Deirdre sah, wie das Morgengrauen über die Berge kroch und der Himmel sich
in zarten Pastelltönen färbte. Der Sommer war vorbei, das spürte sie. In
den nächsten Wochen würden die ersten Herbststürme über die Zinnen und
Türme des Schlosses fegen. Die meisten Schlafsäle der Slyterins lagen
unterirdisch, doch einige wiesen zum Verbotenen Wald hinaus, der sich
soweit erstreckte, wie das Auge sehen konnte. Zum Glück musste sie ihr
Schlafzimmer nicht mit Pansy Parkinson teilen. Diese hatte das Gesicht und
das Auftreten einer Vettel, und scheinbar war es ihr liebster Zeitvertreib,
kleinere und schwächere Kinder zu quälen. Deirdre hatte gute Miene zum
bösen Spiel gemacht, als Pansy einer Ravenclaw die Zöpfe anzündete, was
Pansy davon überzeugt hatte, ihr zu bescheinigen, dass sie das Zeug zu
einer echten Slytherin hatte. Was für eine Ehre!
Deirdre verzog die Mundwinkel zu einem halben Lächeln, als sie barfuss zu ihrem Bett zurückschlich und sich hinlegte. Zwei Minuten später meldete sich der Wecker ihrer einzigen Zimmernachbarin, Sally Caedes. Sally war ein kleines, dürres Mädchen mit dünnen, blonden Haaren und einer leisen Stimme. Deirdre hatte sich anfangs nicht erklären können, wie jemand wie sie in Slytherin landen konnte, doch dann hatte sie bemerkt, was für eine Art Bücher Sally las. Der harmloseste Titel war "Im Gespräch mit den Toten - Wiedergänger und ihre Magie" von M. Azrael.
Gemeinsam mit Sally, die ein Morgenmuffel zu sein schien, begab sich Deirdre in den Waschraum, wo bereits eine Keilerei im Gange war. Millicent Bullstrode hielt ein anderes Mädchen im Schwitzkasten und ließ diese erst gehen, als ihr Gesicht blau anlief. Deirdre stellte sich unbehelligt vor einen Spiegel und sah sich an, während sie Katzenwäsche machte. Ihr jüngeres Ich blickte ihr aus tief umschatteten Augen entgegen. Bevor sie mit der Einnahme des Trankes begonnen hatte, hatte sie im Vertrauen auf ihre Fähigkeiten gedacht, dass sie der Verzicht auf Schlaf nicht stören würde. Ein dummer Irrtum. Aber Schlaf bedeutet den Verlust ihrer Konzentration. Sally Caedes würde sicher etwas verwundert sein, wenn sie morgens neben einer Frau aufwachte, die 10 Jahre älter war als sie selbst.
Mit rasenden Kopfschmerzen zog sie sich an und folgte den anderen hinab in die große Halle, wo das Frühstück wartete. Obwohl sie tüchtig zulangte, wusste sie, dass sie weiterhin abnehmen würde. Dennoch schaufelte sie eine zweite und dritte Portion Rührei auf ihren Teller, um sich wenigstens eine kleine Kraftreserve zu schaffen. Der Stühle ihr gegenüber wurden besetzt und als sie aufsah, blickte sie in das Gesicht eines attraktiven Jungen ihres Alters. Er hatte blonde, zurückgegeelte Haare, von denen zwei Strähnen neckisch ins Gesicht gekämmt waren. Seine eisblauen Augen funkelten interessiert, als er leise sagte:
"Zarathus. Das hat hier in Slytherin einen guten Klang. Alter irischer Adel, oder?" Deirdre musste lächeln. Sie mochte den Klang seiner Stimme, obwohl sie wusste, dass er der Sohn eines der gefährlichsten Todesser in England war. Aber gerade das war interessant für sie.
"Ja. Eine reine Linie seit Jahrhunderten", antwortet sie automatisch. Nicht nur, weil er es hören wollte. Sondern weil es ihr in ihrer Kindheit immer wieder eingetrichtert worden war. Eine reine Linie. Gerard und Anne Zarathus, würden auf Druck des Ministeriums bestätigen, dass sie ihre jugendliche Enkelin bei sich aufgenommen hatten, da ihre Eltern bei einem Unglück auf dem Kontinent umgekommen waren. Die Wahrheit kam dieser Lüge so nahe, dass es lächerlich war. "Du bist Draco Malfoy, oder? Im meinem Flügel bist Du eine Berühmtheit."
Das war absolut untertrieben. Er war der Traum aller Slytherin-Mädchen, jung oder alt. Reich, gutaussehend und arrogant. Mit zwei überaus hässlichen, muskulösen Freunden. Fünf Gründe, um ihn zu mögen. Er lächelte geschmeichelt.
"Du weißt, wie man sich Freunde macht, nicht wahr?" erkundigte er sich und reichte ihr die Hand über den Tisch. "Falls es etwas gibt, das ich für Dich tun kann, sag es nur. Nach Deinem Auftritt mit dem Hut gestern bist Du berühmt." Sie gab ihm ebenfalls die Hand. Draco, ganz Gentleman, erhob sich halb und beugte sich über ihre Finger, auf die er einen leichten Kuss hauchte. "Ich darf bemerken, dass Du sehr hübsch bist."
Das ging wirklich runter wie Öl. Er wusste, wie man es machte. Nun ja, im Vergleich zu den Mädchen, die es in Dracos Haus gab, war es nicht allzu schwierig, hübsch zu erscheinen. Mit einem Lächeln griff Deirdre nach ihrer Kaffeetasse und merkte dann, dass jemand hinter ihr stand. Sie drehte sich halb um und musste zu Professor Snape aufblicken, der die Hände in die schmalen Hüften stützte und aussah wie eine zornige Krähe.
"Neue Freunde, Miss Zarathus? Wie nett." Der Kaffee, der in Deirdres Tasse schwamm, schmeckte trotz Milch und Zucker auf einmal viel zu bitter, als sie daran nippte. Es gefiel ihr gar nicht, von diesem Mann abhängig zu sein. Er war zu frostig, als dass sie ihn einschätzen konnte und zu emotionslos, um ihn zu beeinflussen. "Ich bin gespannt, wie Ihnen der Unterricht gefallen wird. Auf welcher Schule waren Sie vorher?"
Es fing schon an. Er versuchte, sie zu verunsichern. Gut, dass sie eine Menge Antworten erfunden hatte, für alle Fragen, die dem Lehrer für Zaubertränke noch einfallen konnten.
"Ich hatte Privatunterricht bei wechselnden Lehrern, da ich mit meinen Eltern viel gereist bin", formulierte sie die Antwort so allgemein, damit sie sich nicht irgendwann in Widersprüche verstricken würde. "Alles hervorragende Pädagogen, das kann ich Ihnen versichern. Meine Großeltern waren jedoch der Meinung, dass ich zu wenige Freunde hätte. Deshalb schickten Sie mich nach Hogwarts."
Snape sah aus, als wolle er das Kreuzverhör fortsetzen, doch dann drehte er sich um und ging zum Lehrertisch. Deirdre seufzte. Die erste Runde war überstanden.
***
Severus beugte sich über den Kessel und ließ eine Prise getrocknetes Bilsenkraut in die dunkelgrüne Flüssigkeit fallen, die daraufhin aufschäumte und die Farbe wechselte. Der Trank war nun durchsichtig, doch auf seiner Oberfläche schwamm eine dünne, bläuliche Schicht, ähnlich wie Öl auf Wasser. Zufrieden griff er nach einer Kelle und rührte noch einmal um. Der scharfe Geruch, der in seinen Aufzeichnungen als typisch für den Iuvenes-Trank beschrieben wurde, wehte ihm entgegen. Durch die hohen Fenster des Kerkers fiel mattes, gelbes Abendlicht, das die Phiolen und Reagenzgläser auf den Tischen und in den Regalen in allen Farben aufleuchten ließ, doch er bemerkte es gar nicht. Wenn ihn einmal die Faszination für etwas gepackt hatte, war es schwer für ihn, sich wieder davon zu lösen.
Es klopfte kurz, dann öffnete sich die Tür und Deirdre Zarathus betrat den Raum. Sie sollte dringend darüber nachdenken, ihre Schuluniform mit einem Schrumpf-Zauber zu belegen, dachte Severus. Sie musste die Kleidung besorgt haben, als sie noch ein paar Kilo mehr gewogen hatte und wenn man davon ausging, dass dies vor nicht allzu langer Zeit gewesen sein musste, dann hatte der Trank einige fatale Auswirkungen auf sie.
"Sind Sie fertig, Professor?" Das klang nicht danach, als wäre sie bereit aufzugeben. Sollte sie sich also mit Elan zugrunde richten. Ihm war es gleich. Neugierig trat sie zu ihm und warf einen Blick in den Kessel. "Das sieht gut aus. Ich habe für so etwas überhaupt kein Talent."
Er antwortete nicht, sondern machte sich daran, den Trank in Flaschen abzufüllen, die er vorsichtig verkorkte. Miss Zarathus sah sich währenddessen in seinem Kerker um, nahm Zutaten und Ausstattung in Augenschein, so als wollte sie irgendetwas aufspüren.
"Was machen Sie da?" fuhr er sie irgendwann an. Ihre Reaktion unterschied sich deutlich von der einer normalen Schülerin, die wahrscheinlich bei seinem Tonfall einen hysterischen Anfall bekommen hätte. Sie stellte lediglich den Glasbehälter mit der Wasserpflanze zurück in das Regal, aus dem sie ihn vorsichtig herausgenommen hatte.
"Entschuldigen Sie. Berufskrankheit." Sie blickte mit gerunzelten Brauen weiter in das Glas. "Diese Echinodorus multisphera ist krank."
"Ich weiß."
"Sie sollten den Ionen-Gehalt des Wassers überprüfen." Als sie bemerkte, dass er langsam ungehalten wurde, beeilte sie sich zu sagen: "Nur so ein Vorschlag. Sie sind der Lehrer."
Severus schwieg. Er hatte es nicht nötig, ihr zu sagen, dass er diesen Gedanken bereit gehabt hatte und ihn am nächsten Tag ausprobieren wollte. Professor Sprout hatte beim Abendessen erzählt, dass Miss Zarathus problemlos mit jeder Art von Pflanzen fertig wurde und Hagrid war hellauf begeistert, dass in seiner Unterrichtsstunde ein Einhorn aufgetaucht war und sich von der Neuen hatte streicheln lassen. Severus konnte sich nicht daran erinnern, dass so etwas jemals an der Schule vorkommen war. Allerdings wusste er nichts über die Spionin des Ministeriums und ihre Vorbildung, deswegen hielt er nichts von den laut werdenden "Ein Wunder!"- Rufen.
"Wie lange haben Sie nicht mehr geschlafen?"
"Nicht, dass Sie es etwas angeht, aber es sind um die 90 Stunden." Sie mied seinen Blick, was ihn neugierig machte. Sonst war sie ein direkter, offener Mensch, doch nun fühlte sie sich anscheinend unbehaglich. Er beschloss, weiter zu bohren.
"Ich kenne keinen normalen Menschen, der so etwas durchsteht", fügte er deshalb hinzu. "Können Sie mir eine Erklärung liefern?"
"Ich bin nicht normal. Einer der Gründe, warum das Ministerium mich auswählte. Sind Sie soweit, Professor?" Mit ungewöhnlicher Hast nahm sie die Flaschen von seinem durch Säuren und misslungene Experimente arg mitgenommenen Tisch und verstaute sie in der Umhängetasche, die sie unter ihrem Mantel trug. "Danke sehr. Gute Nacht."
Eilig verließ sie den Raum und Severus nahm befriedigt zur Kenntnis, sie verunsichert zu haben. Und wo eine Schwäche war, da waren auch andere. Er ließ sich von niemandem mit seiner Vergangenheit erpressen. Das würde Miss Zarathus sehr bald zu spüren bekommen.
***
Deirdre kehrte in den Gemeinschaftsraum der Slytherins zurück, der in den Kerkern lag. Sie durchquerte die Geheimtür, die in einer tristen Mauer verborgen war, mit dem Passwort "Potter stinkt" und fand sich in dem langgestreckten Raum wieder. Grüne Lampen hingen an der Decke und spendeten ein diffuses Licht. Einige Schüler waren ebenfalls noch wach und machten Hausaufgaben oder spielten Schach. Hier nahm es niemand mit der Schlafenszeit ernst und Deirdre vermutete, dass dies an der laxen Einstellung des Hauslehrers seinen Zöglingen gegenüber lag. Draco Malfoy erhob sich aus einem hohen Lehnstuhl, als er sie sah und kam mit einem Lächeln auf sie zu.
"Deirdre", sagte er freundlich und lächelte sie gewinnend an. "Setzt Du Dich noch etwas zu uns?" Er wies auf eine kleine Gruppe, bestehend aus Vincent Crabbe, Gregory Goyle, Millicent Bullstrode und Zabini Blaise. Für einen Moment wollte Deirdre ablehnen und sich in die Einsamkeit ihres Schafzimmers zurückziehen, doch dann überlegte sie es sich anders. Vielleicht konnte sie nützliche Informationen gewinnen. Trotz ihrer Erschöpfung rang sie sich eine freundliche Miene ab.
"Gern. Ich ziehe mir kurz etwas Bequemes an und komme dann herunter."
Mit schweren Beinen meisterte sie die zwei Treppen in ihr Zimmer und schob die Tasche mit dem Trank unter eine lose Bodendiele. Dann ging sie zum Kleiderschrank und öffnete ihn. Zu ihrem Schrecken schauten sie zwei leuchtende Augen aus dem Dämmerlicht an, doch sie erkannte sofort, wer der Besitzer dieses Augenpaares war. Ein Hauself, der sich zwischen ihren Socken versteckte. Er war noch ein Kind und starr vor Angst.
"Komm raus, Kleiner" sagte sie im schweren Dialekt seiner Rasse. "Keine Angst. Wie heißt Du denn?"
Der grüne Elf hopste heraus und schaute sie, noch immer zitternd, bewundernd an.
"Ich heiße Glipp. Bist ein Freund der Elfen, bist Du?" fragte er mit piepsiger Stimme. "Niemals hätte gedacht, dass ein Mensch die Sprache spricht."
"Wo sind Deine Eltern?"
"In der Küche, haben mich gewarnt, dass Slytherin stets Gefahr bedeutet. Andere mich schon geschlagen haben, jawohl, aber Du nicht." Ehe es sich Deirdre versah, hing der Elf an ihrem Unterschenkel und kuschelte sich an sie. "Habe Deinen Schritt gehört und gedacht, Du wärst wie sie."
"Nein", sagte sie leise. "Ich bin nicht wie sie. Und jetzt musst Du gehen. Deine Eltern werden sich sicher Sorgen machen."
"Große Dankbarkeit!" piepste der Hauself und löste sich dann, sichtlich widerstrebend, von ihrem Bein. Er hopste zu Wand und tippte auf drei Steine. Die Ziegel verschoben sich und bildeten einen schmalen Durchgang. "Großes Unglück ist geschehen", sagte Glipp, als er sich noch einmal umdreht und sie besorgt musterte. "Musst auf Dich aufpassen Du, als Freund der Elfen!". Sie hörte ihn nach lange vor sich hin brabbeln, nachdem die Wand sich hinter ihm geschlossen hatte. Lächelnd unddoch ein wenig besorgt zog sie ihren Umhang aus und warf ihn auf ihr Bett. Dann bändigte sie ihre Haare in einen die Ohren bedeckenden Zopf und ging wieder hinunter, darüber nachdenkende, was mit dem "Unglück" gemeint sein konnte. Draco hatte ihr einen Platz neben sich reserviert. Er schien darauf bedacht zu sein, sich gut mit ihr zu stellen, da er jene, die aus einer uralten Zaubererfamilie stammten, besonders schätzte. Höchstwahrscheinlich suchte er Verbündeten. Und so nett er auch sein mochte, sein Gerede über Schlammblütler verursachte ihr jedes Mal Übelkeit. An diesem Abend jedoch gab es ein ganz anderes Thema.
"Ich habe es von Filch", berichtete Millicent Bullstrode. Sie war fast so vierschrötig wie Crabbe und Goyle und neigte zu verspäteter Akne. Obwohl sie brutal und despotisch war, empfand Deirdre Mitgefühl mit ihr. Millicent kam aus einer Familie, in der Fäuste mehr zu sagen hatten als Worte. Wie bei vielen anderen Slytherins prägte ihr gleichgültiges Umfeld den Weg, den sie beschreiten würde. Hier in der Schule und vor allen in diesem Haus lernten sie weder Freundschaft noch Mitleid noch eigenständiges Denken. Es war ein Jammer. Deirdre blickte zu Draco, der, zurückgelehnt und die Beine lässig übereinandergeschlagen, in seinem Sessel saß und zuhörte. "Im Verbotenen Wald gab heute Abend es ein Massaker. Einhörner, Zentauren, Elfen und andere Waldbewohner, alle tot."
Deirdres Atem stockte, doch sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. Der gelangweilte Ton, mit dem Millicent von dem Ereignis berichtete, traf sie hart.
"Ein paar Salatfresser weniger", brummelte Goyle und bewies seinen eingeschränkten geistigen Horizont. Deirdres Finger schlossen sich um die Armlehne ihres Sessels, so dass ihre Gelenke knackten. "Frag mich, ob es Voldemort war."
"Natürlich war es Voldemort", bestätigte Draco überheblich. "Er benutzt den Wald schon seit Jahren als Versammlungsort, das weiß ich von meinem Vater. Voldemort hat keine Angst mehr vor Dumbledore, er tut, was er will."
So und auf ähnliche Weise setzte sich das Gespräch fort. Deirdre hatte ihr Vorhaben, Informationen zu sammeln, längst vergessen. Es gab etwas anderes zu tun.
Deirdre verzog die Mundwinkel zu einem halben Lächeln, als sie barfuss zu ihrem Bett zurückschlich und sich hinlegte. Zwei Minuten später meldete sich der Wecker ihrer einzigen Zimmernachbarin, Sally Caedes. Sally war ein kleines, dürres Mädchen mit dünnen, blonden Haaren und einer leisen Stimme. Deirdre hatte sich anfangs nicht erklären können, wie jemand wie sie in Slytherin landen konnte, doch dann hatte sie bemerkt, was für eine Art Bücher Sally las. Der harmloseste Titel war "Im Gespräch mit den Toten - Wiedergänger und ihre Magie" von M. Azrael.
Gemeinsam mit Sally, die ein Morgenmuffel zu sein schien, begab sich Deirdre in den Waschraum, wo bereits eine Keilerei im Gange war. Millicent Bullstrode hielt ein anderes Mädchen im Schwitzkasten und ließ diese erst gehen, als ihr Gesicht blau anlief. Deirdre stellte sich unbehelligt vor einen Spiegel und sah sich an, während sie Katzenwäsche machte. Ihr jüngeres Ich blickte ihr aus tief umschatteten Augen entgegen. Bevor sie mit der Einnahme des Trankes begonnen hatte, hatte sie im Vertrauen auf ihre Fähigkeiten gedacht, dass sie der Verzicht auf Schlaf nicht stören würde. Ein dummer Irrtum. Aber Schlaf bedeutet den Verlust ihrer Konzentration. Sally Caedes würde sicher etwas verwundert sein, wenn sie morgens neben einer Frau aufwachte, die 10 Jahre älter war als sie selbst.
Mit rasenden Kopfschmerzen zog sie sich an und folgte den anderen hinab in die große Halle, wo das Frühstück wartete. Obwohl sie tüchtig zulangte, wusste sie, dass sie weiterhin abnehmen würde. Dennoch schaufelte sie eine zweite und dritte Portion Rührei auf ihren Teller, um sich wenigstens eine kleine Kraftreserve zu schaffen. Der Stühle ihr gegenüber wurden besetzt und als sie aufsah, blickte sie in das Gesicht eines attraktiven Jungen ihres Alters. Er hatte blonde, zurückgegeelte Haare, von denen zwei Strähnen neckisch ins Gesicht gekämmt waren. Seine eisblauen Augen funkelten interessiert, als er leise sagte:
"Zarathus. Das hat hier in Slytherin einen guten Klang. Alter irischer Adel, oder?" Deirdre musste lächeln. Sie mochte den Klang seiner Stimme, obwohl sie wusste, dass er der Sohn eines der gefährlichsten Todesser in England war. Aber gerade das war interessant für sie.
"Ja. Eine reine Linie seit Jahrhunderten", antwortet sie automatisch. Nicht nur, weil er es hören wollte. Sondern weil es ihr in ihrer Kindheit immer wieder eingetrichtert worden war. Eine reine Linie. Gerard und Anne Zarathus, würden auf Druck des Ministeriums bestätigen, dass sie ihre jugendliche Enkelin bei sich aufgenommen hatten, da ihre Eltern bei einem Unglück auf dem Kontinent umgekommen waren. Die Wahrheit kam dieser Lüge so nahe, dass es lächerlich war. "Du bist Draco Malfoy, oder? Im meinem Flügel bist Du eine Berühmtheit."
Das war absolut untertrieben. Er war der Traum aller Slytherin-Mädchen, jung oder alt. Reich, gutaussehend und arrogant. Mit zwei überaus hässlichen, muskulösen Freunden. Fünf Gründe, um ihn zu mögen. Er lächelte geschmeichelt.
"Du weißt, wie man sich Freunde macht, nicht wahr?" erkundigte er sich und reichte ihr die Hand über den Tisch. "Falls es etwas gibt, das ich für Dich tun kann, sag es nur. Nach Deinem Auftritt mit dem Hut gestern bist Du berühmt." Sie gab ihm ebenfalls die Hand. Draco, ganz Gentleman, erhob sich halb und beugte sich über ihre Finger, auf die er einen leichten Kuss hauchte. "Ich darf bemerken, dass Du sehr hübsch bist."
Das ging wirklich runter wie Öl. Er wusste, wie man es machte. Nun ja, im Vergleich zu den Mädchen, die es in Dracos Haus gab, war es nicht allzu schwierig, hübsch zu erscheinen. Mit einem Lächeln griff Deirdre nach ihrer Kaffeetasse und merkte dann, dass jemand hinter ihr stand. Sie drehte sich halb um und musste zu Professor Snape aufblicken, der die Hände in die schmalen Hüften stützte und aussah wie eine zornige Krähe.
"Neue Freunde, Miss Zarathus? Wie nett." Der Kaffee, der in Deirdres Tasse schwamm, schmeckte trotz Milch und Zucker auf einmal viel zu bitter, als sie daran nippte. Es gefiel ihr gar nicht, von diesem Mann abhängig zu sein. Er war zu frostig, als dass sie ihn einschätzen konnte und zu emotionslos, um ihn zu beeinflussen. "Ich bin gespannt, wie Ihnen der Unterricht gefallen wird. Auf welcher Schule waren Sie vorher?"
Es fing schon an. Er versuchte, sie zu verunsichern. Gut, dass sie eine Menge Antworten erfunden hatte, für alle Fragen, die dem Lehrer für Zaubertränke noch einfallen konnten.
"Ich hatte Privatunterricht bei wechselnden Lehrern, da ich mit meinen Eltern viel gereist bin", formulierte sie die Antwort so allgemein, damit sie sich nicht irgendwann in Widersprüche verstricken würde. "Alles hervorragende Pädagogen, das kann ich Ihnen versichern. Meine Großeltern waren jedoch der Meinung, dass ich zu wenige Freunde hätte. Deshalb schickten Sie mich nach Hogwarts."
Snape sah aus, als wolle er das Kreuzverhör fortsetzen, doch dann drehte er sich um und ging zum Lehrertisch. Deirdre seufzte. Die erste Runde war überstanden.
***
Severus beugte sich über den Kessel und ließ eine Prise getrocknetes Bilsenkraut in die dunkelgrüne Flüssigkeit fallen, die daraufhin aufschäumte und die Farbe wechselte. Der Trank war nun durchsichtig, doch auf seiner Oberfläche schwamm eine dünne, bläuliche Schicht, ähnlich wie Öl auf Wasser. Zufrieden griff er nach einer Kelle und rührte noch einmal um. Der scharfe Geruch, der in seinen Aufzeichnungen als typisch für den Iuvenes-Trank beschrieben wurde, wehte ihm entgegen. Durch die hohen Fenster des Kerkers fiel mattes, gelbes Abendlicht, das die Phiolen und Reagenzgläser auf den Tischen und in den Regalen in allen Farben aufleuchten ließ, doch er bemerkte es gar nicht. Wenn ihn einmal die Faszination für etwas gepackt hatte, war es schwer für ihn, sich wieder davon zu lösen.
Es klopfte kurz, dann öffnete sich die Tür und Deirdre Zarathus betrat den Raum. Sie sollte dringend darüber nachdenken, ihre Schuluniform mit einem Schrumpf-Zauber zu belegen, dachte Severus. Sie musste die Kleidung besorgt haben, als sie noch ein paar Kilo mehr gewogen hatte und wenn man davon ausging, dass dies vor nicht allzu langer Zeit gewesen sein musste, dann hatte der Trank einige fatale Auswirkungen auf sie.
"Sind Sie fertig, Professor?" Das klang nicht danach, als wäre sie bereit aufzugeben. Sollte sie sich also mit Elan zugrunde richten. Ihm war es gleich. Neugierig trat sie zu ihm und warf einen Blick in den Kessel. "Das sieht gut aus. Ich habe für so etwas überhaupt kein Talent."
Er antwortete nicht, sondern machte sich daran, den Trank in Flaschen abzufüllen, die er vorsichtig verkorkte. Miss Zarathus sah sich währenddessen in seinem Kerker um, nahm Zutaten und Ausstattung in Augenschein, so als wollte sie irgendetwas aufspüren.
"Was machen Sie da?" fuhr er sie irgendwann an. Ihre Reaktion unterschied sich deutlich von der einer normalen Schülerin, die wahrscheinlich bei seinem Tonfall einen hysterischen Anfall bekommen hätte. Sie stellte lediglich den Glasbehälter mit der Wasserpflanze zurück in das Regal, aus dem sie ihn vorsichtig herausgenommen hatte.
"Entschuldigen Sie. Berufskrankheit." Sie blickte mit gerunzelten Brauen weiter in das Glas. "Diese Echinodorus multisphera ist krank."
"Ich weiß."
"Sie sollten den Ionen-Gehalt des Wassers überprüfen." Als sie bemerkte, dass er langsam ungehalten wurde, beeilte sie sich zu sagen: "Nur so ein Vorschlag. Sie sind der Lehrer."
Severus schwieg. Er hatte es nicht nötig, ihr zu sagen, dass er diesen Gedanken bereit gehabt hatte und ihn am nächsten Tag ausprobieren wollte. Professor Sprout hatte beim Abendessen erzählt, dass Miss Zarathus problemlos mit jeder Art von Pflanzen fertig wurde und Hagrid war hellauf begeistert, dass in seiner Unterrichtsstunde ein Einhorn aufgetaucht war und sich von der Neuen hatte streicheln lassen. Severus konnte sich nicht daran erinnern, dass so etwas jemals an der Schule vorkommen war. Allerdings wusste er nichts über die Spionin des Ministeriums und ihre Vorbildung, deswegen hielt er nichts von den laut werdenden "Ein Wunder!"- Rufen.
"Wie lange haben Sie nicht mehr geschlafen?"
"Nicht, dass Sie es etwas angeht, aber es sind um die 90 Stunden." Sie mied seinen Blick, was ihn neugierig machte. Sonst war sie ein direkter, offener Mensch, doch nun fühlte sie sich anscheinend unbehaglich. Er beschloss, weiter zu bohren.
"Ich kenne keinen normalen Menschen, der so etwas durchsteht", fügte er deshalb hinzu. "Können Sie mir eine Erklärung liefern?"
"Ich bin nicht normal. Einer der Gründe, warum das Ministerium mich auswählte. Sind Sie soweit, Professor?" Mit ungewöhnlicher Hast nahm sie die Flaschen von seinem durch Säuren und misslungene Experimente arg mitgenommenen Tisch und verstaute sie in der Umhängetasche, die sie unter ihrem Mantel trug. "Danke sehr. Gute Nacht."
Eilig verließ sie den Raum und Severus nahm befriedigt zur Kenntnis, sie verunsichert zu haben. Und wo eine Schwäche war, da waren auch andere. Er ließ sich von niemandem mit seiner Vergangenheit erpressen. Das würde Miss Zarathus sehr bald zu spüren bekommen.
***
Deirdre kehrte in den Gemeinschaftsraum der Slytherins zurück, der in den Kerkern lag. Sie durchquerte die Geheimtür, die in einer tristen Mauer verborgen war, mit dem Passwort "Potter stinkt" und fand sich in dem langgestreckten Raum wieder. Grüne Lampen hingen an der Decke und spendeten ein diffuses Licht. Einige Schüler waren ebenfalls noch wach und machten Hausaufgaben oder spielten Schach. Hier nahm es niemand mit der Schlafenszeit ernst und Deirdre vermutete, dass dies an der laxen Einstellung des Hauslehrers seinen Zöglingen gegenüber lag. Draco Malfoy erhob sich aus einem hohen Lehnstuhl, als er sie sah und kam mit einem Lächeln auf sie zu.
"Deirdre", sagte er freundlich und lächelte sie gewinnend an. "Setzt Du Dich noch etwas zu uns?" Er wies auf eine kleine Gruppe, bestehend aus Vincent Crabbe, Gregory Goyle, Millicent Bullstrode und Zabini Blaise. Für einen Moment wollte Deirdre ablehnen und sich in die Einsamkeit ihres Schafzimmers zurückziehen, doch dann überlegte sie es sich anders. Vielleicht konnte sie nützliche Informationen gewinnen. Trotz ihrer Erschöpfung rang sie sich eine freundliche Miene ab.
"Gern. Ich ziehe mir kurz etwas Bequemes an und komme dann herunter."
Mit schweren Beinen meisterte sie die zwei Treppen in ihr Zimmer und schob die Tasche mit dem Trank unter eine lose Bodendiele. Dann ging sie zum Kleiderschrank und öffnete ihn. Zu ihrem Schrecken schauten sie zwei leuchtende Augen aus dem Dämmerlicht an, doch sie erkannte sofort, wer der Besitzer dieses Augenpaares war. Ein Hauself, der sich zwischen ihren Socken versteckte. Er war noch ein Kind und starr vor Angst.
"Komm raus, Kleiner" sagte sie im schweren Dialekt seiner Rasse. "Keine Angst. Wie heißt Du denn?"
Der grüne Elf hopste heraus und schaute sie, noch immer zitternd, bewundernd an.
"Ich heiße Glipp. Bist ein Freund der Elfen, bist Du?" fragte er mit piepsiger Stimme. "Niemals hätte gedacht, dass ein Mensch die Sprache spricht."
"Wo sind Deine Eltern?"
"In der Küche, haben mich gewarnt, dass Slytherin stets Gefahr bedeutet. Andere mich schon geschlagen haben, jawohl, aber Du nicht." Ehe es sich Deirdre versah, hing der Elf an ihrem Unterschenkel und kuschelte sich an sie. "Habe Deinen Schritt gehört und gedacht, Du wärst wie sie."
"Nein", sagte sie leise. "Ich bin nicht wie sie. Und jetzt musst Du gehen. Deine Eltern werden sich sicher Sorgen machen."
"Große Dankbarkeit!" piepste der Hauself und löste sich dann, sichtlich widerstrebend, von ihrem Bein. Er hopste zu Wand und tippte auf drei Steine. Die Ziegel verschoben sich und bildeten einen schmalen Durchgang. "Großes Unglück ist geschehen", sagte Glipp, als er sich noch einmal umdreht und sie besorgt musterte. "Musst auf Dich aufpassen Du, als Freund der Elfen!". Sie hörte ihn nach lange vor sich hin brabbeln, nachdem die Wand sich hinter ihm geschlossen hatte. Lächelnd unddoch ein wenig besorgt zog sie ihren Umhang aus und warf ihn auf ihr Bett. Dann bändigte sie ihre Haare in einen die Ohren bedeckenden Zopf und ging wieder hinunter, darüber nachdenkende, was mit dem "Unglück" gemeint sein konnte. Draco hatte ihr einen Platz neben sich reserviert. Er schien darauf bedacht zu sein, sich gut mit ihr zu stellen, da er jene, die aus einer uralten Zaubererfamilie stammten, besonders schätzte. Höchstwahrscheinlich suchte er Verbündeten. Und so nett er auch sein mochte, sein Gerede über Schlammblütler verursachte ihr jedes Mal Übelkeit. An diesem Abend jedoch gab es ein ganz anderes Thema.
"Ich habe es von Filch", berichtete Millicent Bullstrode. Sie war fast so vierschrötig wie Crabbe und Goyle und neigte zu verspäteter Akne. Obwohl sie brutal und despotisch war, empfand Deirdre Mitgefühl mit ihr. Millicent kam aus einer Familie, in der Fäuste mehr zu sagen hatten als Worte. Wie bei vielen anderen Slytherins prägte ihr gleichgültiges Umfeld den Weg, den sie beschreiten würde. Hier in der Schule und vor allen in diesem Haus lernten sie weder Freundschaft noch Mitleid noch eigenständiges Denken. Es war ein Jammer. Deirdre blickte zu Draco, der, zurückgelehnt und die Beine lässig übereinandergeschlagen, in seinem Sessel saß und zuhörte. "Im Verbotenen Wald gab heute Abend es ein Massaker. Einhörner, Zentauren, Elfen und andere Waldbewohner, alle tot."
Deirdres Atem stockte, doch sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. Der gelangweilte Ton, mit dem Millicent von dem Ereignis berichtete, traf sie hart.
"Ein paar Salatfresser weniger", brummelte Goyle und bewies seinen eingeschränkten geistigen Horizont. Deirdres Finger schlossen sich um die Armlehne ihres Sessels, so dass ihre Gelenke knackten. "Frag mich, ob es Voldemort war."
"Natürlich war es Voldemort", bestätigte Draco überheblich. "Er benutzt den Wald schon seit Jahren als Versammlungsort, das weiß ich von meinem Vater. Voldemort hat keine Angst mehr vor Dumbledore, er tut, was er will."
So und auf ähnliche Weise setzte sich das Gespräch fort. Deirdre hatte ihr Vorhaben, Informationen zu sammeln, längst vergessen. Es gab etwas anderes zu tun.
