Verschwörung

2. Erste Schritte
Leider erwies sich der Rest der Nacht, als nicht halb so ertragreich, wie Misa es sich erhofft hatte. Die beste Zeit, dann, wenn die Wirte die letzten Zecher vor die Türen setzten, hatte sie durch das lange Gespräch zuvor verpasst. Im Stillen verfluchte sie die Halblinge, die ihr auf diese Art und Weise das Geschäft dieser Nacht versaut hatten, und sich schließlich eigentlich einen passenderen Zeitpunkt hätten wählen können.
Aber dagegen half alles Fluchen und Schimpfen nicht mehr. Was geschehen war, war geschehen. Sie musste sich wohl oder übel mit der mageren Ausbeute dieser Nacht zufrieden geben.
Der einzige Betrunkene, der ihr auf ihrem Heimweg durch die dunklen Gassen und Hinterhöfe über den Weg lief, hatte auch nicht mehr, als ein paar schäbige Silbermünzen bei sich. Nicht dass sie Geld wirklich brauchte, aber aus der Übung kommen wollte sie trotz ihres Ranges und Ansehens unter den Dieben der Stadt nicht. Nichts war gefährlicher als das. Ein Schurke, der aus der Übung gekommen war, wurde ziemlich schnell zu einem toten Schurken, denn jeden der niedriger Gestellten lockte die Herausforderung stets, und der Ruf, den man durch die Ermordung eines ranghöheren Diebes erlangte, war auch nicht zu verachten. Außerdem hatte sie tatsächlich ihren Spaß an der Arbeit.
Vom langsamen Herantasten an das auserwählte Ziel bis zum unbemerkten Entleeren der Taschen von eben jener, lag für sie in jeder noch so kleinen Aktion ihrerseits eine unglaubliche Spannung. Diese konnte nur noch übertroffen werden, von dem triumphierenden Gefühl des Sieges, wenn sie die selbst gestellte Aufgabe letztendlich vollbracht hatte.
Aber trotz all dem, war es ziemlich unbefriedigend, wenn sich der Lohn der Mühen als lediglich ein paar kleine Münzen herausstellte. Fast fühlte Misa sich versucht, dem Betrunkenen hinterher zu schleichen und ihm die soeben erbeutete Börse zurück in die Tasche zu stecken, doch an diesem Punkt siegte dann doch ihre Berufsehre und die Vernunft. Beute, auch wenn sie noch so wertlos war, war und blieb immerhin Beute. Um keinen Preis gab man das, was man erbeutet hatte zurück, selbst wenn es ein noch so geringer Betrag war.
Als die ersten Strahlen der Morgensonne auf den staubigen Straßen zu glitzern begannen, machte Misa sich auf den Weg nach Hause, in die kleine Dachkammer, die ihren Unterschlupf und ihre Sicherheit darstellte. Von überflüssigem Luxus hielt sie nicht viel, schließlich gehörte sie nicht zu diesem Haufen verweichlichter Dummköpfe, die sich, kaum dass sie es zu etwas gebracht hatten, zur Ruhe setzten und in ihrem Geld badeten. Ihrer Meinung nach war dieser Lebensstil verabscheuungswürdig und zugleich, was auch der Hauptgrund für sie war, solches zu vermeiden, sehr gefährlich. Es war schließlich offensichtlich, das ein Schurke, stellte er seinen Reichtum offen zur Schau, viel eher in der Gefahr der Entdeckung schwebte, als einer, der sich bedeckt hielt. Desgleichen zogen diejenigen, die mit ihrem Reichtum offen protzten, auch sehr schnell andere Diebe an, die sich ihren Teil zu nehmen gedachten.
Mit dem Gefühl trotz allem ein sinnvolles Tage-, beziehungsweise Nachtwerk, vollbracht zu haben, schloss sie das Fenster ab, erneuerte die zuvor blitzschnell entschärften Fallen und überprüfte die restlichen, an der Tür und dem zweiten Fenster, ob sie noch intakt seien, bevor sie sich erleichtert in ihr Bett legte und schnell und traumlos einschlief. Ihren Dolch lies sie dabei jedoch nicht aus der Hand.

Nachdem Misa den Raum verlassen hatte, atmete Dargon erleichtert auf und wandte sich seinen beiden Mitstreitern zu.
„Ich für meinen Teil, hätte mit mehr Widerstand gerechnet. So gesehen, ist es doch eigentlich recht gut gelaufen," erklärte er und versuchte krampfhaft sicher und überzeugend zu wirken.
Zweifelnde Blicke belehrten ihn eines Besseren.
„Der Preis ist trotz allem zu hoch. Sie hätte unentgeltlich einwilligen sollen, so haben wir nur unnötige Zusatzkosten, die wir in der Bilanz nicht erklären können," gab Lorsch, der ältere der beiden anderen, zu bedenken. „Nun ja, es ist trotz allem wohl die beste Lösung, es so zu machen."
Damit hatte er Dargon eindeutig seines Siegesgefühls beraubt, und auf seinen Wink hin verließen die drei gemeinsam die ungemütliche kleine Kammer.
„Vielleicht sollten wir das nächste mal einen angenehmeren Ort zur Verhandlung auswählen, oder vielleicht eher einen angenehmeren Verhandlungspartner," versuchte Dargon noch einen Witz zu machen, der jedoch kläglich scheiterte.
„Wir sollten noch heute Nacht die Zuständigkeiten für das Händlerviertel festlegen," stellte Sandros, der bisher schweigsame Dritte im Bunde fest. „Ich denke das wäre genau die richtige Aufgabe für dich, Dargon, du hast uns dieses Problem schließlich auf den Hals geholt." Nach einem zustimmenden, leicht belustigten Nicken von Lorsch, seufzte Dargon tief, und fügte sich in sein Schicksal.
Oh nein, die Götter meinten es in dieser Zeit wirklich nicht gut mit ihm.

„Rasch, hier herüber. Und seit in Cyrics Namen ruhig!" zischte eine harte Stimme der kleinen Menschengruppe zu, die gerade das am Hafen liegende Ruderboot verlassen hatte. „Ich hoffe euer Auftrag ist klar. Aber zur Sicherheit werde ich ihn noch einmal für euch wiederholen. Ihr macht euch jetzt sofort auf den Weg zu den Häusern, die wir für euch vorbereitet haben, nehmt sie in Besitz und erscheint morgen pünktlich hier an den Docks. Ihr seid ganz gewöhnliche Hafenarbeiter, und keiner wird irgendetwas anderes in euch sehen. Ist das klar?"
„Alles klar, Mylus," kam die geflüsterte Antwort zurück.
„Und nennt mich nicht so. Ich kenne euch nicht und Ihr kennt mich nicht, noch kennt einer von euch die anderen. Wir dürfen keinerlei Verdacht erregen, sonst ist unser Plan schon jetzt zum Untergang verdammt. Reisst euch gefälligst zusammen," flüsterte der schwarzbärtige Riese mit einer solchen Intensität, dass die Leute das Gefühl hatten, sie wären mit größtmöglichster Lautstärke angebrüllt worden.
Verschüchtert packte ein jeder von ihnen sein Bündel und machte sich wie befohlen auf den Weg. Keiner von ihnen wäre einem Beobachter einzeln besonders aufgefallen, doch die Gruppe in der sie sich bewegten zeigte deutlich, dass es sich bei ihnen nicht um Einheimische handelte. Allein die tief gebräunte Haut ließ deutlich erkennen, dass sie aus dem Süden, den Wüstenlanden stammten.
Doch beobachtet wurde diese Szene von niemandem, abgesehen von dem Betrunkenen, der einige Meter enfernt in der Gosse lag, und gerade aus seinem Rausch aufgewacht war. Doch auch er sollte sich infolge gerade dieses Rausches, nicht mehr an sonderlich viel erinnern, was in dieser Nacht geschehen war.

Nach einigen wenigen aber zutiefst erholsamen Stunden Schlaf, wachte Misa wie gewohnt gegen Mittag auf. Rasch musterte sie ihr kleines Kämmerlein um auf jegliche Überraschung sofort reagieren zu können. Ihren geübten Augen war jedoch schnell klar, dass all ihre sorgfältig angelegten Fallen und Überwachungsmechanismen noch vollkommen intakt war. Sie hatte nichts zu befürchten. Schlaf war eine Tätigkeit die Misa über alles verabscheute. Er machte sie verwundbar und stahl ihr Zeit, zwei Dinge die ihr überhaupt nicht gefielen. Dennoch konnte auch sie sich nicht der Notwendigkeit des Schlafes entziehen. Elfen waren wirklich zu beneiden, ihre Fähigkeit mit wenig oder auch gar keinem Schlaf auszukommen, hatte Misa schon immer bewundert.
Nach einer schnellen Katzenwäsche blieb ihr Blick im Spiegel hängen. Die schlanke, kleine Diebin hatte selten Zeit für Eitelkeit, doch jetzt nahm sie sich sie. Stirnrunzelnd musterte sie ihr Spiegelbild und überlegte wie sie sich aufmachen sollte, um am besten in der Lage zu sein die Informationen die ihre Auftraggeber von ihr erwarteten erlangen zu können. Dieser Gedanke zog sogleich einen zweiten nach sich: Sie hatte noch gar keine weiteren Pläne für die Beschaffung der Informationen geschmiedet. Mit einem Seufzer drehte sie den kleinen hölzernen Stuhl, der neben einem passenden Tischchen stand, um und ließ sich mit der Stuhllehne vor der Brust darauf nieder. Sekunden später lachte sie, als ihr auffiel, dass sie instinktiv ihren Instinkten gefolgt war, und sich auf diese Weise, so wie sie es auch in jeder Kneipe tun würde gesetzt hatte. Hier zu Hause war es definitiv nicht nötig, ihre Brust durch die Stuhllehne vor Dolchstichen zu schützen. Trotzdem behielt sie ihre Sitzweise bei. Man konnte nie wissen. Und wer sich zu sicher fühlte war der erste, der auf der Abschussliste stand. So war das Gesetz der Straße, nach diesem Gesetz lebte sie.
Misa fokussierte ihren Blick auf einen dünnen goldenen Sonnenstrahl, der den Staub auf der hölzernen Tischplatte zum Glitzern brachte und begann nachzudenken. Das letzte Mal, dass sie einen Plan für ihre Unternehmungen hatte ausarbeiten müssen, lag schon geraume Zeit zurück. In letzter Zeit, hatte sie sich auf die Kontrolle ihres Reviers beschränkt, ohne große Coups und grandiose Überfälle zu machen. Ja, dachte Misa, sie war tatsächlich nachlässig geworden. Langsam begann sie den Auftrag der Halblinge nicht mehr als lästige Störung zu empfinden, sondern vielmehr als Herausforderung und eine aufrüttelnde noch dazu. Sie würde herausfinden was vor sich ging, soviel war schon mal klar. Und danach, danach würde Schluß sein, mit dem Müßiggang. Die Stadt sollte wieder erzittern, wenn sie den Namen von Misa, der hinterlistigsten der Diebe, der leisesten der Meuchelmörder hörte. Mask sollte stolz auf sie sein, wenn sie in seinem Namen die Menschen in Angst und Schrecken versetzte.

Im Hauptquartier der überwiegend aus Halblingen bestehenden Diebesgilde, herrschte eine Stimmung wie in einem Bienenstock. Das erste, was einem jeden Gildenmitglied beim Betreten des Gildenhauses auffiel, war der große Anschlag am schwarzen Brett:"Freiwillige gesucht!" Zunächst sorgte diese Überschrift selbstverständlich für großes Interesse, sowohl unter den alteingesessenen, als auch unter den jungen Dieben. Doch Menge und Durchschnittsalter der vor dem Anschlag stehenden, reduzierte sich ziemlich schnell. Sobald sie das Wort "Händlerviertel" lasen, hatten die meisten der Älteren das Thema bereits abgehakt. Auch viele der Jüngeren dachten an die Horrorgeschichten, die ihnen über diese Gegend erzählt wurden, doch bei ihnen überwog das Interesse an neuen Erfahrungen und Abenteuern die Angst vor Schrecken, die sie selbst nicht erlebt hatten.
Als Dargon gegen Mittag den Audienzsaal, den er auf seinem Aushang angegeben hatte betrat, stellte sich ihm ein Bild dar, ganz wie er es erwartet hatte. Er seufzte. Die Niederlage der vergangenen Nacht steckte ihm immer noch im Blut, und er fragte sich ernsthaft, ob die Horde an Nachwuchsdieben in der Lage sein würde, die Ansprüche dieser gnadenlosen Frau zu erfüllen.
Mit einem lauten Räuspern sorgte er für Ruhe und begann damit, den Anwesenden die Lage zu verdeutlichen.
"Wie ihr alle wisst, geschehen in letzter Zeit merkwürdige Dinge in der Stadt. Was genau euch darüber bekannt ist, ist völlig irrelevant, das einzige, was ich euch hierzu mitteile ist, das Misa, die Herrscherin des Händlerviertels, von der ihr zweifellos alle schon einmal gehört habt, wegen diesen Vorkommnissen eine Weile stark mit anderen Dingen beschäftigt sein wird, als ihr Viertel zu kontrollieren. Aus diesem Grund wandte sie sich an uns, in der Hoffnung das einige unserer Mitglieder für einige Zeit diese Aufgabe übernehmen könnten. Das einzige was dem noch hinzuzufügen ist wäre, dass der Abgabeteil an die Gilde für jegliche Beute die in diesem Gebiet erzielt wird nicht 10% sondern 20% beträgt. Dennoch ist es eine lohnenswerte Gegend und euer eigener Profit sollte dabei nicht zu kurz kommen. Wer also bereit ist kann sich gleich hier unten in die vorbereiteten Listen eintragen. Wir planen zunächst für den Zeitraum von einer Woche, dann sehen wir weiter. Gibt es noch Fragen?"
Abgesehen von einer schüchternen Wortmeldung im hinteren Bereich des Raumes, schien es keine zu geben, eine Tatsache, die Dargon überraschte aber auch freute, denn er wollte so schnell wie möglich mit dieser lästigen Angelegenheit fertig werden. "Ja, bitte, dort hinten?"
Der kleine Halbling wurde puterrot, sprach dann jedoch leise und schnell:"Ich wollte nur fragen, wie es kommt, dass wir mit einer Frau gemeinsame Sache machen, die schon über 100 unserer Freunde und Kameraden auf dem Gewissen hat. Gibt es darauf eine Antwort?" Mit dieser Frage hatte Dargon zwar gerechnet, jedoch gehofft, dass sie nicht fallen möge. In Gedanken seufzte er auf. Er würde mit diesem kleinen Kerl ein Gespräch unter vier Augen führen müssen und wenn es nicht zufriedenstellend verlief, sahen seine Chancen nicht sehr gut aus.
"Niemand sprach in diesem Fall von 'Zusammenarbeit'. Habe ich mich klar ausgedrückt? Es gibt keine Zusammenarbeit zwischen uns und dieser Mörderin. Wir nutzen lediglich die Chance, die sich aus ihrer Abwesenheit ergibt. War das deutlich? Du da, wie auch immer du heisst," - er deutete auf den kleinen Halbling - "ich möchte dich gleich im Anschluss bitte in meinem Büro sehen. Wenn es keine weiteren Fragen gibt ist diese Versammlung hiermit geschlossen. Tragt euch unten in die Listen ein und macht euren Job dort gut."
Allgemeines Rumoren zeigte an, dass es tatsächlich keine Fragen mehr gab, und Dargon beobachtete zufrieden die Schlange, die sich langsam an dem Tisch mit den Listen ansammelte. Es war besser gelaufen als er erwartet hatte. Mit diesem Gedanken machte er sich auf den Weg in sein Büro, um dort auf den kleinen Unruhestifter zu warten. Dargon war nicht dafür bekannt sich um andere zu sorgen. Doch der schüchterne Kleine erinnerte ihn irgendwie an einen anderen kleinen Halbling, der vor vielen Jahren in diese Gilde gekommen war. Er wünschte ihm, dass er die richtigen Antworten geben würde. Ein so vielversprechendes Mitglied auf diese Weise zu verlieren, wäre nicht angemessen. Doch er würde so handeln, wie es seine Vorschriften verlangten. So war das Gesetz der Gilde.

Sandmann, der Hafenmeister von Baldurs Tor, wunderte sich. Gleich mehrere merkwürdige Vorkommnisse beanspruchten den Teil seiner Aufmerksamkeit, der nicht mit Schiffen, Kapitänen und anderem beruflichen Kram belegt war. Innerhalb der letzten Wochen hatte die Anzahl der Hafenarbeiter scheinbar stark zugenommen. So viele, wie am heutigen Tag, hatte er noch nie herumlaufen sehen. Wohin man auch sah kräftige, braungebrannte, südländisch wirkende Männer. Er hatte nicht wirklich aufschluß darüber, was genau welcher Hafenarbeiter tat, doch es schien ihm doch übertrieben, das so viele davon herumliefen. Früher waren Hafenarbeiter noch genau in den Mengen vorhanden gewesen, in denen auch Arbeit für sie vorhanden war. Jetzt schienen die meisten von ihnen nur herumzustehen. Müde runzelte Sandmann die Stirn. Anscheinend gab es einfach zu wenig Arbeit in der Stadt. Doch dann schüttelte er den Kopf, und wandte sich anderen Dingen zu.
Am nächstliegenden Kai sah er die "Abraxas", das Schiff von Kapitän Mylus, wie ihm sein Gedächtnis nach kurzer Überlegung mitteilte. Sie war erst vor wenigen Stunden in den Hafen eingelaufen, kurz nach Sonnenaufgang, schien jedoch im Begriff zu sein bereits wieder abzulegen. Sandmann konnte sich nicht erinnern irgendeinen Be- oder Entladevorgang beobachtet zu haben. Segelte Mylus seit neustem um des Segelns willen? Nein, das konnte Sandmann sich nicht vorstellen. Wahrscheinlich handelte er mit hochwertiger Ware, die nur in geringen Mengen verschifft wurde und großen Profit versprach. Je mehr er darüber nachdachte, desto logischer erschien ihm diese Möglichkeit.
Fest davon überzeugt, die Wahrheit erkannt zu haben, machte er sich zufrieden auf den Weg um seinen Rundgang zu vollenden. Bereits nach wenigen Schritten hatte er die "Abraxas" vergessen, doch als er den Namen später in sein Logbuch eintrug, fiel ihm ein, das Kapitän Mylus seit neustem mit seltenen Waren in geringer Menge handelte. Eigentlich befand Sandmann das für eine großartige Idee. Schließlich brachten solche Waren viel Profit, und waren leichter vor Piraten zu verstecken. Ein leicht beladenes Schiff segelte zudem noch viel schneller. Oh ja, Sandmann konnte gut verstehen, weshalb Mylus diese Entscheidung getroffen hatte.
In der luxuriös eingerichteten Kapitänskajüte der "Abraxas" lehnte sich der große, schwarz berobte Mann schweißüberströmt zurück. Er sah auf und blickte den schwarzbärtigen, ihm gegenüber sitzenden, für einen Menschen viel zu groß geratenen Mann an. Mit einem tiefen Atemzug holte er ein Seidendeckchen hervor und breitete es über die auf dem Tisch liegende Kristallkugel. Mit einer für ihn unnatürlichen Geduld, wartete Mylus die Ergebnisse, die sein Schiffszauberer ihm, sobald er sich dazu in der Lage fühlte, mitteilen würde, ab. Schließlich ergriff dieser das Wort:"Es ist vollbracht. Ein hartes Stück Arbeit, diesen starrsinnigen Menschen zu überzeugen, doch er glaubt jetzt das, was ich ihn glauben lassen will."
Mylus' Gesicht verzog sich zu einem grausamen Grinsen.
"Etwas anderes habe ich von dir nicht erwartet, mein hochgeschätzter Arion. Ich kann mir zwar beim besten Willen nicht vorstellen, worin die Schwierigkeit liegt einen Dummkopf wie Sandmann zu beeinflussen, schließlich hast du schon ganz andere Kaliber für mich bewältigt, aber letztendlich hast du deine Aufgabe ja erfüllt und das ist es, was für mich zählt."
Man konnte Arion ansehen, dass er die nächsten Augenblicke damit verbrachte, eine Antwort zu formulieren, die sein Kapitän verstehen würde, denn es war nicht ratsam, gegenüber von Mylus komplexe Erklärungen abzugeben, denn wenn dieser etwas nicht verstand, konnte er sehr aufbrausend werden.
"Nun, das Problem ist schnell beschrieben. Sandmann mag zwar ein dummer Trottel sein, was die meisten Gebiete menschlichen Wissens und Denkens betrifft, doch über Schiffe weiss er alles. Er ist seit über 20 Jahren Hafenmeister in Baldurs Tor, er kennt alle Schiffe die hier verkehren. Und er hat genug Kontakt mit den Kapitänen und Händlern der Schwertküste um eigentlich sehr genau zu wissen, dass das Szenario, das ich ihm eingegeben habe um unsere scheinbar frachtlosen Fahrten zu erklären nie und nimmer zutreffen kann. Meine Arbeit bestand also darin, ihn davon zu überzeugen ohne das er mein Eindringen bemerkte und diese Vorstellung so fest zu verankern, dass er fest davon überzeugt ist und diese Ansicht auch gegenüber jedem Fragesteller vertreten wird." In Mylus' Gehrin schien es ein wenig zu arbeiten, dann verzog sich sein Gesicht zu einem noch breiteren Grinsen. Er hatte verstanden, was sein gelehrter Magus ihm zu verdeutlichen versuchte, und es gefiel ihm sehr gut. Alles was den Plan unterstützte und weiterbrachte gefiel Mylus. Denn alles, was den Plan näher an seine Verwirklichung brachte, gefiel Cyric. Und Cyrics Wohlgefallen zu erlangen war das oberste Gebot. So hatten es die Priester erklärt.

Mit einem Satz sprang Misa auf. Sie kam zu keinem Ergebnis. Es hatte eindeutig keinen Sinn, weiter hier herumzusitzen und die Zeit mit Gegrübel zu vertun. Schwungvoll öffnete sie die Tür ihres Wandschrankes, und machte eine Bestandsaufnahme. Überrascht bemerkte sie, dass die meisten ihrer Verkleidungen trotz der langen Zeit, in der sie sie nicht benutzt hatte noch völlig intakt waren. Nach einigem Überlegen entschied sie sich schließlich für ein weinrotes Kleid mit langen Trompetenärmeln und geschlitztem Rock. Auch wenn das weinrot perfekt zu ihren schwarzen Haaren passte, war das Aussehen nicht der wahre grund für ihre Wahl. In den langen, weiten Ärmeln konnte sie ohne Probleme die Armscheiden für ihre Wurfdolche anbringen, durch den Schlitz im Fall des Falles blitzschnell an ihr gefährliches Rapier kommen, ohne das ihre Bewaffnung, wenn sie das Haus verließ irgendjemandem auffallen würde. Zudem waren beide Ärmel und der Rock so präpariert, dass sie sie in Windeseile herunterreißen konnte, und dann sozusagen nur noch eine Art Tunika am Leibe trüge mit der er sich in einer aussichtslosen Situation wesentlich besser rennen und kämpfen ließ, als in dem langen, ungeeigneten Kleid. Vor dem Spiegel steckte sie sich noch die Haare, die sonst immer straff nach hinten gebunden waren, ein wenig zusammen, genau wie es zur Zeit unter den jungen Damen der Stadt üblich war.
Sie musterte sich selbst noch einmal mit kritischem Blick und beschloß, dass man sie in dieser Aufmachung wohl kaum beachten, geschweige denn erkennen würde. Mit einem kleinen geflochtenen Korb verließ sie iht Zimmer - nicht wie gewohnt durch das Fenster, sondern durch die Tür was ein komisches Gefühl in ihr aufsteigen ließ. Leise lachte sie vor sich hin. Es war wahrhaftig eine lange Zeit vergangen, seitdem sie ihre Wohnung das letzte Mal bei Tag verlassen hatte. Doch das, das schwor sich Misa, würde sich bald ändern. Fast hatte sie vergessen, wie schön die Intrigenspielerei, das Verkleiden und die Hinterlist waren. Die Halblinge hatten ihr im Grunde genommen nichts weiter als einen Dienst erwiesen, als sie sie auf diese Art und Weise ins wahre Leben zurückholten.
Als sie auf die Straße hinaustrat wurde Misa ziemlich schnell bewusst, dass die letzten Jahre ihre Spuren hinterlassen hatte. Krampfhaft musste sie sich selbst daran hindern, sich in den Schatten entlangzuschleichen, eng an die Häuserwände gedrückt. Während sie so tat, als wenn sie die Angebote eines Straßenhändlers in Augenschein nahm, beobachtete sie einige andere junge Mädchen. Kurz darauf setzte sie ihren Weg fort, allerdings nur mit dem lässigen, sich in den Hüften wiegenden Schritt, den sie zuvor bei den anderen beobachtet hatte. Um zu überleben, musste man anpassungsfähig sein, und Misa war sehr anpassungsfähig. Beobachtete Verhaltensweisen nachzuahmen, gehörte zu ihren leichtesten Übungen. Mit gespitzten Ohren setzte sie ihren Weg zum Marktplatz hin fort, hielt unterwegs bei diesem und jenem Händler an, um eventuell Neuigkeiten aus deren Gesprächen mit ihren Kunden erlauschen zu können, und hielt zugleich ein wachsames Auge auf ihre Umgebung. Auch wenn ihre Tarnung perfekt war - man konnte nie wissen. Und Unvorsicht führte noch immer zu einem frühen Tod.