Der Ort, an dem Severus materialisierte, unterschied sich äußerlich kaum von dem, den er gerade verlassen hatte. Dunkler Tann umgab ihn, beschützend und dicht. Obwohl er kaum etwas sehen konnte, fühlte er sich nicht bedroht. Missmutig schaute er auf den Körper in seinen Armen. Seinem Geschmack nach trug er sie zu oft durch die Gegend.

Dummes kleines Mädchen, das sich nicht darüber im Klaren zu sein schien, was sie tat. Er hatte sich für seine Rolle als Spion entschieden, weil er wusste, dass ihn auf der Erde nichts hielt. Er fürchtete sich weder vor Schmerzen noch vor anderen Konsequenzen, die ihn bedrohten, wenn Voldemort sein doppeltes Spiel durchschaute. Deirdre hingegen - . Er schüttelte den Kopf. Sie war zu zerbrechlich, aber gleichzeitig auch zu lebendig, um ihre Seele und ihren Körper einzusetzen.

Unschlüssig setzte er sich in Bewegung und wählte einen kaum sichtbaren Pfad, der zwischen den Bäumen verlief. Seine Stiefel und seine auf dem Waldboden schleifende Robe erzeugten ein Geräusch, das ihm vorkam, als sei es das einzige Lebewesen in diesem Wald. Die Stille um ihn herum war absolut. Fast war es, als wartete etwas, lauerte auf ihn und auf die Last, die er in seinen Armen trug.

Nach einigen hundert Metern lichtete sich der Wald ein wenig und Severus erreichte eine senkrecht abfallende Felskante, die sich vor ihm auftürmte. Hier gab es kein Weiterkommen. Er blickte sich um, nach links und rechts, doch es war nicht zu erkennen, dass der Pfad sich in eine der Richtungen fortsetzte.

Frustriert musste er sich eingestehen, dass er hilflos war. Dumbledore hatte sich geirrt. Es war ein Fehler gewesen, gerade ihn an diesen Ort zu schicken. Vermutlich hätten sich die Elfen jedem anderen Zauberer gezeigt, nur nicht ihm. Er machte sich nicht die Mühe, das Böse, das unzweifelhaft in ihm wohnte, vor der Welt zu verbergen. Und dies hatte genau den Effekt, den er sich wünschte - es schreckte ab. Nur dieses Mal war sein Auftreten vielleicht schuldig daran, dass Deirdre keine Hilfe finden würde.

Doch in diesem kurzen Moment des Selbstzweifels geschah es. Der Fels vor seinen Augen, vorher noch grau und stumpf, begann aus sich heraus zu leuchten, schimmerte silbern und warm. Und wie ein Vorhang aus kostbarer Seide glitt er auseinander und bildete einen schmalen Durchgang, gerade breit genug, um Severus eintreten zu lassen.

Er schluckte trocken und eine plötzliche Scheu befiel ihn, dasselbe Gefühl wie vor so vielen Jahren, als er erstmals die hohen Hallen von Hogwarts betreten und sich in ein Märchenreich versetzt gefühlt hatte. Doch dann mahnte er sich zur Ruhe und betrat den Gang. Argwöhnisch den Felsen über und zu seinen Seiten betrachtend, ging er vorwärts, nahm den einzigen Pfad, der sich ihm eröffnete.

Als er über seine Schulter blickte, sah er, dass der Durchgang zum Wald wieder verschlossen war und ihn überkam nun, gefangen in einer magischen Blase mitten in einem riesigen Felsen, ein erschreckendes Gefühl der Ohnmacht. Die Zeit dehnte sich zu einer Unendlichkeit, in der er nur ging, den Blick starr auf die zurückweichende Wand vor ihm gerichtet und fast verzweifelt versuchte, an nichts zu denken.

Schließlich, als der Knoten in seinem Magen so groß erschien, dass er ihn von innen heraus hätte zersprengen können, öffnete sich der Felsen. Ein blendendes Licht schien ihm entgegen, verlockend und einladend, doch für einen Menschen wie ihn fremd und ungewohnt.

Severus atmete tief durch, dann strebte er entschlossen vorwärts. Es ging nicht um ihn. Er war lediglich dazu auserwählt worden, die Fehler anderer wieder gutzumachen.

Der Himmel über ihm war hellblau und nur einige wenige Wolken trübten die satte Farbe des Firmaments. Er stand am obersten Rand eines weiten, sanft abfallenden Tals, dessen anderes Ende er in der Ferne nur erahnen konnte. Ein lichter Wald mit hohen, gewaltigen Bäumen bedeckte den Boden, Flüsse blinkten wie silberne Schlangen im Licht der Sonne.

Wenn Severus nicht gewusst hätte, dass es Nacht war und er im Inneren eines Berges, er hätte glauben können, dass dies die Wirklichkeit war. Doch das Gefühl, von Magie umgeben zu sein, durchdrang jede Pore seines Körpers, ein Gefühl der reinen, ungetrübten Macht.

Drei Wesen standen vor ihm und warteten. Die Frau in der Mitte war, ebenso wie ihre Begleiter, groß und schlank und von atemberaubender Schönheit. Sie hatte schwarzes Haar und Augen in einem Farbton von dunkler Jade, der Severus sehr bekannt vorkam. Das Lächeln in ihrem alterslosen Gesicht war höflich, aber kühl. Die beiden Elfen neben ihr waren männlich, der eine mit Haar in der Farbe des Eichenlaubs, der andere blond und von fast durchscheinender Gestalt. Er bedachte den Besucher mit einem eisigen, hasserfüllten Blick, der Severus einen Schauer über den Rücken jagte.

Die Elfe trat vor. Keine Regung glitt über ihr Gesicht, als sie mit leiser, angenehmer Stimme sagte:

"Ich bin Vaera. Sie bringen mir meine Tochter. Wie schön."

***

Severus übergab Deirdres schlaffen Körper den Armen des rothaarigen Elben, der sie behutsam davontrug. Er folgte ihr mit dem Blick, bis er die beiden Körper zwischen den Bäumen nicht mehr ausmachen konnte.

Er selbst wurde von Deirdres Mutter und ihrem Begleiter einen anderen Pfad entlang geführt. Je weiter sie in den Wald vordrangen, desto dichter wurde er. Irgendwann blickte Severus nach oben und entdeckte Gestalten, die auf Laufstegen hoch über ihm entlang schritten. Mehr als ein Augenpaar bohrte sich prüfend in ihn, maß seine Gestalt, die so überhaupt nicht in diese Umgebung zu passen schien.

Severus straffte sich und sah hochmütig zurück. Niemals würde er ihnen die Genugtuung verschaffen, ihn verunsichert zu sehen.

Er erntete einen gelinde amüsierten Blick von Vaera, die über die Schulter zu ihm zurück blickte. Ohne es zu wollen, verglich er diese strahlende Erscheinung mit ihrer Tochter, mit dem dünnen, erschöpften Mädchen und der aufsässigen Frau, die er kennen gelernt hatte. Vaera wirkte wie ein Geschöpf aus Glas, ohne Ecken und Kanten, viel zu unnahbar. Er wusste nicht, was Deirdre mit ihrer Mutter verband, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie gut miteinander auskamen.

Elfen sahen, wenn man den Überlieferungen Glauben schenkte, Menschen als ihre Feinde an. War das Kind eines dieser Feinde, das die Hälfte jenes verpönten Bluts in sich trug, in dieser unwirklichen Welt willkommen?

Sie erreichten eine perfekt gerundete Lichtung, die anscheinend ein Versammlungsort war. Eine einzelne, runde Bank aus weißem Marmor stand in dem hohen, satten Gras, das im Rhythmus des leichten Windes sacht wogte. Die Luft schien jedoch die auf der Bank thronenden Anwesenden nicht zu berühren, ihre Gewänder und Haare blieben unbewegt, so als sei ihr Leben verschoben zu den Ereignissen, die sich vor Severus Augen abspielten.

Die Elfen schienen alle dasselbe Alter zu besitzen, doch die Art, mit der sie ihn betrachteten, unterschied sie. Einige betrachteten ihn wohlwollend, so als habe sie die Zeit gelehrt, erst zu sehen und dann zu richten. Andere waren wie Vaeras Begleiter, kühl und abweisend blickten sie ihm entgegen. Es mussten zwei Dutzend von ihnen sein. Und er war allein.

Deirdres Mutter und der andere Elf verließen den Platz an seiner Seite und gingen zu der Bank hinüber. Ihre Füße drückten das Gras kaum nieder, als sie sich setzten.

Severus verschränkte sie Arme und setzte einen betont unbeteiligten Gesichtsaufdruck auf. Er wusste, wie dünn das Eis war, auf dem er stand. Dies war nicht sein Wirkungsbereich, wie etwa Hogwarts, wo seine Position feststand und er sich nicht rechtfertigen musste. Stellvertretend für alle Menschen, die die Bitte um Unterstützung gegen Voldemort an die Elfen gerichtet hatten, stand er hier vor einem unbeugsamen Gericht.

Und Vaeras nächste Worte bestätigten seine Ahnung.

"Nun haben die Zauberer also Sie zu uns geschickt, Severus Snape, um das zu rechtfertigen, was man einer von uns angetan hat. Bringen Sie vor, was Sie uns zu sagen haben."

Severus kämpfte mit dem Impuls seiner Füße, sich umzudrehen und sich so weit wie möglich von den Elfen zu entfernen. Und er gewann. Viele Worte waren niemals seine Art gewesen, doch es ging nicht darum, was er konnte. Es ging darum, was er tun musste.

"Schon seit mehreren Jahrzehnten kämpft die Welt der Zauberer gegen Lord Voldemort, einen schwarzen Magier von unheimlicher Macht, dem es gelungen ist, selbst den Tod zu überwinden. Es ist wahr, wir brauchen Hilfe. Bislang konnten wir alle Wesen, mit denen wir friedlich zusammenleben, schützen und sie sich auf uns verlassen. Doch das ist vorbei durch den feigen Überfall der Todesser auf Waldelfen, Einhörner und Zentauren. Ihre Freundschaft zu uns schwankt. Vielleicht waren wir zu überheblich." Severus atmete tief durch. Er kroch niemals zu Kreuze. Das würde Albus ihm hoch vergüten müssen. Vielleicht mit einem neuen Posten. " Ja, wir waren bestimmt zu überheblich. Und wir wandten uns an Sie, in der Hoffnung, dass Ihre Macht die entscheidende Wende bringt. Deirdre sollte die erste Verbindung zwischen unseren Völkern sein. Was geschehen ist, bedauere ich zutiefst."

"Also tragt Ihr Schuld daran?", wollte der blonde Elf wissen und erhob sich halb, plötzlich sehr emotional.

"Ja", gab Severus zu und plötzlich fühlte er die Last seiner Schuld, die ihn tagtäglich niederdrückte. Für eine kurze Zeit hätte er sie fast vergessen können. Dracos versteinertes Gesicht erschien vor ihm, das Bild von Deirdres leblosem Körper, die Anklage in Sirius Blacks Augen. Ja. Er war schuldig. "Ich wog ab, welchen Wert Deirdre haben könnte. Ob sie wichtig genug war, um meine Tarnung als Dumbledores Spion in den feindlichen Reihen auffliegen zu lassen. Ich traf eine Entscheidung, gefärbt von meiner persönlichen Abneigung gegen sie. Es war falsch und deswegen bin ich hier."

Albus hatte es gewusst. Dem alten Mann war von Anfang an völlig klar gewesen, dass es keinen glaubwürdigeren Vertreter der Menschen geben könnte als einen reumütigen Schuldigen. Die Frage war nur, ob Albus auch eingeplant hatte, dass man ihn womöglich verurteilen konnte. Zu einer ungewissen Strafe.

Aus den Gesichtern der Elfen war nichts zu erkennen. So unbewegt wie der Stein, auf dem sie saßen, blickten sie ihm entgegen. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Severus Snape, wie kalte Angst durch seine Adern kroch.

.....

So, das war Teil 9, nach einer langen Pause entstanden. Ich hoffe, es gefällt Euch und Ihr wartet auf Teil 10? Eure Demetra