Kapitel 16: Alle Ängste werden wahr, und alle Hoffnung muss vergeh'n

Hatte Victor geglaubt, mit Banels Tod die Probleme in seinem eigenen Haushalt behoben zu haben, musste er bald feststellen, dass dem nicht so war. Nicht nur, dass er für den Moment auf einen beflissenen Handlanger zu seiner Unterstützung verzichten musste, bis er ihn durch einen geeigneten Nachfolger ersetzen konnte. Es hatte nach seinem Verschwinden auch verhaltenes Gerede unter der Dienerschaft gegeben. Die von ihm an die Wachen des Schlosses weitergegebene Geschichte hatte sich unter ihnen verbreitet. Die Wächter, die ihn im Kerker gefangen setzen sollten, hatten ihn nirgends im Schloss gefunden und im Zuge der Suche nach ihm, die danach in der ganzen Umgebung einsetzte, kamen, wie beabsichtigt, die unrühmlichen Fakten seiner Vergangenheit ans Licht und wurden überall herum getratscht. Soweit so gut. Als er dann schließlich Tage später gefunden wurde, hatten ihn die Aasfresser schon so zugerichtet, dass seine wahre Todesursache nicht mehr zu erkennen war. Die Bisswunden waren durch Fraßspuren getilgt worden. Dennoch gab es manchem zu denken, dass der Graf keinen Hehl daraus machte, dass er mit Banel in derselben Nacht einen Konflikt gehabt hatte. Gewiss, der Mann hatte kein Recht, seinem Lehnsherren zu drohen, wenn der seine Kritik an ihm zurückwies - aber die Tatsache, dass er noch in derselben Nacht verschwunden war, gab vielen zu denken. Das Geschwätz des Personals interessierte Victor allerdings nicht. Sie mochten tuscheln so viel sie wollten – niemand konnte beweisen, dass er etwas mit dem Verschwinden des Mannes zu tun gehabt hatte. Womit er jedoch nicht gerechnet hatte, war, was das Getuschel auslösen würde. Einige Abende nachdem man Banel gefunden hatte, kam Herbert so geräuschvoll und abrupt in die Bibliothek, wie es seine gegenwärtige Gewohnheit zu sein schien, während Victor in einem Werk über Astronomie las, das er kürzlich erworben hatte. Der junge Mann war sehr ungehalten und wartete nicht erst, bis er an seinen Vater herangetreten war. Er sprach kaum, dass er den Raum betreten hatte. „Du bist für Banels verschwinden verantwortlich! Du hast ihn getötet, gib es zu!", fuhr er seinen Vater aufgebracht an.

Victor schloss das Buch mit einem lauten Geräusch und ließ es achtlos neben sich auf den Sessel fallen. „Er hat bekommen was er verdiente!," entgegnete er finster, die Brauen dicht zusammengezogen, die Stimme ein dunkles Knurren. „Ich lasse mir nicht drohen. Von niemandem! Schon gar nicht von einem dahergelaufenen Sterblichen." „Gedroht? Womit sollte er dir schon drohen können!", hielt Herbert, der sich inzwischen vor seinem Vater aufgebaut hatte, ungläubig dagegen. „Sei nicht einfältig, Herbert!", fuhr Victor seinerseits auf. „Welcher Mensch im Schloss war besser platziert, um zu begreifen, was wir sind, als er? Hätte ich warten sollen, bis er seine Andeutungen, er könnte preisgeben, dass die Gerüchte den Tatsachen entsprechen, wahr macht? Damit er uns alle beide der Vernichtung aussetzen kann? Oder glaubst du allen Ernstes, sie werden nur kommen um mich zu pfählen und dich verschonen?" Der letzte Satz troff nur so vor Sarkasmus. Herbert ignorierte diesen Einwurf. „Was ist mit unserer eisernen Regel? ‚Niemals ein Angehöriger des Personals'? Oder gilt das jetzt auch nicht mehr?", zischte er. „Nach dieser schlecht verhüllten Drohung hatte ich keine andere Wahl!", beharrte Victor grollend. „Ich wiederhole: Er hat bekommen, was er verdiente! Auf diese Weise war er wenigstens noch zu etwas gut, bevor ihn sein Ende ereilte."

„Was soll das jetzt wieder heißen ‚er war noch zu etwas gut'?" Herbert sah seinen Vater fragend an, der jedoch nur mit dem raubtierhaften Anflug eines spöttischen Lächelns zurück starrte. „Oh mein Gott! Du hast dich von ihm genährt?!" Herbert wich erschrocken einen Schritt zurück. Victor kam aufgebracht auf die Beine und funkelte seinen Sohn zornig an. „Nein. Ich habe ihn gejagt! So, wie hinterhältiges, närrisches Biest es verdient! Wie ein Tier hat ihn auch sein Schicksal ereilt." Herbert wich keinen Zoll zurück und hielt dem Blick seines Vaters trotzig stand. „Du hast ihn tatsächlich im Schloss getötet und hinaus geschafft! Wie konntest du nur?" Sein Tonfall troff vor Empörung. „Hast du nicht zugehört? Das habe ich keineswegs." entgegnete Victor ungeduldig. „Er lebte weiß Gott lange genug in diesem Schloss und kannte es trotzdem noch immer mehr schlecht als recht. Welche Herausforderung wäre es schon gewesen, ihn hier zur Strecke zu bringen, wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird? Nein, ich habe mich an unsere Vereinbarung gehalten, sei unbesorgt. Er ist nicht innerhalb der Schlossmauern gestorben, sondern auf der Flucht draußen im Wald." Herbert sah seinen Vater mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. „Hörst du dich eigentlich selbst reden?", entgegnete er bestürzt. „Du stehst hier und gestehst mir kalt, dass du deinen eigenen Handlanger nicht nur getötet, sonder ihn wie Beute gejagt und gehetzt hast! Mit einem Gesichtsausdruck, der mir verrät, dass es dir nicht leid tut, nein, du hast es auch noch genossen!"

„Warum auch nicht? Ist die Jagt nicht ein notwendiger Teil unseres Lebens?", verteidigte sich Victor beharrlich. „Abgesehen davon, es ist nichts Verwerfliches daran, Befriedigung dabei zu empfinden, wenn man ein ekelhaftes Insekt zertritt!", bemerkte er dann kalt. Herbert schüttelte ungläubig den Kopf. „Was ist aus der Sympathie geworden, die du einmal für ihn empfunden hast?", fragte er entsetzt. „Sympathie? Für ihn?" Der Graf lachte hart und bitter auf. „Ein dummer, nutzloser Moment der Schwäche, nicht mehr! Ein Augenblick blinder, geistiger Umnachtung. Und sieh', was er mir eingebracht hat! Er war mir nicht ähnlicher als ein räudiger kleiner Marder einem Wolf! Er war auch niemals eine verwandte Seele, falls es so etwas für Unseresgleichen überhaupt geben kann!" „Ganz gleich, was er war oder nicht war, er hatte es gewiss nicht verdient, so zu Tode zu kommen, wie deine anderen Opfer!", erwiderte Herbert empört. „Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht, mein Sohn." Ein warnender Ton lag nun in Victors Stimme. „Ich mische mich nicht in das ein, was du mit deinen Opfern tust. Also halte dich gefälligst auch aus meinen Angelegenheiten heraus! Wenn dir nicht gefällt, was du siehst, dann solltest du mir besser nicht nachstellen!" „Oh, glaub' mir, ich bin zutiefst dankbar dafür, dass ich dich in dieser Nacht nicht mit ihm sehen musste!" Herbert sprach in erregtem, indigniertem Tonfall. „Es ist bereits unerträglich, dass ich mir lebhaft vorstellen kann, was du mit ihm angestellt hast!" Herbert schüttelte sich wie ein nasser Hund. „Dann solltest du das vielleicht besser nicht tun", antwortete sein Vater ungerührt. Herbert schüttelte traurig und enttäuscht seinen Kopf, und etwas in seinem Gesicht war mit einem Mal verschwunden. „Weißt du, ich dachte du würdest nach unserem Streit neulich ein wenig über meine Worte nachdenken." Er klang plötzlich sehr niedergeschlagen. „Was gibt es darüber nachzudenken? Dein Betragen war ungemein ungebührlich! Du bist mir eigentlich Gehorsam und Respekt schuldig!", polterte der Graf erbost. „Respekt muss man sich verdienen!" entgegnete der junge Mann schnippisch. „Man kann ihn auch verlieren, wenn man sich so benimmt, wie du es gerade tust!" „Welche Vorwürfe möchtest du mir denn diesmal machen? Ist mein Schreibtisch nicht aufgeräumt genug?", erwiderte Victor mit beißendem Sarkasmus. Herbert bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. „Nein. Zumindest nach außen tust du so, als würdest du deinen Pflichten nachkommen. Aber ich weiß, dass es keineswegs aus einem Gefühl der Fürsorge ist, dass du diese neuen Abgaben und Wehrdienste eingeführt hast. Du magst diese Räte glauben lassen, es passiert zu ihrem Wohl. Doch ich weiß es besser! In Wahrheit ist es nur Willkür. Du lässt deinen Zorn und Hass an ihnen aus. Nicht nur an ihnen, am gesamten Personal!" Jedes Wort klang wie eine Anklage. „Was weißt du schon davon? Du mit deinem Hang zur Dramatik!", wehrte Victor kühl ab. „Ich weiß, dass du nicht mehr der Vater bist, den ich mein Leben lang gekannt habe!", schlug Herbert heftig zurück. „Du bist hart und kalt geworden! Du hörst mir weder zu, noch habe ich das Gefühl, dich mit meinen Worten zu erreichen. Das bist nicht mehr du! Mir ist kalt und ich fühle mich unwohl in deiner Nähe. Mehr noch, dein Verhalten deinen Opfern gegenüber ist mir zuwider! Diese armseligen Kreaturen in dieser Ruine im Wald hast du dir einst unterworfen, damit sie nicht das machen, was du jetzt Nacht für Nacht selbst tust!" „Lasse diese haltlosen Anschuldigungen!", fauchte Victor zornig. „Sie sind nicht haltlos! Du glaubst nicht, wie sehr ich mir heute Abend gewünscht habe zu hören, dass nicht du Banel getötet hast." Die Empörung und der Ärger scheinen verschwunden, ersetzt von einer traurigen, widerwilligen Resignation. „Dass du mir sagen würdest, dass du - abgesehen von eurer Meinungsverschiedenheit - nichts damit zu tun hattest. Aber es war töricht, dass auch nur zu hoffen. Du bist nicht mehr, wie du einmal warst. Ich kann es nicht ertragen, wie du dich verhältst! So lange dieser Zustand andauert, möchte ich nichts mit dir zu tun haben, geschweige denn in deiner Nähe sein!" „Was soll das heißen?", entgegnete Victor nun alarmiert. „Ich werde heute Nacht noch abreisen und in unser Stadthaus ziehen", erwiderte sein Sohn ernst. „ Mein Gepäck steht bereit und wird mir bei Tagesanbruch nachgeschickt." „Du wirst was?" Unglaube zitterte in jedem Wort Victors. „Du hast mich gehört. Sobald du wieder zu dir selbst gefunden hast, kannst du mich jederzeit in der Stadtresidenz aufsuchen. Ich werde bereit sein, dir zuzuhören. Und wenn der Tag kommt, an dem du begriffen hast, wie sehr du dich selbst verloren hast, werde ich dich mit offenen Armen empfangen. Aber bis es soweit ist, möchte ich keinen Umgang mit dir!", erklärte Herbert bestimmt. „Mein Sohn und Erbe möchte keinen Umgang mit mir haben!", ereiferte sich Victor erneut. „Genau das sagte ich", kam die ruhige Antwort. „Du willst einfach gehen und mich hier alleine zurück lassen." Es klang wie eine Anschuldigung. „Ich habe dir dargelegt, wieso, Vater. Wenn du den Pfad verlassen kannst, auf dem du jetzt wandelst, kann ich diese Schritte rückgängig machen, aber nicht vorher." Herbert sprach bestimmt und sichtlich gefasst, ganz so, als hätte er mit all dem gerechnet. „So erweist du mir also deine Dankbarkeit? Du, der du mich gebeten hast, ich solle dich nicht in der Dunkelheit allein lassen?! Du bist es jetzt, der sich von mir abwendet." Victor klang vorwurfsvoll und indigniert. „Und du weißt sehr genau warum!", beharrte Herbert weiter. „Ich verstehe schon", knurrte Victor empört. „Ja, ich verstehe nur allzu gut. Dann gehe doch! Verschwinde einfach und lasse mich allein, während ich dich nie mehr gebraucht habe als jetzt! Fröne nur deiner Selbstsucht und lasse mich hier vollkommen allein zurück. Nur zu, tu' dir keinen Zwang an!" Graf von Krolock wurde immer lauter, während er sprach. „Vater, bitte!"

„Ich wusste es!", fuhr Victor ungerührt zornig fort. „Ich habe es immer gewusst, dass diese Nacht irgendwann kommen würde! Ich habe es geahnt! Du solltest es einmal besser haben. Es sollte einmal nicht denselben Weg mit uns gehen, wie mit deinem Großvater und mir! Aber ich habe all die Jahre meine Zeit mit dir vergeudet!" Heftig atmend und sichtbar zitternd stand er Herbert gegenüber. „Nun, du hast das Alter längst hinter dir, in dem du meine Erlaubnis oder meinen Segen gebraucht hättest, nicht war?" Victors Gesichtszüge schienen zu Eis zu erstarren. „ Ich werde dafür sorgen, dass du erhältst, was dir als mein Erbe zusteht! Du kannst tun was immer du willst!" Damit drehte er sich auf dem Absatz herum und verließ seinen Sohn, ohne ihm einen weiteren Blick zu schenken. Er verabschiedete sich nicht von ihm; er reichte ihm weder die Hand, noch gab er ihm eine letzte väterliche Umarmung. Stattdessen verließ Victor das Schloss und obwohl Herbert wartete, so lange es möglich war, kehrte sein Vater nicht zurück. Der junge Mann ging schließlich davon, ohne die Versöhnung, die er sich gewünscht hatte und ohne seinen Vater noch einmal gesehen zu haben.

Victor streifte in dieser Nacht lange durch den Wald, zu aufgebracht und wütend auf Herbert, um zurückzukehren. Doch selbst wenn sein Zorn rasch genug verraucht wäre – er wusste, dass er es niemals fertig gebracht hätte, seine Contenance genug zu wahren, um ruhig dabei zuzusehen, wie sein Sohn sich von ihm abwandte und allein in die Welt hinausging. Herbert hatte nie begriffen, welchen Stellenwert er in Victors Leben einnahm und wie viel er ihm bedeutete. Dass er ihn für den einzigen Verbündeten gehalten hatte, der sich ganz gewiss niemals von ihm abwenden würde. Die einzige Person, von der er tatsächlich geglaubt hatte, sie könnte ihn verstehen. Er hatte erwartet, dass die Vorwürfe verstummen würden, sobald er die ganze Geschichte gehört hatte. Als das Gegenteil der Fall war und er ihm noch dazu erklärte, er wolle wegen seinem Betragen keinen Umgang mehr mit ihm haben, fühlte sich Victor von dem einzigen Wesen verraten, von dem er das immer für unmöglich gehalten hatte. Er hatte geglaubt, dass es für ihn nichts mehr zu verlieren gab – doch nun musste er erkennen, wie sehr er sich getäuscht hatte. Die Zuneigung zwischen ihnen war ihm immer sicher und unerschütterlich erschienen. Nun musste er erkennen, dass das Küken dem Nest offensichtlich endgültig entwachsen war und dieses Nest nun bedenkenlos hinter sich zurücklassen würde. Seine erste Reaktion war Schmerz, doch Zorn folgte auf dem Fuße. Nun, wenn Herbert es wünschte, würde er ihm gewiss nicht im Wege stehen. Sollte er doch sehen, wie lange er alleine zurecht kam. Er, der sich nie mit den unausweichlichen Tatsachen des Lebens beschäftigt hatte. Sollte der Bengel es doch versuchen! Es würde keine sechs Wochen dauern, dann würde er auf Knien zu seinem Vater zurück kriechen, und gestehen, dass er es alleine nicht schaffte. Es war eine Lektion, die schon seit langem überfällig war! Er hatte den Jungen viel zu lange verhätschelt und verwöhnt. Es war höchste Zeit, dies zu ändern! Er wollte gehen? Nur zu. Dann sollte er aber auch alle Konsequenzen tragen, die dies mit sich brachte. Wenn er sich besonnen hatte würde Herbert ihm jederzeit zur Verfügung stehen? Wenn er glaubte, Victor würde den ersten Schritt machen, dann hatte er sich getäuscht. Er hatte es gewiss nicht nötig, sich von seinem eigenen Sohn emotional erpressen zu lassen. Er würde ohne Schwierigkeiten mit seinem Leben fortfahren – auch ohne seinen störrischen, respektlosen Sohn. Alles was seine Abwesenheit bedeutete war, dass es ab jetzt niemanden mehr geben würde, der seine Art, die Dinge zu regeln in Frage stellte, keine Notwendigkeit mehr, sich vor irgendjemand zu rechtfertigen. Victor würde seinen Sohn einfach tun lassen, was ihm in den Sinn gekommen war und darauf vertrauen, dass er schnell genug zurückkehren würde, wenn er sich erst einmal eine Weile lang die Hörner abgestoßen hatte. Lass ihn einfach ein paar ordentliche Bruchlandungen machen und sehen, wie es ihm gefällt. Er wird bald genug reumütig und seine Wunden leckend wieder hier auftauchen! In der Zwischenzeit gab es keinen Grund, warum er nicht das Beste aus der Situation machen sollte, solange sie andauerte. Weshalb sich grämen und trauern? Sein Sohn würde das gewiss nicht tun – weshalb dann er selbst? Beweise ihm, dass es dich nicht kümmert! Raunte eine düstere Stimme aus den dunkelsten Tiefen seines Wesens. Zeig' allen, dass es dich nicht berührt, dass ihre vermeintlichen Strafen an dir abprallen!

In den folgenden Nächten machte er all das wahr. Er war so unleidlich wie er sein wollte und genoss es im Stillen, dass es keine Nörgler mehr gab, die versuchten, ihn davon abzubringen. Wieso versuchen, die Achtung von Menschen zu erhalten, die ihn ohnehin nur als notwendiges Übel betrachteten? Ach, was hieß hier überhaupt erhalten? Ihre Meinung von ihm hatten sie doch schon lange getroffen, allein ob der Tatsache, dass sie argwöhnten, dass bei ihm nicht alles mit rechten Dingen zuging. Was er tat oder unterließ, spielte keine Rolle. Er empfand es fast als befreiend, sich nicht mehr in alte Zwänge zu fügen und einstmals von ihm selbst gehegte und gepflegte Normen abzustreifen oder achtlos zu ignorieren. Victor kam seinen Aufgaben weiterhin nach – alles andere wäre töricht gewesen. Aber es geschah mechanisch, nicht mit der Hingabe, die ihn früher ausgezeichnet hatte. Die Tatsache, dass er noch immer keinen neuen persönlichen Handlanger in seine Dienste genommen hatte, sorgte außerdem dafür, dass es niemanden gab, an den Nörgler sich hätten wenden können. Die wechselnden Bediensteten, denen solche noch immer gelegentlich auftauchenden Personen begegneten, sorgten dafür, dass es keinen festen Ansprechpartner gab, den man auf Vereinbarungen hätte festnageln oder der unter Bitten nachgeben konnte. Für eine Weile genoss er die Ruhe, das Novum der einzige Bewohner des Schlosses zu sein und zu tun, was immer ihm in den Sinn kam.

Wo es im letzten Jahrhundert seine Gewohnheit gewesen war, das Schloss so wenig wie möglich zu verlassen und die Nähe der Menschen zu scheuen, unternahm er schon bald Streifzüge, die ihn weit von seinem Schloss fortführten. Er hatte sich an die streng durchgeplante und diszipliniert durchgeführte Reise mit Herbert zur Stadtresidenz erinnert, der Unsicherheit, was ihre Unterkünfte bei Tage betraf. Jetzt, da ihn keine Konsequenz mehr schreckte, begann er sich häufiger auf solche abenteuerlichen Ausflüge einzulassen. Auf dem braunen Wallach, der sein gegenwärtiges Reitpferd war, zog er los und kehrte irgendwo ein, ehe der Morgen graute. Bei Einbruch der Dämmerung brach er wieder auf. Die Erfahrung lehrte ihn, wie einfach es war. Es brauchte nicht zwangsläufig einen Sarg. Auf Reisen taten es Klappläden und das ohnehin vorhandene schwere Bettzeug ebenso, um vor der Sonne sicher zu sein. Ein vorgelegter Riegel sorgte dafür, dass er nicht gestört wurde. So wurden die Gelegenheiten, bei denen Graf von Krolock für einige Tage nicht in seinem Schloss weilte, wieder häufig genug, dass es schon bald nichts Ungewöhnliches mehr war.

So durchstreifte nur einige Wochen später ein gut gekleideter Fremder die Straßen eines kleinen Städtchens. Es war weder besonders wohlhabend, noch besonders groß. Der einzige Vorzug, der es auf seine gegenwärtige Größe hatte anwachsen lassen, war die Tatsache, dass es auf einer von Händlern gern benutzten Route lag. Das hatte allerlei Gewerbe angelockt, das sich den verschiedenen Bedürfnissen der Reisenden widmete. Obwohl es schon fast dunkel war, flanierten auch einige Dirnen noch entlang der Hauptstraßen umher. Eine von ihnen, eine auffällige Erscheinung mit einer Mähne von dunklem Kupfer, bemerkte den Fremden zuerst. Es war seine Kleidung die ihn verriet – schlicht gehalten, aber von zu guter Qualität. Ihr nächster Blick musterte ihn abschätzend. Er war nicht nur gut gekleidet, er war auch ansehnlich. groß und schlank, das Gesicht etwas hager, mit streng zurückgebundenem dunklen Haar. Was sie sah gefiel ihr und so schlenderte sie wie zufällig in seine Richtung. Als sie bei ihm angekommen war, streifte sie ihn wie zufällig und sah dann zu ihm auf. „Guten Abend, Herr. Ich sehe, Ihr seid neu hier. Steht Euch der Sinn vielleicht nach ein wenig Gesellschaft?" Sie schenkte ihm ihr gewinnendes und ein wenig anzügliches Lächeln. Er betrachtete sie einen Moment eingehend und die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. „Vielleicht. Aber nicht nach vollen Schankstuben und der gleichen", erwiderte er dann bestimmt. Ihr Lächeln wurde, wenn das möglich war, sogar noch ein wenig breiter. „Oh, wisst Ihr, Herr, ich mache mir ehrlich gesagt auch nicht allzu viel aus vollen Schankstuben. Jemand wie Ihr wäre einem einsamen Herzen wie mir vollkommen genug." Sie legte ihm verschwörerisch die Hand auf den Arm. „Der Abend ist noch jung. Ein Spaziergang zu zweit vertreibt die Einsamkeit sicherlich besser als ein Abend in einer lärmigen Schenke, in der man sich selbst nicht mehr denken hört – und wer weiß? Vielleicht habe ich ja ein stilles Kämmerchen, wenn es Euch hier draußen irgendwann zu kühl wird und Euch meine Gesellschaft zusagt"

Er lachte leise und sie war ehrlich erfreut über das kleine Lächeln, dass sie ihm abgerungen hatte. Aber es lag ein wissender Blick in seinen Augen. „Für einen Preis, nehme ich an", entgegnete er trocken. Sie zuckte kokett die Schultern und zog einen gespielten Schmollmund. „Ach, Herr, wir alle müssen Leben. Obwohl man bei einem so hübschen Exemplar wie Euch schon mal schwach werden könnte – aber darf ein einsames Mädchen nicht auch Geschäft und Vergnügen gelegentlich verbinden?" Erneut sein leises Lachen, auch wenn die Heiterkeit diese kühlen Augen nicht erreichte, wie sie feststellte. Aber es tat seiner Anziehungskraft keinen Abbruch, im Gegenteil. „Du bist sehr direkt und ehrlich. Das gefällt mir. Nun gut." Er hob eine Hand und zwischen die Fingerspitzen von Zeige- und Mittelfinger geklemmt blitzte eine Münze im Dämmerlicht der Straße auf, die sie überrascht als Silberstück erkannte. Damit konnte sie die Miete für ihr Zimmer für einige Wochen bezahlen. „Das hier gehört dir, im Austausch für deine Gesellschaft heute Abend, so lange ich es wünsche." Er legte den Kopf schief und sah sie von der Seite her an. „Und es werden keine Fragen gestellt", fügte er dann hinzu.

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Für so einen fürstlichen Preis, vergesse ich hinterher sogar, dass wir uns begegnet sind, Herr." Er betrachtete sie mit einem Ausdruck, den sie nicht einordnen konnte. Belustigung war ein Teil davon, aber da war noch etwas anderes, Gefährlicheres, das sie nicht einzuordnen vermochte. Aber es zog sie umso stärker an, was sie fast ein wenig vor sich selbst erschreckte. Sie verdiente ihren Unterhalt zu lange auf diese Weise, als dass sie noch naiv oder unvorsichtig gewesen wäre, aber ihn hätte sie sich für alle Warnungen der Welt nicht entgehen lassen, auch ohne das Silber. Er hielt es ihr jetzt mit der ausgestreckten Hand entgegen. Sie nahm es an und ließ es in ein diskretes, in ihr Mieder eingenähtes Beutelchen gleiten. „Habt Ihr keine Angst, dass ich mich davon machen könnte, ohne meinen Teil der Abmachung zu erfüllen?", fragte sie spitzbübisch und hakte sich bei ihm unter. Als sie zu ihm hinüber schaute, umspielte erneut dieser belustigte Zug seinen Mund. „Liebchen, ich bin mir vollkommen sicher, dass dein einsames Herz dich davon abhalten wird!"

Mit der Prostituierten am Arm schlenderte Victor durch die Straßen der Stadt. Er musste es zugeben, sie war eine angenehme Gesellschaft, kannte viele amüsante Gerüchte und Geschichten über die Stadt und ihre bekannteren Einwohner. Der geeignete Stoff für eine vergnügliche, oberflächliche, unterhaltsame Plauderei mit jemandem, der diesen Ort noch nicht besucht hatte. Für ihre Lebensumstände war sie überraschend witzig und geistreich. Tatsächlich fand er sie begehrenswert und appetitlich in mehr als nur einer Hinsicht. Aber ihr Geist hatte die größte Anziehungskraft für ihn und er schwelgte in Vorfreude darauf, wie es sein würde, sie auszukosten, wie einen seltenen, exzellenten Jahrgang über den man rein zufällig gestolpert ist. Aber er genoss die süße Qual der Erwartung und des Verlangens, während sie gemeinsam durch die dunkler werdenden Straßen flanierten. Es war noch zu früh… Diese Beute hatte er nicht ausgewählt, weil sie eine einfach zu erreichende Blutquelle war oder ein Bauernopfer, das das Schicksal ihm in den Weg gestoßen hatte. Sie hatte ihn ausgesucht. Sie hatte geglaubt, dass sie ihn ergattert hatte – und er hatte diese Ironie so verlockend gefunden, dass er darauf eingegangen war. Aber der Rest dieser Sterblichen waren ebenso verlockend und zum ersten Mal in seiner Existenz als Vampir gab er einem dunklen Verlangen nach, das alle Gelüste des Vampirs mit der eines Mannes zu verbinden schien. Entschlossen ihm zu folgen und herauszufinden, wohin es ihn führen würde. So ließ er sie in dem Glauben, dass sie ihn verführte, dass sie ihn wider besseres Wissen von sich überzeugt hatte, ohne zu wissen, dass sie ihm hoffnungslos verfallen war, ohne sich dessen bewusst zu sein…

Die Dunkelheit breitete sich vollends über den Straßen aus und die Menschen verschwanden mehr und mehr ins innere der Häuser, während Victor sich noch immer scheinbar ziellos von seiner Begleiterin durch die Straßen und Gässchen führen ließ. Doch ihm war nicht entgangen, dass sie allmählich unmerklich dem ärmeren Stadtteil zu strebte. „Es wird zunehmend kühler, Herr", hauchte sie schließlich auf eine mehrdeutige Art. Er hatte erwartet, dass sie bald zur Sache kommen würde. Er hatte es einfach genug für sie gemacht. „Wenn Ihr möchtet, kann ich Euch einen kleinen Empfang in meiner bescheidenen Bleibe anbieten. Es ist vielleicht nicht so elegant wie das, was Ihr sicherlich gewohnt seid, aber gemütlich." Sie schenkte ihm ein vielsagendes Lächeln und ließ ihren Blick wohlgefällig an ihm hinab wandern. Victor sah sich um. Nicht weit von ihnen entfernt bildeten die verlassenen, miteinander verbundenen Laubengänge mehrere Häuser, ein schattiges Refugium. Die Geschäfte dahinter waren bereits geschlossen und die Klappläden fest verschlossen. „Nicht nötig. Es gibt andere Möglichkeiten – und ich habe nicht vor, dich den ganzen Abend aufzuhalten." Sie lächelte ihn spitzbübisch an. „So einer seid Ihr also, Herr. Das hätte ich Euch gar nicht zugetraut. Nun, wieso nicht? Ich habe nichts dagegen." Er fasste ihr Handgelenk und zog sie in den dunkelsten Teil des Bogengangs. Dort angekommen drängte er sie in eine etwas geschützte Mauernische. Noch schien sie nichts zu ahnen. Er hörte zwar, dass ihr Herzschlag sich beschleunigte, aber sie roch nicht nach Angst. Was für ein kapriziöses Geschöpf sie war. Stattdessen lächelte sie ihm spitzbübisch zu. „Plötzlich so ungeduldig?" Eine ihrer Hände hob sich und strich ihm neckisch über die Wange. „Oh, keineswegs ungeduldig, Liebchen. Im Gegenteil. Ich habe den ganzen Abend die Vorfreude ausgekostet." „Tatsächlich? Wieso habt Ihr mich dann glauben lassen, ich müsste Euch verführen, wenn Ihr bereits Appetit auf mehr hattet?" Ihre Hände begannen besitzergreifend über seine Brust zu wandern, und mit einer stürmischen Geste drängte er sie beide dichter an die Wand, sein Unterleib dicht an ihrem. „Vergnügen hat nichts mit sofortiger Befriedigung zu tun. Solltest du das nicht am besten wissen?" Er senkte die Stimme bei diesen Worten zu einem rauen Murmeln. Sie drängte sich ihm bereitwillig entgegen, schlang ihre Arme um ihn und begann genüsslich seinen Rücken hinauf und hinunter zu wandern. Der Druck ihrer Hände dabei verriet, dass sie ihn wollte. „Die meisten Männer kommen viel schneller zur Sache als Ihr, Herr", hauchte sie entzückt. „Wenn es mehr wie Euch gäbe, wäre es wohl ein viel angenehmerer Broterwerb." Seine Hände glitten bestimmt ihre Flanken entlang und streiften wie zufällig ihre Brust. „Ich glaube nicht, dass du weißt, was du sagst, Kleines. Aber wenn deine üblichen Kunden nur darauf aus sind, dir so schnell wie möglich die Röcke zu heben, sind sie Narren." Während er sprach, rieb er die Stelle, unter der man ihre Brustwarzen durch ihre dünne Kleidung fühlen konnte. Sie atmete jetzt heftig und drängte sich ihm entgegen. Auch er war für diese Situation nicht unempfänglich und kostete das Lustgefühl aus, das ihr warmer Körper so nahe dem seinem hervor rief. Aber er wollte mehr von ihr und nicht zwangsläufig das, was sie erwartete. Sie reckte sich ihm entgegen, ihre Augen wanderten zu seinen Lippen und richteten und suchten dann wieder seinen Blick. Er begriff, dass sie ihn küssen wollte, reagierte aber zunächst nicht, da er davon ausging, dass sie ihrem Gewerbe schon zu lange nachging, um einen solchen Fehler zu begehen. Erst als sie seine Lippen fast berührte, bog er den Kopf demonstrativ zurück, packte ihren Nacken und hielt sie zurück. „Nein", flüsterte er mit Nachdruck. „Das ist für jemand besonderen. Vergnügen aneinander können wir auch haben ohne so persönlich zu werden." Für einen Moment glomm etwas in ihren Augen auf, als sie begriff, was seine Worte nahelegten. „Geschäft und Vergnügen – du erinnerst dich? Das ist genug. Tue uns beiden einen Gefallen und mach es nicht kompliziert", flüsterte er bestimmt und bog ihren Hals zur Seite, um sie auf die so entblößte Haut zu küssen. Ein leises Stöhnen war sein Lohn und er setzte abwechselnd weitere Küsse sowie kleine Bisse. Folgte der Linie ihres Halses, als sie sich in seine Liebkosung lehnte. Er atmete jetzt selbst heftig - physisches Verlangen mischte sich mit der noch größeren Lust nach ihrem Blut und all dem, was es mit sich brachte und er kostete die Empfindung ein wenig länger aus. Genoss die Tatsache, dass sie förmlich Wachs in seinen Händen war. Da war sie schließlich, die Stelle, unter der die Ader dicht unter ihrer Haut pulsierte. Die Begierde war schier unerträglich und er erlaubte sich endlich den Moment, für den der ganze Abend nur bloßes Vorspiel gewesen war. Seine Reißzähne gruben sich genüsslich in den bereitwillig dargebotenen Hals. Sie keuchte und drängte ihren Unterleib noch fester an ihn und er stöhnte ebenfalls, als er den ersten tiefen Zug nahm. Es war unbeschreiblich – intensiver als alles, was er zuvor erlebt hatte. Die Grundzüge waren dieselben, das süße Leben, das ihn durchströmte. Aber der Rest? Sie präsentierte ihm all ihre Gefühle bereitwillig auf einem Silbertablett und er nahm es genüsslich an, dieser seltene Jahrgang, über den er unerwartet gestolpert war und nach dem er den ganzen Abend verlangt hatte. Ihr Geist lag mit einer Offenheit vor ihm, die er erst einmal erlebt hatte. Und er nahm es gierig an, verlor sich darin, alles über sie zu wissen und zu fühlen. Die Erfahrungen eines ganzen Lebens, eine Essenz aus Geschmack, Berührung und Gefühl. Schluck für Schluck, einen nach dem anderen, während sie sich ihm mit allem was sie hatte, vollkommen hin gab. Mehr! Er wollte mehr. Eine Welle heftigen, rauschhaften Entzückens durchströmte ihn, als ihr Herzschlag nach jenem taumelnden Rhythmus schließlich plötzlich aufhörte. Heftig atmend löste er sich von ihr und sah mit einem Lächeln voller dunkler Befriedigung auf sie herab. Herberts Worte ergaben endlich einen Sinn. Es konnte für beide Seiten angenehm sein. Sie hatte es ihm bewiesen. Doch so groß das Vergnügen gewesen war, das dieses Erlebnis ihm bereitet hatte – es änderte nichts. Er blieb, was er war - gefangen in einer Existenz, die er nie gewählt hatte und aus der es kein Entrinnen gab. Verraten von allem, was ihm einst wichtig gewesen und an das er geglaubt hatte. Sollte er deshalb anfangen, seine Opfer zu lieben? Nur, weil sie ihm das einzige Vergnügen bescherten, das es in seinem Leben gab? Lächerlich! Schuldig oder unschuldig – jenem angeblich allmächtigen, gleichgültigen Beobachter war es ohnehin alles gleich. Diese elende Welt war nicht gerecht. Wieso sollte er da die Ausnahme sein? Nein, heute hatte er sich eins bewiesen: es machte ihm nichts aus, alleine zu sein. Es störte ihn nicht, dass er von allen verlassen worden war. ‚Sieh her, mein Sohn!', dachte er mit grimmiger Genugtuung. ‚Du wolltest mich damit bestrafen, als du fort gegangen bist. Sieh, wie wenig es mir ausmacht!'

Für eine Weile gefiel sich Victor in dieser Existenz, genoss es sogar, die grimmige, dunkle Befriedigung, Rache am Schicksal und den Menschen zu nehmen für das, was ihm widerfahren war, ohne es zu hinterfragen. Aber es änderte nichts an dem, was der wahre Kern seiner Schwierigkeiten war. Es konnte seine größten, tiefsten Wünsche weder erfüllen noch die Sehnsucht nach ihrer Erfüllung auslöschen. Das Jagen und das Trinken von Blut linderten seinen Zorn für eine Weile. Der unausweichliche Tod dabei war wie ein Tribut für ein Vergehen, den er immer erneut einforderte. Aber die Beruhigung und Erleichterung danach waren nur von kurzer Dauer. Selbst wenn sein Bedarf an Blut unendlich gewesen wäre, so wusste er doch allzu gut, dass er aus Selbstschutz auf keinen Fall so oft jagen durfte, dass die Zahl der Toten Aufmerksamkeit erregte. Es war schwer genug, sich immer neue Möglichkeiten einfallen zu lassen, die Todesumstände seiner Opfer zu verschleiern. Er hatte schnell gelernt, dass er auf keinen Fall dieselbe Erklärung zu oft gebrauchen, oder die Methoden in einem bestimmten Rhythmus wiederholen durfte. Das Schicksal war ein grausamer Herr, der überall zuschlug. Aber geschah es an bestimmten Orten zu oft hintereinander oder zu häufig auf dieselbe Art, gab es unweigerlich unerwünschtes Getuschel. Aber er lernte rasch, sich gerissen zu verhalten. Es gab immer noch Grenzen, an die er sich halten musste, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, dass die Menschen sich gegen ihn erhoben. Er entwickelte großes Geschick darin, die Menschen zu manipulieren. Machiavellis Lehren waren ihm ein guter Wegweiser und für eine Zeit war es ihm eine heimliche, hämische Freude, die Grenzen dessen auszuloten, mit dem er durchkommen würde, ohne Schwierigkeiten heraufzubeschwören. Gemäß der Maxime ‚Es ist besser gefürchtet als geliebt zu werden' wurde er jetzt nicht mehr allzu häufig von Menschen behelligt, die versuchten, ihn wegen irgendetwas umzustimmen. Aber gleichzeitig hatte dies Schattenseiten. Da seine Launen, und nicht mehr die allgemeinen Regeln der Höflichkeit, seinen Umgang mit seinen Untergebenen und seine Reaktionen lenkten, suchte niemand im Schloss seine Nähe, wenn die betreffende Person nicht von den Umständen dazu gezwungen war. Als Folge dessen war er selbst in seinem eigenen Haushalt fast vollkommen isoliert.

Eine Weile war es reizvoll, so viel zu lesen und seiner Leidenschaft für die Wissenschaften zu frönen, wie er wollte, ohne oft gestört zu werden. Aber es gab auch niemanden mehr, der sich mit ihm über neue Entdeckungen gefreut oder mit dem er hätte darüber sprechen können. Es blieb ein gähnender Abgrund in seinem Leben, den weder seine Passion für die Naturwissenschaften noch seine Liebe für Bücher hätten füllen können. Ein tiefes, schwarzes Nichts klaffte an genau jener Stelle, die einst seine Familie eingenommen hatte. Nachdem Herbert fortgegangen war, hatte sich dieser gähnende Abgrund noch vergrößert und nichts füllte die Leere, die zurückgeblieben war. Es hatte weder Briefe noch andere Zeichen von seinem Sohn gegeben, seit er an jenem Abend das Schloss verlassen hatte, die angedeutet hätten, dass sein Sohn bald nachgeben würde. Tatsächlich schien er besser alleine zurechtzukommen, als Victor für möglich gehalten hätte. So viel musste er zugeben. Wochen wurden zu Monaten. Aus Monaten wurden Jahre. Noch immer kein Wort von Herbert. Doch Victors eigener halsstarriger Stolz hinderte ihn daran, den ersten Schritt zu tun. Er war schließlich nicht derjenige, der einfach gegangen war. So wie er die Dinge betrachtete, hatte er jedes Recht, zornig zu sein. Es gab keinen Grund, warum er versuchen sollte, einem verlogenen, unerreichbaren Idealbild der Perfektion hinterher zu rennen. Was hatte es je genützt?

Aber als die Jahre ins Land gingen, wurde er ruhelos. Er mochte es sich nicht eingestehen, aber diese Existenz voller rücksichtslosem Groll, Missachtung sozialer Normen und sorgfältiger, berechnender, betrügerischer Manipulationen erfüllte ihn nicht. Er blickte auf das Jahrhundert zurück, das seinem sterblichen Leben gefolgt war, voller bitterer, zynischer Häme. Gleichzeitig konnte er nicht vor sich selbst verhehlen, dass die viereinhalb Jahrzehnte, die er als Sterblicher damit verbracht hatte, nach all dem zu streben, auf das er jetzt herabblickte, die glücklichsten seiner Existenz gewesen waren. Der Groll über deren Verlust war immer noch da, eine schwelende, sorgfältig am Leben gehaltene Flamme, die er hütete, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass die Leere in ihm größer wurde.

Die einzigen Momente von so etwas wie Nähe und Verbundenheit, waren jene, die er mit seinen Opfern teilte. Der Rausch des neuen Lebens und der Wärme, die durch seine Adern strömten, hatte nichts von seiner Potenz verloren. Er genoss beim Nehmen von Blut das physische, sinnliche Vergnügen nun tatsächlich mehr als früher. Lag es daran, dass es jetzt die einzige Quelle solch körperlicher Lust war, sodass er es einfach hingebungsvoller wahrnahm? Oder hatte jenes Erlebnis mit der namenlosen, rothaarigen Hure ihn einfach nur auf den Geschmack gebracht? Er hätte es nicht sagen können. Victor hatte es seitdem nicht unbedingt darauf angelegt, das Erlebnis zu reinszenieren, doch verschmähte er solche Gelegenheiten auch nicht, wenn sie sich ergaben. Obgleich er noch immer den Frauen zugetan war, hatte er gelernt das auch

das Erlebnis mit einem männlichen Opfer für beide Seiten lustvoll sein konnte, ohne, dass es etwas an der Ausrichtung seiner Neigungen geändert hätte. Was bedeutete es, wo man sein Vergnügen fand? Doch die intensive Erfahrung seine Opfer in allen Facetten zu erleben und in sich aufzunehmen, sich selbst dabei aufzugeben und ihren Geist um sich gebreitet zu fühlen, wie einen schweren Mantel, der ihn vollkommen einhüllte. Es wurde zu dem Aspekt nach dem er am meisten verlangte. Die rein körperlichen Folgen des Bluthungers hätte er jederzeit ungerührt ertragen können. Sie waren so vertraut, wie ein alter Erzfeind, von dem man weiß, dass er einem immer das Leben schwer machen wird, da man ihn nie loswerden kann. Von dem man aber gleichzeitig weiß, dass er unfähig ist, das eigene Dasein zu beenden. Auch Abstinenz von körperlicher Lust hätte ihm kaum Schwierigkeiten bereitet. Aber die Erfahrung, jemandes Seele zu kennen, nur dadurch, dass er dessen Blut teilte? Ihr ganzes Wissen und Sein vereinigt und verwandelt in Gefühl, Geschmack und Berührung? * Nein. Darauf konnte er nicht verzichten. Mit der Zeit begann er körperlich auf den Mangel daran zu reagieren, wenn seit seiner letzten Jagd zu viel Zeit verstrichen war. Es begann mit quälender Unruhe, die keine noch so angenehme oder zerstreuende Beschäftigung vertreiben konnte. Er war dann vielleicht sogar noch reizbarer als er es ohnehin gegenwärtig war. Dieser Zustand verschlimmerte sich bis er das Zittern nicht mehr unterdrücken konnte und das sich, je länger er zögerte, umso mehr verschlimmerte und mit dem ein drängendes Verlangen nach Blut mit sich brachte, das über das altbekannte, zwingenden körperliche Bedürfnis eines hungernden Vampirs nach seinem Lebenselixier hinaus ging. Aber dabei blieb es nicht. Je länger die Phasen der Abstinenz aufhielten, desto erschöpfter und schwächer begann er sich zu fühlen, obwohl er wusste, dass sein Körper nach fast eineinhalb Jahrhunderten als Vampir eigentlich in der Lage war, viel länger durchzuhalten, ohne dass er seine Kraft schwinden fühlte. Trotzdem trieb ihn dieser Zustand immer drängender zu seinen Opfern hin. Ein Teufelskreis, der sich immer aufs Neue wiederholte.

Immer häufiger streifte er durch das große, viel zu leere Schloss, wanderte dabei wie ein einsamer Pilger vorbei an all jenen Orten, die einmal Herberts Lieblingsplätze hier gewesen waren. Den großen Salon mit dem Spinett, auf dem er so oft stundenlang gespielt hatte, die Ahnengalerie, deren Inhalt er häufig und ausgesprochen gerne mit kritischem Auge begutachtet und ebenso häufig kommentiert hatte. Die Bibliothek. Wie oft hatten sie hier Stunden gemeinsam verbracht, gleichgültig wie unterschiedlich ihre Lektüre auch gewesen sein mochte. Das Schlimmste waren der Anblick von Herberts leerem Sarg, wenn er sich des Abends erhob, oder seine verwaisten Gemächer, die ohne ihren Bewohner viel zu ordentlich wirkten, wann immer er sie betrat. Er begann sich widerwillig einzugestehen, dass der Junge ihm fehlte. Das Gefühl des Verlusts und des Bedauerns seiner Abwesenheit wuchs und Victor begann sich zu fragen, ob Herbert ihn selbst überhaupt vermisste. Dass er die Anwesenheit seines Vaters nicht mehr ertrug, hatte er nur allzu deutlich gemacht. In all der Zeit nicht eine einzige Zeile, oder auch nur ein einziges Wort. Nein, das hatte er gewiss nicht von seinem Sohn erwartet. Einst hatte Herbert davon gesprochen, dass er es nicht ertragen konnte, dass sein Vater ihn am ausgestreckten Arm verhungern ließe. Damals, als er noch versucht hatte, seinen Sohn auf Abstand zu halten, um ihn davor zu bewahren, dasselbe Schicksal zu erleiden, wie seine Mutter. Nun waren ihre Rollen vertauscht und er fragte sich, ob Herbert begriffen hatte, dass er ohne seinen Vater viel besser dran war. Dass er es wohl schon sehr viel länger gewesen wäre, wenn er diesen Schritt schon früher getan hätte… Dieser Gedanke schmerzte Victor. Er hatte einmal gehofft, dass sie beide einen anderen Weg gehen würden, als er selbst und Herberts Großvater es getan hatten. Wie sehr er sich offensichtlich geirrt hatte. Ob Herbert wohl auch begonnen hatte ihn zu hassen? Wenn man seine Worte bei jenem letzten Gespräch bedachte, war es nach all der Zeit mehr als möglich. Wenn der Junge nachgedacht und begriffen hatte, was er ihm alles angetan hatte, konnte er es ihm kaum verübeln, wenn er seine einfach verschenkte Vergebung jetzt zutiefst bereute. Victor begann sich zu fragen, ob er Herbert nicht inzwischen auch vollkommen verloren hatte, die einzige Verbindung zu seinem sterblichen Leben. Das einzige Wesen, das ihm etwas bedeutete und von dem er geglaubt hatte, dass es ihm geblieben war. Wohl doch bereits verloren, wie alle Menschen, die Victor je liebte. Elisabeth… Nadeschda. Ihre Gesichter zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Beide lange fort. Beide für ihn verloren. Die Zeit verstrich und allmählich wuchs in ihm die Furcht, er könnte sie alle für immer vergessen. Sie, die alle nur noch in seiner Erinnerung existierten und doch so viel mehr das Leben verdienten, als er selbst. Die Angst wurde mit der Zeit immer größer und er begann zu fürchten, dass er selbst vergessen werden würde. Wenn sie ihn da draußen alle einfach vergaßen, welchen Unterschied machte es dann, dass er noch immer in seinem Schoss existierte? Sie würden in ihren Leben fortfahren und er würde für alle Ewigkeit hier eingesperrt sein. Einsam und allein.

Eine leise Stimme begann sich zu erheben, wenn ihn solche Gedanken plagten. ‚Geh' zu Herbert und sprich mit ihm!' flüsterte es. ‚Versöhne dich mit ihm und sage ihm, dass du ihn vermisst!'

Doch Victor schüttelte im gekränktem, eigensinnigen Stolz den Kopf und lehnte den Gedanken vehement ab. Er? Zu Herbert gehen? Als sei er derjenige gewesen, der fortgegangen war. Seinen Zorn und seine Aggression bedauern? Nein! Er hatte jeden nur erdenklichen, verdammten Grund dazu. Er hatte jede elende Veranlassung und Rechtfertigung dafür, sich an Gott, den Sterblichen und dem Universum zu rächen.

Immer wieder erhob die leise Stimme das Wort, stets dann, wenn er Herberts Gegenwart am meisten vermisste. Doch immer wieder wies er ihre beharrliche Forderung zurück und klammerte sich an seinen Groll, wie ein Drache, der seinen geraubten Schatz bewacht.

Es war eine trübe Nacht, der Herbst bereits weit fortgeschritten. Nebel verhüllte die Landschaft und es regnete bereits seit Tagen. Es war wohl eher die Frage, wann der Regen beginnen würde in Schnee überzugehen. Victor stand am Fenster des großen Salons, den Schweren Samtvorhang mit einer Hand zurückhaltend, und sah hinaus in die Nacht. Eigentlich sollte er nach draußen gehen, um zu jagen, aber obgleich diese Witterung durchaus eine Herausforderung versprach, die freudige Erwartung hätte auslösen sollen, wollte sich die rechte Stimmung einfach nicht einstellen. Er fühlte sich rastlos und hatte auch in der Bibliothek keinen Frieden gefunden. Die Stille um ihn herum nagte an ihm. Er kannte die Zeichen und wusste was ihn bald erwarten würde. Aber er empfand seltsamerweise keine Neigung das Schloss zu verlassen, obwohl ihm der Regen nichts anhaben konnte.

Die Nächte vergingen in gleichförmiger Eintönigkeit und er fragte sich, ob er an diesem Abend einfach sein wahres Alter spürte. Zweihundertvierzig waren es inzwischen, obwohl er sich nicht mehr verändert hatte, seit er zum Vampir geworden war und Herbert war im Frühjahr 215 Jahre alt geworden, dachte er versonnen, auch wenn zwischen ihnen noch immer die Stille lastete. Während er Gedanken nachhing, die ebenso trostlos waren, wie das Wetter draußen, klopfte es hinter ihm an der Tür. Die ungewöhnliche Tatsache brachte ihn ins Hier und Jetzt zurück. „Herein!", antwortete er bestimmt ohne sich vom Fenster abzuwenden.

„Bitte untertänigst um Vergebung, Herr Graf, aber ein Fremder steht vor dem Tor." Es war die zitternde Stimme einer Matrone, wie er beiläufig bemerkte. Aber ihre Worte bewirkten, dass er den Vorhang zufallen ließ, sich umdrehte und ihr seine volle Aufmerksamkeit widmete. Sie knickste hastig, als er sie auffordernd ansah und sprach dann hastig weiter. „Er scheint um etwas zu bitten, Herr, und lässt sich nicht verscheuchen. Aber niemand kann ihn verstehen." In der Tat, ein höchst ungewöhnlicher Vorfall. Ein Sterblicher, der es nicht nur zu dieser späten Stunde noch wagte, sich dem Schloss zu nähern, sondern sich nicht abwimmeln ließ und den seine Bediensteten zudem nicht verstehen konnten? Nun, heute Nacht hätte er über nichts die Nase gerümpft, was die Monotonie für eine kurze Weile vertrieb. Aber dies versprach interessant zu werden. Ohne sich anmerken zu lassen, was er dachte, nickte er zum Zeichen, dass er gehört hatte. „Sie haben ihn am Torhaus festgehalten, nehme ich an?", fragte er dann kühl. Die Frau versank erneut in einem hastigen, uneleganten Knicks. „Ja, Herr." „Ich werde mich darum kümmern. Du kannst gehen!" Victor machte eine gebieterische Handbewegung und die Frau verließ eilends, ohne unhöflich zu sein, den Raum. Um nicht übereilt zu wirken, schritt der Graf erst zu dem Feuer im Kamin hinüber, wo er für eine Weile in die Flammen starrte. Als ihm genug Zeit vergangen zu sein schien, wandte er sich ab und verließ gemessen den Salon. Da er davon ausging, dass er von mehr als nur der Tormannschaft und ihrem seltsamen Gast erwartet wurde, nahm er den langen Weg und verließ das Schloss demonstrativ durch das Hauptportal, durchschritt den inneren Schlosshof und die Vorburg und ging hinunter zum Torhaus. Unterwegs sah er die unvermeidlichen Grüppchen schwatzender Diener, die sich aber eilig zurückzogen, als er ihnen düstere Blicke zuwarf die nur allzu deutlich sagten: ‚Fehlt es euch an Arbeit oder warum habt ihr nichts besseres zu tun als hier zu schwatzen?'

Als er sich dem äußeren Schlossportal näherte, sah er bereits, dass das schwere Fallgitter geöffnet worden war. Einer der Männer stand dort noch auf seinem Posten. Von dem Fremden war nichts zu sehen. Graf von Krolock trat wenig begeistert zu dem Wächter hinüber. „Sagt mir jetzt nicht, Ihr habt mich vollkommen umsonst herkommen lassen!", zischte Victor gereizt. „Ich dachte, Ihr habt hier einen Fremden, mit dem Ihr nichts anzufangen wisst, weil Ihr ihn nicht verstehen könnt. Aber ich sehe hier niemanden!" „Verzeiht, Herr. Aber bei all dem Radau, den er hier gemacht hat, sah der Bursche aus, als ob ihn ein Windstoß davon wehen könnte! Miroslaw hat ihn in die Wachstube geholt – unter seiner Aufsicht natürlich!", setzte der Mann auf den finsteren Blick des Grafen hastig hinzu. „Natürlich", erwiderte dieser trocken. „Ich bin mir sicher, dass ihm diese Ausrede bei diesem Wetter nur allzu recht war", setzte er dann sarkastisch hinzu. „Herr, er hat gewiss nicht versucht sich zu drücken!" Der Graf winkte mit einer herrischen Geste ab. „Zurück auf deinen Posten, mit dir! Ich werde mir selbst ein Bild machen." Damit wandte er sich ab und ging die wenigen Schritte hinüber zu dem Türbogen, durch dessen Fensterschlitze Licht fiel und klopfte mit dem schweren Eisenring, der daran angebracht war.

Sofort erklang von der anderen Seite eine Stimme. Seid Ihr das, Herr?" Victor verdrehte ungeduldig die Augen. „Wer sonst?", antwortete er dann ärgerlich. „Hast du noch jemand anderen erwartet? Verschwende gefälligst nicht meine Zeit und öffne diese verdammte Tür, der du kannst den Rest der Nacht draußen vor der Burg verbringen und dir dort deinen faulen Arsch abfrieren!" Die Tür wurde hastig geöffnet und Victor schob sich ungehalten an Miroslaw vorbei in einen kleinen Vorraum und trat dann nach rechts in die einfach, aber behaglich eingerichtete Wachstube, von der aus die Männer in Nächten wie dieser das Tor im Blick halten konnten, ohne die Zeit im Regen verbringen zu müssen. Vor dem Kamin zu seiner linken saß eine abgerissene Gestalt auf einem Stuhl. Er sah auf einen Blick, was dem Fremden diese Geste der Freundlichkeit eingebracht hatte. Die Kleider, die verschlissen und verdreckt um ihn herum schlotterten, mussten einmal von guter Qualität gewesen sein. Auch das von seinen Dienern beschriebene Verhalten passte nicht zu einem daher gelaufenen Bettler. Victor blickte über seine Schulter zu dem Wächter hinüber. „Zurück auf deinen Posten. Lass uns allein!" Mit einem Brummen, das hätte alles und nichts sagen können, ging der Wachmann wieder hinaus und ließ den Grafen mit dem Fremden allein. „Guten Abend. Ich bin Graf von Krolock, der Herr dieses Schlosses. Und Ihr seid?"

„Sprecht ihr französisch?", kam die heisere Antwort in eben jener Sprache.

„Das tue ich", erwiderte Victor überrascht. Mit einer leicht angedeuteten Verbeugung wiederholte er seine Worte noch einmal in der Muttersprache des Fremden. „Verzeiht, Herr, wenn ich einfach so hier aufgetaucht bin und Euch in einer solchen Nacht behellige. Aber ich habe mich verlaufen und benötige dringend Obdach." Jetzt wandte sich der Fremde ihm zum ersten Mal zu. Der Schein des Feuers offenbarte ein abgemagertes Gesicht, das einmal recht ansehnlich gewesen sein musste, gesäumt von struppigem, braunem Haar und mit ein paar sehr hoffnungslos wirkender dunkler Augen. „Mein Gott, Ihr könnt noch keine zwanzig sein!", rief Victor beinahe erschrocken aus. „Wo kommt Ihr her, ganz allein und in einem solch beklagenswerten Zustand?" Der Junge Mann schluckte schwer und es schien ihn zu schwindeln. „Mein Name ist Jean. Jean-Francois Rochefort. Ich geriet mit der französischen Armee ins Unglück und das hat mich zu Eurer Schwelle geführt. Das ist alles, was ich Euch fürs erste erzählen kann, denn ich bin nahezu am Ende meiner Kräfte, Exzellenz. Werdet Ihr mir Zuflucht gewähren?" Die Augen des unglücklichen jungen Mannes richteten sich flehend auf Victor und ohne darüber nachzudenken, hörte er sich selbst zustimmen.

Author's Note:

Es tut mir leid, wenn bei dieser schweren Geburt nur ein für meine Verhältnisse kurzes Kapitel herausgekommen ist. Aber auch dieses Kapitel ist mir trotz intensiver Planung schwer gefallen. Stress hat sein Übriges dazu beigetragen, und so ist auch dieses Kapitel erst nach meiner persönlichen Deadline fertig geworden. Aber seltsam genug, dafür haben sich Fragen, über die ich lange erfolglos gegrübelt habe, praktisch von alleine beim Schreiben selbst erledigt. Diese Eigendynamik ist immer wieder erstaunlich!

Lasst mich gerne Eure Meinung hören!

Mein Dank in diesem Kapitel geht an Georg R. Martin, der in den 90ern die Drehbücher für ‚Forever Knight' geschrieben hat.

* markiert eine Stelle, an der ich Teile meiner eigenen Übersetzung eines Zitats aus dieser Serie benutzt habe. Es stammt aus Staffel 3, Episode 20. Für mich war es ein Augenöffner bei der Frage: Wonach kann ein Vampir süchtig sein? Eine Frage, die für mich aufgetaucht ist, nach dem ich beschlossen hatte, dass ich dieses Detail aus der Darstellung von Steve Barton behalten würde. Hier ist die Antwort die ich darauf gefunden habe, in dem Zitat aus „Francesca":

„Imagine if you could know someone's soul just by sharing blood. Everything you know, everything you are, transformed into touch and taste. Imagine the temptation to take just one sip. One sip and then another and another, to take them inside you and know every secret, to let them know yours, to be them."

Ich benutze meine eigene Übersetzung, verändert, damit sie in die entsprechende Situation passt und in einer eigenen Satzkonstruktion. Das obige Zitat gehört den Urheberrechtsinhabern der Serie „Forever Knight" und da ich hier noch einmal ausdrücklich darauf hinweise, dass ich niemals Geld mit dieser Geschichte verdiene und das auch niemals werde, dürfte hiermit allem Genüge getan sein.