Frederik Hernandez starrte konzentriert auf das Kotra-Brett vor ihm. Er
wusste bereits, dass er nicht mehr gewinnen konnte - genaugenommen hatte er
das schon vor Spielbeginn gewusst - aber er wollte nicht einfach aufgeben.
Er wollte die wenigen Züge, die ihm bis zur Niederlage noch blieben,
möglichst geschickt nutzen. Er sah kurz zu Benil, der zurückgelehnt auf dem
Sofa saß und einen Schluck Kanar trank. "Beachten Sie die äußeren Felder!"
Sagte er wie beiläufig, so als würde dieser Hinweis Hernandez etwas nützen.
Dieser starrte erneut auf das Brett und zog dann seine Figuren. Er war
keinesfalls sicher, ob es ein kluger Zug gewesen war. Benil stellte sein
Glas ab, nahm die Würfel und ließ sie auf den Tisch fallen. Sein Gesicht
war vollkommen ausdruckslos, als er seine Figuren zog. Dann sah er zu
Hernandez. "Sie haben verloren!"
Frederik Hernandez lehnte sich vor und betrachtete die Aufstellung. Er
musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wie Benil ihn geschlagen hatte.
Mit einem Lächeln lehnte er sich wieder zurück und nahm einen Schluck
Kanar. "Meinen Glückwunsch. Ich hoffe, es war nicht allzu langweilig für
Sie!"
Benil schüttelte den Kopf. "Nein, für einen Anfänger haben Sie sehr gut
gespielt. Und Sie scheinen schnell zu lernen. Mit ein bisschen Übung werden
Sie bald ein ebenbürtiger Gegner sein!"
Hernadez grinste. "Wenn das ein Angebot ist, komme ich gerne darauf
zurück!"
"Es ist ein Angebot. Ich habe bereits mit Sletek gespielt, aber seine
unbestechliche Logik macht das Spiel vorhersehbar und damit uninteressant.
Sie haben hingegen zweimal durch einen unerwarteten Zug das Blatt beinah
gewendet."
"Ich fasse das als Kompliment auf!"
Benil lächelte, ohne etwas zu erwidern.
Hernandez beugte sich vor, um sich neuen Kanar einzuschenken. Dann lehnte
er sich wieder zurück und sah zu Benil. "Strategie ist sehr wichtig für
Cardassianer, nicht wahr?"
Dieser sah ihn überrascht an. "Wie meinen Sie das?"
Hernadez lächelte. "Nun, ich habe die Beobachtung gemacht, dass
Cardassianer scheinbar nie spontan handeln, sondern alles sorgsam abwägen.
Sie scheinen immer eine Strategie zu verfolgen."
Benil zuckte mit den Schultern. "Das ist gut möglich, ich habe noch nie
darüber nachgedacht."
"Garak, zum Beispiel!"
"Was ist mit Garak?"
"Er war beim Obsidian Order. Dann hat er mit Damar gegen das Dominion
gekämpft und ist jetzt Vertreter der Zivilisten im Interims-Rat. Ich habe
gehört, er tritt für freie Wahlen ein."
"Ja, das tut er."
"Aber warum? Ich hätte erwartet, dass er, der ja von dem alten System lange
profitiert hat, sich dafür einsetzten würde, das alles so wird, wie vor dem
Ende des Ordens. Ich hätte erwartet, dass er das alte Gleichgewicht aus
Detapa-Counsel, Militärregierung und Obsidian Order wieder herstellen
wollen würde."
"Garak ist jemand, den man nur sehr schwer einschätzen kann. Ich kann mit
vorstellen, dass es für ihn unerheblich ist, von welchem System er
profitiert. Er ist jetzt im Interims-Rat. Wenn er sich für das System
einsetzt, das die größten Chancen hat, verwirklicht zu werden, dann wird er
wieder ein sehr mächtiger Mann sein."
Hernandez sah den Cardassianer nachdenklich an. "Was halten Sie von freien
Wahlen?"
Benil schien über diese Frage nicht sehr glücklich zu sein. "Ich halte
nichts von einer Demokratie, wie sie auf der Erde praktiziert wird. Ich
denke schon, dass das Volk durch Wahlen an der Regierung beteiligt sein
sollte. Die Frage ist nur, in welcher Form!"
"Und was würden Sie bevorzugen?"
Benil entzog sich der direkten Frage und holte statt dessen etwas weiter
aus. "Es werden zur Zeit zwei Systeme diskutiert. Das eine, welches auch
von der Föderation unterstützt wird, basiert darauf, dass Zivilisten und
Angehörige des Militär unabhängig voneinander Vertreter in eine
Volksversammlung wählen. Das Verhältnis von Abgeordneten ist festgelegt, so
dass der Anteil an zivilen Vertretern etwa doppelt so groß ist, wie der der
Militär-Vertreter. Dadurch soll verhindert werden, dass das Militär wieder
die Macht übernimmt. Die Volksversammlung wählt dann anteilig Vertreter in
einen neuen Detapa-Counsel, so dass auch dort die Zivilisten die absolute
Mehrheit gegenüber dem Militär haben.
Die zweite Variante, die vom Militär bevorzugt wird, sieht vor, dass sich
Einzelpersonen zur Wahl stellen können, die sowohl dem Militär angehören,
als auch Zivilisten sein können. Das Volk wählt dann die Vertreter durch
Mehrheit, wobei kein Verhältnis von Zivilisten zu Militär-Vertretern
festgelegt ist. Es wäre also durchaus möglich, dass die Abgeordneten des
Militärs überwiegen, oder zumindest gleich stark vertreten sind, wie die
Zivilisten. Womit diese keinen Vorteil hätten. Auch bei dieser Variante
wählt die Volksversammlung einen Detapa-Counsel, nur dass auch hier keine
Mehrheiten festgelegt sind."
Hernandez schien nachzudenken. "Genaugenommen ist die zweite Variante viel
demokratischer, denn der Wille des Volkes entscheidet über die
Zusammensetzung der Versammlung."
"Ich bin überrascht, das Sie das so sehen. Botschafter Jellico ist offenbar
anderer Ansicht."
Hernandez schüttelte den Kopf. "Nein, er ist wahrscheinlich nur der
Meinung, dass Cardassia noch nicht reif ist, für eine vollständige
Demokratie."
Benil lächelte. "Wenn Sie mich fragen, wird Cardassia nie dafür reif sein,
einfach aus dem Grund, weil Demokratie nicht dem cardassianischen Wesen
entspricht. Das Volk verlangt nach Führung. Es ist die Aufgabe der
geistigen Elite zu führen, die Intelligenten werden dafür ausgebildet. Sie
können überblicken, was für Cardassia und das cardassianische Volk richtig
ist. Ein einfacher Arbeiter kann das nicht. Er dient Cardassia auf seine
Weise. Er sollte sich keine Gedanken um Politik machen müssen. Es reicht,
wenn er seinen Führern vertraut und ein wahrer Sohn Cardassias ist."
Hernandez nahm nachdenklich einen Schluck Kanar. "Ich fürchte, mit dieser
Einstellung wird Cardassia niemals in die Föderation aufgenommen werden.!
Benil sprach nicht aus, was er dachte. "Nun, wir werden sehen, wie sich die
Dinge entwickeln, nicht wahr?"
Hernandez nickte. "Ja, das ist richtig."
Benil erhob sich. "Ich denke, ich verlasse Sie jetzt. Es ist schon spät,
und ich habe morgen viel Arbeit - nachdem Glinn Daro mich heute von meinen
regulären Projekten abgehalten hat..."
Hernandez erhob sich ebenfalls. Als er stand, stellte er fest, dass er viel
betrunkener war, als er zuvor bemerkt hatte. Trotzdem machte er ein paar
Schritte auf Benil zu und schüttelte ihm zum Abschied die Hand. "Ich habe
diesen Abend sehr genossen, ich hoffe, wir wiederholen das demnächst!"
Benil nickte und entzog dem Terraner sanft aber bestimmt seine Hand. "Ich
freue mich schon darauf. Eine angenehme Nachtruhe, wünsche ich Ihnen." Dann
verließ er das Quartier. Draußen schüttelte er leicht den Kopf. Warum hatte
Hernandez plötzlich gewirkt, als sei er betrunken? Zuvor hatte man ihm kaum
etwas angemerkt - und er hatte lediglich drei Gläser Kanar getrunken. Benil
schüttelte erneut den Kopf und machte sich auf den Weg in sein Quartier.

***

Anan Entek gab die Koordinaten ein, die die Lavok von Raspak II fort nach
Empok Nor zurückführten. Leise vor sich hin summend bestätigte er die
Flugfreigabe von der Überwachungsstation der Kolonie. Langsam beschleunigte
er die Lavok auf volle Impulsgeschwindigkeit. Gilora starrte mit
verbissenem Mund auf ihr PADD, doch es waren nicht die Flugpläne, die ihr
Kopfzerbrechen bereiteten.
"Anan, glaubst Du, dass es eine Bedeutung hatte, welche Erinnerungen wir
noch einmal erlebt haben?"
"Was meinst Du?"
"Ich weiß nicht genau. Ich habe an die Lyserianerin gedacht, die Dir die
Baumknollen verkauft hat. Du hast gesagt, sie hätte sicher gewusst, wie
Cardassianer darauf reagieren. Also, warum hat sie sie Dir trotzdem
verkauft?"
Anan strich sich eine lose Strähne aus dem Gesicht. "Ich weiß es nicht.
Vielleicht wusste sie es ja auch nicht."
"Aber falls sie es gewusst hat, wollte sie uns vielleicht eine Möglichkeit
eröffnen."
"Eine Möglichkeit wozu? Tagelang zu schlafen, während unser Schiff ins
Nirgendwo fliegt - darauf hätte ich verzichten können."
"Nein! Die Möglichkeit, wichtige Erlebnisse noch einmal zu erleben, und
dadurch vielleicht etwas über uns selbst zu lernen?"
Anan sah sie zweifelnd an. "Und? Was hast Du gelernt?"
Gilora legte das PADD beiseite und sah Anan an. "Ich weiß es nicht. Ich
frage mich nur, ob das, was ich geträumt habe, auch wenn es kein Traum war,
nicht der Schlüssel zu einer Erkenntnis sein könnte."
Anan lehnte sich zurück. "Sag' mir, was Du geträumt hast, vielleicht kann
ich Dir helfen!"
Gilora schwieg einen Moment. "Zuerst habe ich vom Tag der
Abschlussprüfungen geträumt. Ich habe Rekelen Dal nach ihrer Prüfung
abgeholt und wir sind in den Essbereich gegangen, um etwas zu trinken. Wir
haben über die Prüfungen gesprochen, und über Garak. Rekelen hat mir auf
den Kopf zugesagt, ich sei in ihn verliebt, was zwar stimmte, was ich aber
nicht zugeben wollte. Ich habe es nicht einmal mir selbst gegenüber
zugegeben. Als ich keine Lust mehr hatte, mein Liebesleben mit Rekelen zu
diskutieren, bin ich in den Park gegangen, zu meinem Lieblingsplatz. Ich
habe eine Weile nachgedacht, über mich und Garak, als er plötzlich neben
mir stand. Ich hatte an diesem Abend ein sehr seltsames Gespräch mit ihm,
und dann haben wir uns geküsst."
"So seid Ihr also zusammengekommen!"
"Ja." Gilora machte eine Pause. "Dann habe ich von dem Tag geträumt, an dem
unsere Affäre zuende war. Es war etwa zwei Monate nach unserer
Abschlussprüfung, als er mir sagte, ich würde meine erste Mission bekommen,
dass sie weit fort von Cardassia sei und mindestens ein halbes Jahr dauern
würde. Wir haben uns einvernehmlich getrennt, es war von vornherein klar
gewesen, dass es nicht lange dauern würde."
Anan sah sie zweifelnd an, sagte jedoch nichts und Gilora fuhr fort. "Ich
habe dann Rekelen besucht, die bereits einer Zelle zugeteilt worden war.
Wir haben uns unterhalten - über einen Vorfall aus dem zweiten Jahr. Der
dritte Traum ist der seltsamste von allen, denn es ist keine Erinnerung. Es
war nur eine ganz kurze Sequenz. Ich war schwanger mit meinem zweiten Kind.
Ich habe meine Tochter geweckt, Frühstück gemacht und meinem Mann ein Glas
Saft gebracht."
"Und?" Anan sah sie fragend an.
"Es war Garak. Ich war mit Garak verheiratet. Das ist kompletter Unsinn. Es
war niemals real, es hätte niemals so sein können - es ist nicht einmal so,
dass ich es mir so erträumt hätte. Ich wollte nie eine Familie. Ich wollte
immer Karriere machen."
Anan nickte. "Das stimmt. Wenn Du eine Familie gewollt hättest, dann
hättest Du nicht während der Ausbildung so hart arbeiten müssen, um als
beste Absolventin abzuschneiden."
Gilora sah ihn überrascht an. "Ich habe mich nicht wegen der Auszeichnung
angestrengt. Ich habe einfach hart gearbeitet. So wie Garak es uns am
ersten Tag empfohlen hat. Ich habe mein bestes gegeben, nicht weniger und
nicht mehr. Und ich habe das getan, um eine gute Agentin zu werden, nicht
um diese Plakette zu erhalten. Die Auszeichnung war mir immer unwichtig."
Diesmal war es Anan, der überrascht aussah. "Tatsächlich? Ich habe immer
gedacht, Du hättest schon in der Elementarschule darauf hingearbeitet."
Gilora schüttelte den Kopf. "Nein, das habe ich nicht."
Anan biss sich auf die Unterlippe. "Vielleicht ist dieser letzte Traum
trotzdem der Schlüssel zu der Erkenntnis, die Du suchst - wenn es eine
gibt."
Gilora zuckte nachdenklich mit den Schultern. "Schon möglich. Ich werde
wohl noch mal darüber nachdenken müssen." Kopfschüttelnd beobachtete sie,
wie Anan den Kurs korrigierte und dann auf Warp-Geschwindigkeit
beschleunigte. "Manchmal übertreibst Du es wirklich, Anan!"
"Was, bitte?" Anan sah sie erstaunt an.
"Du hast den Kurs korrigiert. Zum zweitenmal innerhalb der letzten halben
Stunde."
"Ja und?"
"Warum tust Du das? Die Ungenauigkeiten sind minimal. Jeder normale Pilot
korrigiert den Kurs einmal pro Stunde - oder noch seltener."
"Ich mag nun einmal keine Ungenauigkeiten!"
"Das ist kleinlich!"
"Nein, das ist Perfektionismus. Es ist nicht so, dass ich stolz darauf bin,
aber ich kann nicht anders. Ich muss alles perfekt machen, sonst werde ich
nervös."
Gilora schüttelte den Kopf. "Schön und gut. Wenn Du die Lavok das nächste
mal aus einer misslichen Situation herausmanövrierst, werde ich für Deinen
Perfektionismus dankbar sein. Aber bei Kleinigkeiten könntest Du ruhig
etwas entspannter sein."
"Ich werde mich bemühen!" Anan grinste sie an und strich sich erneut eine
lose Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Dein Haar, zum Beispiel, sitzt doch auch nicht perfekt!"
"Oh, im Gegenteil!" Anans Grinsen wurde noch breiter. "Es ist genau so, wie
es sein soll!"
Gilora schüttelte lächelnd den Kopf. "Wenn Du meinst..." Dann streckte sie
sich und nahm ihr PADD zur Hand. "Ich denke, ich werde noch ein wenig an
den Flugplänen arbeiten. Du kommst ja zurecht!"
Anan warf ihr einen spöttischen Blick zu, als sie die Brücke verließ.
Natürlich kam er zurecht, was für eine unnötige Bemerkung, wo Gilora ihn
gerade zuvor für seinen Perfektionismus gerügt hatte.
Sie hatte ja nicht ganz unrecht, manchmal nahm es wirklich überhand. Anan
konnte sich selbst nicht erklären, warum. Es machte ihn unruhig, wenn er
wusste, wie etwas sein sollte, wie man etwas besser machen konnte, und es
dann nicht geschah. Am schlimmsten war es, wenn er beobachten musste, dass
andere etwas nicht mit dem Perfektionismus erledigten, den er an den Tag
gelegt hätte. Sein Freund Cral, zum Beispiel. Er hätte schon in der
Ausbildung besser abschneiden können, hätte er sich mehr bemüht. Aber er
war nicht ehrgeizig genug gewesen. Selbst nach dem Ende des Ordens hätte er
einen besseren Beruf finden können, als den in der Datenverarbeitung. Er
hätte als Sicherheitsoffizier arbeiten können - die Agrarerzeugung
jedenfalls war eine so mittelmäßige Aufgabe, dass Anan sich wunderte, wie
Cral mit ihr glücklich sein konnte.
Er selbst wäre niemals damit zufrieden. Er war für einen mittelmäßigen
Beruf nicht geschaffen. Er war kein Mittelmaß!
Anans Finger trommelten nervös auf die Konsole vor ihm. Sein erster Traum
kam ihm wieder in den Sinn. Als Kind war er ständig von seinen Schwestern
ausgestochen worden. Trotz aller Anstrengungen hatte er nicht an ihre
Leistungen heranreichen können. Aber hatte er sich wirklich angestrengt?
Anan presste die Lippen aufeinander. Wenn er ehrlich war, dann hatte er
erst begonnen hart zu arbeiten, als er dem Obsidian Order beigetreten war.
Und auch dort erst, als er mehr schlecht als recht die Aufnahmeprüfung
bestanden hatte.
Er dachte an seinen dritten Traum. Wie er sich geärgert hatte, dass es
nicht für den besten Abschluss gereicht hatte. Wenn er schon früher den
Ehrgeiz besessen hätte, hart zu arbeiten, das Beste aus sich herauszuholen,
dann wäre er in Garaks Gruppe gewesen. Dann hätte er es mit Gilora
aufnehmen können. Er hätte sie möglicherweise geschlagen. Aber so war es
nicht gewesen. Er hatte seine Kindheit träumend verbracht, immer nur soviel
getan, dass er gut war, so dass seine Eltern zufrieden mit ihm sein konnten
- dafür, dass sie stolz hätten sein können, hatte es nie gereicht.
Wie hatte er sich all die Jahre nach mehr Anerkennung gesehnt. Wie sehr
hatte er sich gewünscht, seine Schwestern seien weniger gut, ja, wie oft
hatte er sich gewünscht, er hätte keine Geschwister? Dabei war es seine
eigene Schuld gewesen. Am Tag der Aufnahmeprüfung, da hatte sich alles
geändert. In der großen Eingangshalle des Obsidian Order, als er seinen
Namen auf der Liste seines Onkels gefunden hatte, an vorletzter Stelle. Nur
Cral war schlechter gewesen. Da hatte er sich das erste Mal für seine
mittelmäßigen Leistungen geschämt. Und bei Garaks Ansprache hatte er den
Entschluss gefasst, ab sofort gut zu sein. Nein, nicht gut! Er wollte nicht
länger Mittelmaß sein, er wollte nicht länger übersehen werden. Er würde
besser sein, als alle anderen. Damit seine Eltern endlich stolz auf ihn
sein konnten.
Anan lehnte sich im Pilotensitz zurück. Gilora hatte Recht, es waren keine
zufällig ausgewählten Sequenzen gewesen. Es gab tatsächlich eine
Erkenntnis. Niemals hätte er sich selbst eingestanden, was ihn trieb. Er
arbeitete nicht für sich selbst, er arbeitete für seine Eltern. Er wollte
ihre Anerkennung. Und die, seiner Schwestern. Anan atmete hörbar aus. Er
hatte seine Familie seit Jahren nicht gesehen. Er hatte wohl mit seinen
Eltern Kontakt gehalten, aber wann war er das letzte Mal auf der Arawath-
Kolonie gewesen? Er würde sie besuchen, bei der nächsten Gelegenheit. Das
Familienfest, vielleicht, seine Mutter würde sich freuen.
Anan lehnte sich vor, um den Kurs zu korrigieren, doch dann zögerte er.
Innerlich lächelte er über sich selbst und anstatt die überflüssige
Kurskorrektur durchzuführen aktivierte er den Autopiloten und ging in sein
Quartier.

***

Glinn Daro betrat das Büro des Guls und reichte Basra das PADD mit ihrem
Bericht. Basra überflog die Zeilen. "So, es ist also vorbei!" Er lächelte
Daro zu, die sich nicht sicher war, wie sie die gute Laune ihres
Kommandanten einschätzen sollte.
"Ja, Gul. Die letzten Herde wurden eliminiert. Die Verbreitung des
Antimittels über die Lebenserhaltung war erfolgreich. Trotzdem werde ich
von meiner Station aus regelmäßige Scans durchführen, um sicher zu gehen."
"Gute Arbeit, Glinn. Ich werde Ihre kreative Vorgehensweise in Ihrer
Personaldatei vermerken."
"Danke, Sir."
"Wie geht es Ihrer Familie? Sie sind noch nicht auf der Station, nicht
wahr?"
"Nein, sie kommen in wenigen Stunden mit dem letzten Transport."
Basra nickte. "Betrachten Sie Ihre Schicht als beendet. Ich werde Glinn
Dukat sagen, dass er Sie jetzt ablösen lassen soll."
"Das ist nicht nötig, Sir. Die Scans müssen regelmäßig..."
"Glinn Daro! Sie haben dienstfrei, das ist ein Befehl. Kümmern Sie sich um
Ihre Familie, Glinn Dukat wird dafür sorgen, dass die Scans durchgeführt
werden!"
"Ja, Sir. Danke, Sir."
"Sie können jetzt gehen."
Glinn Daro verließ das Büro des Guls und ging zum Turbolift. Gul Basra
musste wirklich ausgesprochen gute Laune haben, dass er Ihr beinah die
Hälfte der Schicht erließ, nur damit sie ihre Familie von der Luftschleuse
abholen konnte. Der Lift setzte sich in Bewegung. Auf Karlin Daros Gesicht
erschien ein glückliches Lächeln, das sie kaum bändigen konnte. In wenigen
Stunden würde sie ihre Familie wiedersehen. Und plötzlich verstand sie den
Grund für die gute Laune ihres Kommandanten.

***

Gilora Macet starrte auf die Flugpläne vor sich auf dem Monitor. Dann
seufzte sie und deaktivierte den Sichtschirm. Es hatte keinen Sinn so zu
tun, als würde sie arbeiten. Die neu erlebten Erinnerungen gingen ihr nicht
aus dem Kopf. Sie erhob sich von ihrem Schreibtisch und zog sich an der
Stange hoch, die sie in dem engen Durchgang zwischen Büro und Wohneinheit
befestigt hatte. Nach einigen Klimmzügen ließ sie sich wieder auf den Boden
fallen, ging hinüber zu ihrem Bett und ließ sich darauf fallen. Sie
verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
War es möglich, dass Anan Recht hatte? War dieser letzte Traum der
Schlüssel zu allem? Sicher, sie war sehr glücklich gewesen während dieser
zwei Monate, die sie mit Elim zusammen gewesen war. Es war eine angenehme
Zeit gewesen, nach der Prüfung. Sie hatte ab und zu einen kleinen Auftrag
erledigt, oder als Elims Adjutantin fungiert. Und sie hatte mit Antia
L'hrel gearbeitet. Einen Moment dachte sie an die junge Ingenieurin von
Empok Nor. Sie hatte noch immer nicht herausgefunden, ob die Ähnlichkeit
zufällig war, oder ob es sich tatsächlich um dieselbe Person handelte. Doch
dann wischte sie diese Gedanken beiseite.
Sie war viel mit Elim zusammen gewesen, obwohl er sehr viel zu tun gehabt
hatte. Sie hatte fast in seinem Quartier gelebt. Aber nur fast. Sie hatte
immer darauf geachtet, einen gewissen Abstand zu wahren. Aber warum
eigentlich?
Sie hatte gewusst, dass es zuende sein würde, sobald sie ihre erste Mission
bekam. Sie hatte sich darauf gefreut, zu beweisen, was in ihr steckte. Ihre
Karriere war ihr wichtig gewesen. Zuviel Nähe hätte alles nur unnötig
schwerer gemacht. Eine Heirat mit Elim war zu jedem Zeitpunkt undenkbar
gewesen. Er wollte keine Familie. Und sie wollte auch keine.
Oder war das das Problem? Der Nachmittag im Haus von Cral Broca hatte ihr
vor Augen geführt, wie erfüllend ein harmonisches Familienleben war. Doch
diese Erkenntnis war ihr nicht neu. In ihrer eigenen Familie hatte immer
eine ähnliche Atmosphäre geherrscht. War es vielleicht so, dass sie sich im
Grunde nach einer Familie sehnte? Gilora schüttelte den Kopf. Nein, das war
es nicht. Atmosphäre hin oder her - sie war im Grunde kein Familienmensch.
Sie war gerne unabhängig. Sie wollte auch keine Kinder. Aber was war es
dann?
Gilora ging ihre Träume nochmals durch. Um was war es gegangen? Was war die
gemeinsame Verbindung? Letztendlich blieb nur Elim als gemeinsamer Nenner,
aber was sollte ihr das sagen? Wenn sie sich über etwas im Klaren war, dann
über ihr Verhältnis zu Elim Garak. Gilora zog sich die Überdecke um die
Schultern und drehte sich zur Seite. Langsam wanderten ihre Gedanken
zurück, zu dem Tag, an dem sie Rekelen nach der Abschlussprüfung abgeholt
hatte... Ihre Gedanken vermischten sich, während sie langsam in deinen
leichten Schlaf glitt.
"Du magst Garak auch - und nicht nur das...Du liebst ihn!"
"Träumst Du in diesem Moment davon, Cardassia zu verlassen?"
"Nein!"
"Gut, das ist gut."
"Ich habe die Zeit mit Dir sehr genossen."
"Ich auch."
"Aber ein klarer Schnitt wird das Beste sein."
"Ich glaube, er würde nichts lieber tun, als Dich in einer Top-Zelle
auf Cardassia unterzubringen. Um dann zu gegebenem Zeitpunkt
sein Junggesellendasein aufzugeben. Aber da das das Ende
seiner Karriere wäre, schickt er Dich lieber weit weg."
"Gib wenigstens zu, dass es weh tut, und das Du ihn vermissen wirst."
"Das habe ich nie abgestritten!"
"...Ich dachte immer, dass Du ihn wirklich liebst."
"Du magst Garak auch - und nicht nur das...Du liebst ihn!"
"...Ich dachte immer, dass Du ihn wirklich liebst."
"...dass Du ihn wirklich liebst!"
"Du liebst ihn!"
"...dass Du ihn wirklich liebst!"
Gilora öffnete mit einem Schlag die Augen. Das war es also. Es war nicht
nur eine Affäre gewesen, sie hatte Elim geliebt. Rekelen hatte das gespürt,
nur sie selbst hatte es sich nicht eingestehen wollen. Weil nicht sein
konnte, was nicht sein durfte. Weil Elim keine feste Beziehung wollte, weil
ihre erste Mission unmittelbar bevorstand... Aber wenn es anders gewesen
wäre?
Gilora setzte sich auf. Was wäre gewesen, wenn Elim ihr das Gefühl gegeben
hätte, sie könnte mehr sein, als bloß seine Geliebte? Mehr als eine kurze
Affäre - mochte sie noch so intensiv gewesen sein?
Gilora stand auf und ging zum Fenster ihres Quartiers. Sie sah die Sterne
vorbeiziehen, und plötzlich fröstelte sie. Nicht, weil es kalt in ihrem
Quartier war, sondern weil sie sich eingestehen musste, dass sie Elim
tatsächlich mehr geliebt hatte als jemals einen Mann zuvor oder danach. Sie
hätte ihre Karriere aufgegeben, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen,
wenn Elim Garak ein einziges Mal gesagt hätte, dass er sie liebte. Dass er
den Rest seines Lebens mit ihr verbringen wollte. Dass er Kinder mit ihr
wollte...
Gilora zog sich die Überdecke des Bettes enger um die Schultern. Ihre
Karriere war ihr wichtig. Das war sie immer gewesen. Aber für eine Liebe
wie Elim...
Entschlossen drehte sie sich um, trat an den Replikator und replizierte
sich einen Becher Tee. Es hatte keinen Sinn darüber nachzudenken, was
gewesen wäre, hätten die Dinge anders gestanden. Es war nun einmal so
gewesen, und nicht anders. Wer konnte schon sagen, ob sie mit Elim
glücklich geworden wäre? Wahrscheinlich war es gut, dass es so gekommen
war. Sie wollte ihre Karriere nicht aufgeben. Aber was blieb, war die
Erkenntnis, dass ihre Verbindung mit Elim Garak nicht nur eine lose Affäre
gewesen war. Nicht für sie. Sie hatte ihn geliebt und tat das vielleicht
noch immer. Was er wirklich fühlte, oder gefühlt hatte, blieb wie immer ein
Rätsel.