und küsste sie zärtlich. Dann sah er ihr wieder in die Augen. Als sie weiterhin schwieg, wurde er unruhig. "Und du? Liebst du mich?"

Sanft strich sie über seine Wange. "Ja, ich liebe dich."

Diese Antwort versetzte ihn in einen Zustand des Glückes, wie er ihn wohl noch nie erlebt hatte und er gab seinen Gefühlen so deutlich Ausdruck, wie es nur von einem heftig verliebten Mann erwartet werden kann. Lange standen sie eng umschlungen in dem kleinen Zimmer, in dem ihre Liebe ihren Ursprung gefunden hatte.
Man hatte sie nicht vermisst, denn als sie das Zimmer verließen, um nach den Kranken zu sehen, war Mellyanna immer noch bei ihnen und hielt die Hand von Everard.

"Das," sagte Everard an Mellyanna gewandt, "sind meine Retter." Dabei lächelte er sie glücklich an. "Herr Boromir und Frau Gwyneth. Aber wahrscheinlich kennst du sie schon."

"Und Ihr, Everard, seid also der Mann, für den Mellyanna eine Heirat mit mir ausgeschlagen hat?", fragte Boromir mit einem Schmunzeln, während er liebevoll Gwyneth an sich heranzog.

"Ja, aber wie ich sehe, hattet Ihr einen eben so guten Grund, meine Liebste nicht zur Frau zu nehmen."

"Da habt Ihr recht."

"Es tut mir sehr leid, euer Gespräch von Kriegsheld zu Kriegsheld unterbrechen zu müssen," mischte sich Gwyneth in die Unterhaltung, "aber Everard sollte besser wieder ruhen. Mellyanna, wenn du willst, kannst du heute Nacht hier bleiben."

"Danke, das werde ich. Sagt bitte Vater bescheid, dass ich heute Nacht nicht zurückkehre."

Boromir und Gwyn verabschiedeten sich und gingen die lange Holztreppe hinunter in das Erdgeschoss. Als sie an Ioreths Zimmer klopften, war diese sofort an der Tür und konnte Gwyneth gar nicht schnell genug davon überzeugen, dass ihre Hilfe für heute Abend nicht mehr gebraucht würde und sie ruhig nach Hause gehen könnte.

Natürlich geleitete Boromir Gwyneth nach Hause, auch wenn die Mauern von Minas Tirith damals noch sicher waren. Doch verlangte es ihm danach, soviel Zeit wie nur irgend möglich mit ihr zu verbringen. Ganz leise unterhielten sie sich von der Stille der Nacht umschlossen. Er erzählte ihr von seiner letzten Schlacht und sie erzählte ihm von ihrer Kindheit. Gwyneth berichtete von den Bogenschießübungen mit ihrer Mutter und Boromir erzählte ihr all das, woran er sich bei seiner Mutter noch erinnern konnte, vor allem aber, dass sein Vater sie so sehr geliebt hatte, dass er bis heute ihren Tod nicht überwinden konnte.
Am kleinen, grün berankten Haus angekommen, nahm Boromir schließlich wieder ihre Hände in seinen und hauchte einen Kuss darauf. Dann zog er sie an sich und sah ihr tief in die Augen. Da wussten beide, dass sie ohne den anderen nicht mehr sein wollten.

...Fortsetzung folgt

© 2002 Galenturiel

PS: Ähm, ich habe keine Ahnung, ob das hier noch jemand liest, aber wenn es so ist, würde ich gerne wissen, ob Euch die Geschichte gefällt. Es wird wahrscheinlich noch zwei Kapitel geben.