1.Kapitel – Der Fluss
Ja, manche Hobbits schüttelten bis heute noch den Kopf darüber, daß die Brandybocks als eine der repräsentativsten und reichsten Familien im Auenland es sich gewagt hatten, ein Schloss zu bauen, daß noch nicht einmal über einen nach Hobbitmaßstäben „ausreichenden" Keller verfügte.
Wie jedes Jahr bei dem großen Fest zu Saradoc Brandybocks Geburtstag – seinerseits Herr von Bockland. Vor allem die Verwandten aus den anderen Regionen des Auenlandes schüttelten darüber den Kopf genau wie über die Boote, die am Ufer des Brandyweins langen. Bestenfalls wurden jene als Traumspinnerei tituliert, schlimmstenfalls als Unnatürlichkeiten oder gar Geisteskrankheit.
Schon seit Jahrhunderten oder noch länger wurden diese aufgeregten Lästereien ausgetauscht – was der Herr von Bockland großzügig überhörte – doch dieses Jahr hatten sie sich besonders zugespitzt.
Die ohnehin prägnante Wasserscheuheit der Hobbits wurde in eine regelrechte Hysterie verwandelt, die viele während der Feier sogar dazu brachte, den Gastgeber zu bitten, doch die Läden der Fenster, die in Richtung des Flusses zeigten, schliessen zu dürfen.
Daran schuld war ein einziges tragisches Ereignis.
In diesem Jahr 1381 der Auenlandzeitrechnung ertranken Primula geborene Brandybock und Drogo Beutlin in den Wässern des Brandywein.
Frodo Beutlin, das einzige Kind der beiden, wurde mit nur zwölf Jahren Vollwaise. Bilbo Beutlin, sein Onkel aus Hobbingen, nahm ihn bei sich in Beutelsend unterm Berg auf. Es war wirklich ein Einzelfall, daß jemals ein Bockländer in einen anderen Teil des Auenlandes zog, sei es auch durch Heirat und selbst bei Hochzeiten wurde ein solcher Umzug so gut wie es ging vermieden.
Jetzt, am 41.Geburtstag des Herrn von Bockland kehrte Frodo wieder in seine Heimat zurück. Ruhig und besonnen schien er gleichzeitig durchaus bedrückt, aber keinesfalls in Tränen aufgelöst zu sein. Nicht lästernd, schnatternd und bestürzt zugleich wie die Hobbits um ihn, schien er vollkommen gefasst zu sein.
Man merkte, daß ein Sturm in ihm brodelte, er sich aber alle Mühe gab, das Unwetter in ihm zu bezwingen, um so die einzige Möglichkeit, die er hatte, zu meistern: weiterzuleben ohne die einstige Orientierung durch seine Eltern.
Es herrschte eine krampfhaft erstickte Ruhe, als er den Hauptsaal des Brandyschlosses betrat. Heimliches, mitleidiges Getuschel war aus der einen oder anderen Ecke zu hören. Oft war Frodos Familie Gast bei den Brandybocks gewesen und war den Hobbits außerhalb von Bockland recht suspekt erschienen und jetzt waren sie sich nicht sicher, wie sie reagieren sollten, besonders da Frodo keine für sie eindeutig deutbare Gefühlsregung zeigte.
Zwar lag Bilbos Hand auf dessen Schulter, doch schien er den Schutz seines Onkels gar nicht zu benötigen. Einzig Saradoc Brandybock konnte die Situation wieder entspannen.
„Bilbo, Frodo!" begrüßte er die beiden mit einer einladenden Handbewegung. „Kommt herein! Schön, daß ihr doch noch kommen konntet!" rief er betont fröhlich, warf Bilbo aber einen Blick zu, der sein Wissen über die Ernsthaftigkeit der Situation und auch sein Mitgefühl ausdrückte.
Beerdigungen waren etwas, was Hobbits noch mehr als andere Völker verabscheuten, da sie ihnen vo Augen führten, daß ihr natürlich leichter Lebenssinn schnell durch die Realität zerrissen werden konnte. Und die Beerdigung der elterlichen Beutlins war vor allem tragisch gewesen, da sich niemand vorstellen konnte, wie ein so junger Hobbit aus einer von der Allgemeinheit nicht sehr geachteten Hobbitfamilie – eine Mischung aus den seltsam abenteuerlichen Tuks und eines Beutlin, der Boote fuhr! -, der von diesen Eltern geprägt und nun von denselbigen in eine völlig andere eingeschworene Gemeinde geworfen wurde, je wieder glücklich werden konnte.
Aber Saradoc Brandybock wie auch Frodos Onkel Bilbo ahnten von der Stärke, die noch in dem so sanften und doch so aussergewöhnlichen Hobbit steckte. Denn auch wenn er seine Eltern geliebt hatte – sie waren fast seine einzigen Orientierungspunkte gewesen – war er doch anders als sie. Er schlug sehr nach seinem Onkel und hegte ein ungewöhnliches Interesse an der Aussenwelt; die Abenteuergeschichten von Bilbo verschlang er regelrecht und es war eines der wenigen Dinge, die ihn im Moment trösten konnten.
Das letzte nach dem ihm auch jetzt noch – drei Monate nach dem Bootsunfall – zumute war, war eine Feier, doch da Saradoc ein der ältesten - und einer der wenigen dazu - Freunde der Familie gewesen war, war es Frodo selbst gewesen, der gedrängt hatte, an seinem Geburtstag bei ihm zu sein.
Selbst Bilbo hatte noch Bedenken gehabt, aber Frodo ließ sich von seinem Willen nicht abbringen. „Hallo, Herr Brandybock," begrüßte er ihn und kämpfte sich zu einem ehrlichen Lächeln durch. „Alles Gute zum Geburtstag." Er reichte ihm ein in braunes Papier verpacktes Päckchen.
Saradoc umarmte ihn und Bilbo und kniete sich dann zu dem jungen Hobbit. „Danke, Frodo, aber du weißt doch von der Tradition der Hobbits, daß das Geburtstagskind die Person ist, die die Geschenke verteilt," sagte er sanft und strich dem Jungen über die Wange.
„Es..... es ist von meiner Mutter und ich glaube nicht, daß ich dafür eine Verwendung habe. Ich möchte, daß Sie es bekommen. Machen Sie es erst auf, wenn wir weg sind, in Ordnung?"
Saradoc lächelte ihn warm an und nahm ihm das Päckchen ab. „Dann bedanke ich mich noch einmal bei dir. Warum holt du und dein Onkel euch nicht erst einmal etwas leckeres zu Essen?"
Frodo presste die Lippen zusammen – es war nicht wirklich sein Begehren, sich unter das lebendige Hobbitvolk zu mischen und sich Tanz und Essen zu widmen – aber er würde es schaffen. Bilbo nahm ihn an den Schultern.
„Vielen Dank, Saradoc."
***
Als Frodo mit Bilbo an einem der kleinen Ecktische der Festhalle des Brandyschlosses saßen und schweigend in ihr Essen vertieft waren, kam Saradoc noch einmal vorbei. Er schien das Festgeben – besonders das seines Geburtstages – sichtlich zu genießen, selbst nachdem er vom ersten Sonnenstrahl des Tages bis zu jetzt schon aufkommenden Dämmerung ohne Unterlass unterwegs war, wirkte er noch frisch. Die kurzzeitig gedrückte Stimmung, die beim Ankommen der beiden Beutlins aufgekommen war, war schon längst wieder verflogen und heitere Musik drang bis in alle Ecken des Hauses vor.
Doch trotzdem machte er sich um seine beiden besonderen Gäste Sorgen und nahm sich immer mal einen Augenblick Zeit sich zu ihnen zu setzen. Kaum ein anderer Hobbit sprach mit ihnen – teils aus Angst und teils auch aus einer leider wirklich bestehenden Abneigung.
„Schmeckt es euch?" Er stellte seinen Bierkrug neben Frodo ab und nahm neben ihm Platz.
„Oh ja, sehr gut, Herr Brandybock," sagte Frodo und hatte wieder dieses tapfere und doch dankbare Lächeln auf dem Gesicht, das Saradoc heute schon oft auf Frodos Gesicht bemerkt hatte, als er mit ihm sprach.
„Bedankt euch bei Esmeralda. Sie ist eine wahre Göttin, wenn es ums Kochen geht." Er lachte leise und nahm noch einen Schluck Bier.
„Das ist allerdings wahr," stimmte ihm Bilbo zu. Es war wohl allen bewusst, daß das Gespräch etwas gezwungen war. Doch wenn Hobbits eins von sich hielten, dann daß sie die höflichsten Geschöpfe Mittelerdes waren. Nicht, daß es immer der Realität entsprach, aber man behauptete es nun einmal gerne von sich.
Saradoc räusperte sich. „Nur falls Otho und Lobelia euch über den Weg laufen.... hört nicht auf sie, genauso wenig wie auf die meisten hier anwesenden. Es ist gut von dir, Bilbo, daß du ihn zu dir genommen hast. So sehr wir uns auch einen Sohn wünschen, ich glaube nicht, daß es gut gewesen wäre, wenn er an diesem erinnerungsträchtigen Ort geblieben wäre."
Bilbo nickte langsam. „Es ist nicht das erste Mal, daß ich mit lästernden Hobbits zu tun habe. Es ist ja nicht so, daß sie besonders viel etwas anderes tun in Hobbingen. Aber....." Er senkte die Stimme. „...für Frodo werde ich versuchen, es ein wenig einzudämmen."
Saradoc nickte den beiden zu und strich Frodo noch einmal über den Kopf. „Ich glaube, ich werde am Büffet gebraucht. Die Verwandschaft ruft."
Er lächelte und verzichtete darauf zu erwähnen, daß mehr als nur einige Hobbits am Büffet nach seiner Aufmerksamkeit drängende Verwandte waren und verließ die beiden wieder.
„Was ist mit Otho und Lobelia, Onkel?" fragte Frodo nach einer längeren Pause.
Bilbo seufzte leise. „Nichts, was dich beunruhigen sollte. Nur Gerede." Als er merkte, daß Frodo diese Antwort nicht befriedigte sprach er weiter. „Sie hoffen darauf, Beutelsend zu bekommen...... nachdem .........naja......."
Er wollte es nicht laut aussprechen und Frodos Gedanken nicht schon wieder zu den Verlusten hinverleiten, die ihn ohnehin ständig plagten. Doch Frodo verstand es auch so und senkte den Kopf.
„Dann werden sie es niemals bekommen." Seine Antwort war so leise, daß Bilbo sie fast nicht verstanden hätte.
Er nahm Frodos Hand. „Wollen wir vielleicht auf unsere Schlafkammer? Du wirkst etwas müde."
„Das bin ich auch, Onkel Bilbo." Er stellte sein Geschirr zusammen. „Ich bin wirklich müde."
***
Als Frodo erwachte, war er zuerst etwas irritiert. Das Morgenlicht strahlte so grell auf seine Lider, daß sie fast zu brennen schienen und auch sonst schien etwas anders zu sein, er konnte nur nicht ausmachen was.
Flatternd und langsam öffneten sich seine Augen.
Erst jetzt merkte er, daß er sich nicht in Beutelsend befand, sondern in einem der weiter oben gelegenen Gemächer des Brandyschlosses und der Morgen war nicht heller als sonst – die Fenster waren nur größer. Er stand fast schon zu ruckartig auf – ein leises Krachen war zu hören, was Frodo nur halb mitbekam - und ging zu einem davon und öffnete es weit, die kühle, sonnige Morgenluft einatmend.
Leise hörte er das Rauschen des Flusses von weiter unten und wünschte sich sofort, er hätte das Fenster nicht geöffnet. Oft hatte er in Beutelsend gegrübelt, wie der Unfall mit seinen Eltern nur passieren konnte, aber jetzt, wo er das Ufer des Gewässers direkt vor sich sah, kam alles zu ihm zurück. Nur eine oder zwei Meilen weiter nördlich war die Stelle gewesen.
Die Boote von Drogo und Primula waren nie direkt vor ihrem Zuhause angebunden gewesen, damit Frodo nicht auf dumme Gedanken kam. Bei dem Gedanken an die Sorgen seiner Eltern spürte er wieder die altbekannten Tränen in seinen Augen prickeln.
Natürlich war er trotzdem oft dagewesen, doch selten hatte er in einem der Boote gesessen..... es war an einem der stürmigsten Tage des Winterfilth (hobbitisch:Oktober) gewesen, die das Bockland je gesehen hatte und niemals wäre ein Brandyweinhobbit bei solch peitschendem Regen auf die Idee gekommen, mit dem Boot herauszufahren, doch am nächsten Tag war der Geburtstag von Primula gewesen und seit ihrer Hochzeit – die kurioserweise an ihrem Geburtstag stattgefunden hatte - hatte Drogo ihr an diesem Tag immer frischen Fisch zubereitet.
Doch Primula hatte nicht vor, ihn allein zu lassen. Eigentlich war es ihre Intention gewesen ihn aufzuhalten – das hatte Bilbo Frodo erzählt – doch der Klatsch ließ Gerüchte aufkommen, wie daß Primula ihn nur noch mehr drängen wollte und bis aufs Blut ihr Geburtstagsessen verlangt hatte und Drogo sogar ursprünglich veranlasst hätte, mit dem Boot rauszufahren. Doch das glaubte der junge Hobbit nicht. Er kannte seine Mutter und sie wurde von solchen Erzählungen immer anders dargestellt, wie er sie erlebt hatte.
Auf jeden Fall blieb Frodo allein zu Hause – er hatte keine Angst vor dem Sturm und Primula hätte das Haus auch nie verlassen, hätte er ihr das nicht versichert.
Die Erinnerung war vollkommen klar. An diesem klaren Morgen spürte Frodo sie deutlicher als selten zuvor und er konnte sich direkt vor dem prasselnden Kaminfeuer des Beutlinschen Hauses fühlen, das peitschende Grollen des Sturms von draußen fast übertönend. Er hatte ein Buch über die Kräuterkunde des Bocklands gelesen, das er in einer Kiste im Keller gefunden hatte und aß noch etwas von dem Kartoffeleintopf, den Primula zubereitet hatte. Er hörte genau das laute Knarzen der stockenden Tür, als sie aufgestossen wurde und seinen Schreck, als Esmeralda vollkommen durchnässt vor ihm knien sah, einen merkwürdig fremden Ausdruck in ihren Augen und auch bei ihrem nassen Gesicht konnte er ihre Tränen deutlich erkennen.
Sie nahm ihn in die Arme – er erinnerte sich genau, an die festen, beschützenden Arme der Hobbitfrau und an das klamme Gefühl ihres feuchten Kleides an seiner Wange und seinem Körper, als das Wasser seine Kleidung durchdrang – und flüsterte ihm mit rauer Stimme etwas zu, das er wohl niemals vergessen würde.
„Frodo, mein Junge, deine Eltern sind ertrunken."
„Frodo?"
Er zuckte so heftig zusammen, daß Bilbo einen Schritt zurücksprang. Er war noch im Brandyschlosses..... sein Nachthemd war trocken und das Rauschen des Flusses war ruhig und gleichmäßig, aber niemals würde es für den Hobbit wohl je wieder friedlich klingen.
„Mein Junge, ist alles in Ordnung?"
Frodo drehte sich um und nickte leicht. „Es geht schon wieder."
„Warum hast du dann geweint?"
Der junge Hobbit hob überrascht seine Finger an seine Wangen. Auch wenn er trocken war, unberührt von dem peitschenden nassen Sturms des wütenden Brandyweins seiner Erinnerung, seine Wangen waren feucht wie in jener Nacht die von Esmeralda Brandybock.
„Es ist nur........ der Fluss," sagte er leise und fiel resignierend in die Arme seines Onkels. „Werde ich ihn jemals wieder so hören können wie früher?"
„Du hast das Wasser geliebt und du wusstest um seine Kraft." Bilbo strich Frodo durch seine wirren dunklen Locken. „Ich kann es dir nicht sagen, lass lieber die Zeit dieses Rätsel lösen." Dann legte er seine Hände auf Frodos Schultern. „Willst du nicht dein Geschenk aufmachen?"
„Mein......Geschenk?"
„Du wirst doch nicht die hobbitischste aller Traditionen vergessen haben, zumal dich Saradoc gestern erst wieder daran erinnert hat." Er lächelte Frodo an und ging zu dessen Bett. „Du hast es heute morgen im Schrecken leider heruntergeworfen, ich hoffe, daß es noch heil ist."
Frodo nahm das kleine Päckchen von Bilbo an. „Kann ich es aufmachen, wenn wir wieder daheim sind? Ich meine......."
„Ich weiß schon, mein Junge. Komm, lass uns frühstücken. Wir müssen bald aufbrechen."
***
Saradoc umarmte Frodo noch einmal, bevor er ihn und Bilbo verabschiedete. Er hatte fast mehr Freude als bei den anderen Gästen empfunden, als sie angekommen waren, mehr Sorge besonders um das Wohlbefinden des jungen Beutlin und nun fand er es umso schwerer, ihn wieder gehen zu lassen. Er lebte noch ein wenig in der Zeit, als Frodo im Brandyschloss noch ein zweites Zuhause gehabt hatte. Fast wie ein Sohn war er für ihn geworden.
„Hast du dein Geschenk bekommen?"
Frodo nickte. „Vielen Dank, Herr Brandybock. Ich werde es öffnen, sobald ich daheim bin. Es ist so einfach besser gepolstert." Saradoc sah an Frodos Augen, daß dies nicht der einzige Grund war, aber er war durch und durch Hobbit – viel zu höflich es zu erwähnen.
„Natürlich. Ich werde mich auch gleich an deins machen. Den ganzen Abend habe ich gerätselt was es sein könnte." Er gab Frodo einen Kuss auf die Stirn und umarmte dessen Onkel. „Gute Heimreise."
Bilbo lächelte. „Danke für die Gastfreundschaft. Trotz allem."
Saradoc nickte ihm zu. „Gerade deshalb."
Er winkte ihnen noch eine Weile zu, als sie den Weg nach Hobbingen einschlugen und begab sich wieder in das Brandyschloss.
***
Author's Note: Das Kapitel mag etwas tragisch ausgefallen sein, aber das war durchaus Absicht. Keine Angst, die Geschichte wird auch noch andere Stimmungen erleben. Kapitel 2 ist fast fertig ;). Please review!
Ja, manche Hobbits schüttelten bis heute noch den Kopf darüber, daß die Brandybocks als eine der repräsentativsten und reichsten Familien im Auenland es sich gewagt hatten, ein Schloss zu bauen, daß noch nicht einmal über einen nach Hobbitmaßstäben „ausreichenden" Keller verfügte.
Wie jedes Jahr bei dem großen Fest zu Saradoc Brandybocks Geburtstag – seinerseits Herr von Bockland. Vor allem die Verwandten aus den anderen Regionen des Auenlandes schüttelten darüber den Kopf genau wie über die Boote, die am Ufer des Brandyweins langen. Bestenfalls wurden jene als Traumspinnerei tituliert, schlimmstenfalls als Unnatürlichkeiten oder gar Geisteskrankheit.
Schon seit Jahrhunderten oder noch länger wurden diese aufgeregten Lästereien ausgetauscht – was der Herr von Bockland großzügig überhörte – doch dieses Jahr hatten sie sich besonders zugespitzt.
Die ohnehin prägnante Wasserscheuheit der Hobbits wurde in eine regelrechte Hysterie verwandelt, die viele während der Feier sogar dazu brachte, den Gastgeber zu bitten, doch die Läden der Fenster, die in Richtung des Flusses zeigten, schliessen zu dürfen.
Daran schuld war ein einziges tragisches Ereignis.
In diesem Jahr 1381 der Auenlandzeitrechnung ertranken Primula geborene Brandybock und Drogo Beutlin in den Wässern des Brandywein.
Frodo Beutlin, das einzige Kind der beiden, wurde mit nur zwölf Jahren Vollwaise. Bilbo Beutlin, sein Onkel aus Hobbingen, nahm ihn bei sich in Beutelsend unterm Berg auf. Es war wirklich ein Einzelfall, daß jemals ein Bockländer in einen anderen Teil des Auenlandes zog, sei es auch durch Heirat und selbst bei Hochzeiten wurde ein solcher Umzug so gut wie es ging vermieden.
Jetzt, am 41.Geburtstag des Herrn von Bockland kehrte Frodo wieder in seine Heimat zurück. Ruhig und besonnen schien er gleichzeitig durchaus bedrückt, aber keinesfalls in Tränen aufgelöst zu sein. Nicht lästernd, schnatternd und bestürzt zugleich wie die Hobbits um ihn, schien er vollkommen gefasst zu sein.
Man merkte, daß ein Sturm in ihm brodelte, er sich aber alle Mühe gab, das Unwetter in ihm zu bezwingen, um so die einzige Möglichkeit, die er hatte, zu meistern: weiterzuleben ohne die einstige Orientierung durch seine Eltern.
Es herrschte eine krampfhaft erstickte Ruhe, als er den Hauptsaal des Brandyschlosses betrat. Heimliches, mitleidiges Getuschel war aus der einen oder anderen Ecke zu hören. Oft war Frodos Familie Gast bei den Brandybocks gewesen und war den Hobbits außerhalb von Bockland recht suspekt erschienen und jetzt waren sie sich nicht sicher, wie sie reagieren sollten, besonders da Frodo keine für sie eindeutig deutbare Gefühlsregung zeigte.
Zwar lag Bilbos Hand auf dessen Schulter, doch schien er den Schutz seines Onkels gar nicht zu benötigen. Einzig Saradoc Brandybock konnte die Situation wieder entspannen.
„Bilbo, Frodo!" begrüßte er die beiden mit einer einladenden Handbewegung. „Kommt herein! Schön, daß ihr doch noch kommen konntet!" rief er betont fröhlich, warf Bilbo aber einen Blick zu, der sein Wissen über die Ernsthaftigkeit der Situation und auch sein Mitgefühl ausdrückte.
Beerdigungen waren etwas, was Hobbits noch mehr als andere Völker verabscheuten, da sie ihnen vo Augen führten, daß ihr natürlich leichter Lebenssinn schnell durch die Realität zerrissen werden konnte. Und die Beerdigung der elterlichen Beutlins war vor allem tragisch gewesen, da sich niemand vorstellen konnte, wie ein so junger Hobbit aus einer von der Allgemeinheit nicht sehr geachteten Hobbitfamilie – eine Mischung aus den seltsam abenteuerlichen Tuks und eines Beutlin, der Boote fuhr! -, der von diesen Eltern geprägt und nun von denselbigen in eine völlig andere eingeschworene Gemeinde geworfen wurde, je wieder glücklich werden konnte.
Aber Saradoc Brandybock wie auch Frodos Onkel Bilbo ahnten von der Stärke, die noch in dem so sanften und doch so aussergewöhnlichen Hobbit steckte. Denn auch wenn er seine Eltern geliebt hatte – sie waren fast seine einzigen Orientierungspunkte gewesen – war er doch anders als sie. Er schlug sehr nach seinem Onkel und hegte ein ungewöhnliches Interesse an der Aussenwelt; die Abenteuergeschichten von Bilbo verschlang er regelrecht und es war eines der wenigen Dinge, die ihn im Moment trösten konnten.
Das letzte nach dem ihm auch jetzt noch – drei Monate nach dem Bootsunfall – zumute war, war eine Feier, doch da Saradoc ein der ältesten - und einer der wenigen dazu - Freunde der Familie gewesen war, war es Frodo selbst gewesen, der gedrängt hatte, an seinem Geburtstag bei ihm zu sein.
Selbst Bilbo hatte noch Bedenken gehabt, aber Frodo ließ sich von seinem Willen nicht abbringen. „Hallo, Herr Brandybock," begrüßte er ihn und kämpfte sich zu einem ehrlichen Lächeln durch. „Alles Gute zum Geburtstag." Er reichte ihm ein in braunes Papier verpacktes Päckchen.
Saradoc umarmte ihn und Bilbo und kniete sich dann zu dem jungen Hobbit. „Danke, Frodo, aber du weißt doch von der Tradition der Hobbits, daß das Geburtstagskind die Person ist, die die Geschenke verteilt," sagte er sanft und strich dem Jungen über die Wange.
„Es..... es ist von meiner Mutter und ich glaube nicht, daß ich dafür eine Verwendung habe. Ich möchte, daß Sie es bekommen. Machen Sie es erst auf, wenn wir weg sind, in Ordnung?"
Saradoc lächelte ihn warm an und nahm ihm das Päckchen ab. „Dann bedanke ich mich noch einmal bei dir. Warum holt du und dein Onkel euch nicht erst einmal etwas leckeres zu Essen?"
Frodo presste die Lippen zusammen – es war nicht wirklich sein Begehren, sich unter das lebendige Hobbitvolk zu mischen und sich Tanz und Essen zu widmen – aber er würde es schaffen. Bilbo nahm ihn an den Schultern.
„Vielen Dank, Saradoc."
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Als Frodo mit Bilbo an einem der kleinen Ecktische der Festhalle des Brandyschlosses saßen und schweigend in ihr Essen vertieft waren, kam Saradoc noch einmal vorbei. Er schien das Festgeben – besonders das seines Geburtstages – sichtlich zu genießen, selbst nachdem er vom ersten Sonnenstrahl des Tages bis zu jetzt schon aufkommenden Dämmerung ohne Unterlass unterwegs war, wirkte er noch frisch. Die kurzzeitig gedrückte Stimmung, die beim Ankommen der beiden Beutlins aufgekommen war, war schon längst wieder verflogen und heitere Musik drang bis in alle Ecken des Hauses vor.
Doch trotzdem machte er sich um seine beiden besonderen Gäste Sorgen und nahm sich immer mal einen Augenblick Zeit sich zu ihnen zu setzen. Kaum ein anderer Hobbit sprach mit ihnen – teils aus Angst und teils auch aus einer leider wirklich bestehenden Abneigung.
„Schmeckt es euch?" Er stellte seinen Bierkrug neben Frodo ab und nahm neben ihm Platz.
„Oh ja, sehr gut, Herr Brandybock," sagte Frodo und hatte wieder dieses tapfere und doch dankbare Lächeln auf dem Gesicht, das Saradoc heute schon oft auf Frodos Gesicht bemerkt hatte, als er mit ihm sprach.
„Bedankt euch bei Esmeralda. Sie ist eine wahre Göttin, wenn es ums Kochen geht." Er lachte leise und nahm noch einen Schluck Bier.
„Das ist allerdings wahr," stimmte ihm Bilbo zu. Es war wohl allen bewusst, daß das Gespräch etwas gezwungen war. Doch wenn Hobbits eins von sich hielten, dann daß sie die höflichsten Geschöpfe Mittelerdes waren. Nicht, daß es immer der Realität entsprach, aber man behauptete es nun einmal gerne von sich.
Saradoc räusperte sich. „Nur falls Otho und Lobelia euch über den Weg laufen.... hört nicht auf sie, genauso wenig wie auf die meisten hier anwesenden. Es ist gut von dir, Bilbo, daß du ihn zu dir genommen hast. So sehr wir uns auch einen Sohn wünschen, ich glaube nicht, daß es gut gewesen wäre, wenn er an diesem erinnerungsträchtigen Ort geblieben wäre."
Bilbo nickte langsam. „Es ist nicht das erste Mal, daß ich mit lästernden Hobbits zu tun habe. Es ist ja nicht so, daß sie besonders viel etwas anderes tun in Hobbingen. Aber....." Er senkte die Stimme. „...für Frodo werde ich versuchen, es ein wenig einzudämmen."
Saradoc nickte den beiden zu und strich Frodo noch einmal über den Kopf. „Ich glaube, ich werde am Büffet gebraucht. Die Verwandschaft ruft."
Er lächelte und verzichtete darauf zu erwähnen, daß mehr als nur einige Hobbits am Büffet nach seiner Aufmerksamkeit drängende Verwandte waren und verließ die beiden wieder.
„Was ist mit Otho und Lobelia, Onkel?" fragte Frodo nach einer längeren Pause.
Bilbo seufzte leise. „Nichts, was dich beunruhigen sollte. Nur Gerede." Als er merkte, daß Frodo diese Antwort nicht befriedigte sprach er weiter. „Sie hoffen darauf, Beutelsend zu bekommen...... nachdem .........naja......."
Er wollte es nicht laut aussprechen und Frodos Gedanken nicht schon wieder zu den Verlusten hinverleiten, die ihn ohnehin ständig plagten. Doch Frodo verstand es auch so und senkte den Kopf.
„Dann werden sie es niemals bekommen." Seine Antwort war so leise, daß Bilbo sie fast nicht verstanden hätte.
Er nahm Frodos Hand. „Wollen wir vielleicht auf unsere Schlafkammer? Du wirkst etwas müde."
„Das bin ich auch, Onkel Bilbo." Er stellte sein Geschirr zusammen. „Ich bin wirklich müde."
***
Als Frodo erwachte, war er zuerst etwas irritiert. Das Morgenlicht strahlte so grell auf seine Lider, daß sie fast zu brennen schienen und auch sonst schien etwas anders zu sein, er konnte nur nicht ausmachen was.
Flatternd und langsam öffneten sich seine Augen.
Erst jetzt merkte er, daß er sich nicht in Beutelsend befand, sondern in einem der weiter oben gelegenen Gemächer des Brandyschlosses und der Morgen war nicht heller als sonst – die Fenster waren nur größer. Er stand fast schon zu ruckartig auf – ein leises Krachen war zu hören, was Frodo nur halb mitbekam - und ging zu einem davon und öffnete es weit, die kühle, sonnige Morgenluft einatmend.
Leise hörte er das Rauschen des Flusses von weiter unten und wünschte sich sofort, er hätte das Fenster nicht geöffnet. Oft hatte er in Beutelsend gegrübelt, wie der Unfall mit seinen Eltern nur passieren konnte, aber jetzt, wo er das Ufer des Gewässers direkt vor sich sah, kam alles zu ihm zurück. Nur eine oder zwei Meilen weiter nördlich war die Stelle gewesen.
Die Boote von Drogo und Primula waren nie direkt vor ihrem Zuhause angebunden gewesen, damit Frodo nicht auf dumme Gedanken kam. Bei dem Gedanken an die Sorgen seiner Eltern spürte er wieder die altbekannten Tränen in seinen Augen prickeln.
Natürlich war er trotzdem oft dagewesen, doch selten hatte er in einem der Boote gesessen..... es war an einem der stürmigsten Tage des Winterfilth (hobbitisch:Oktober) gewesen, die das Bockland je gesehen hatte und niemals wäre ein Brandyweinhobbit bei solch peitschendem Regen auf die Idee gekommen, mit dem Boot herauszufahren, doch am nächsten Tag war der Geburtstag von Primula gewesen und seit ihrer Hochzeit – die kurioserweise an ihrem Geburtstag stattgefunden hatte - hatte Drogo ihr an diesem Tag immer frischen Fisch zubereitet.
Doch Primula hatte nicht vor, ihn allein zu lassen. Eigentlich war es ihre Intention gewesen ihn aufzuhalten – das hatte Bilbo Frodo erzählt – doch der Klatsch ließ Gerüchte aufkommen, wie daß Primula ihn nur noch mehr drängen wollte und bis aufs Blut ihr Geburtstagsessen verlangt hatte und Drogo sogar ursprünglich veranlasst hätte, mit dem Boot rauszufahren. Doch das glaubte der junge Hobbit nicht. Er kannte seine Mutter und sie wurde von solchen Erzählungen immer anders dargestellt, wie er sie erlebt hatte.
Auf jeden Fall blieb Frodo allein zu Hause – er hatte keine Angst vor dem Sturm und Primula hätte das Haus auch nie verlassen, hätte er ihr das nicht versichert.
Die Erinnerung war vollkommen klar. An diesem klaren Morgen spürte Frodo sie deutlicher als selten zuvor und er konnte sich direkt vor dem prasselnden Kaminfeuer des Beutlinschen Hauses fühlen, das peitschende Grollen des Sturms von draußen fast übertönend. Er hatte ein Buch über die Kräuterkunde des Bocklands gelesen, das er in einer Kiste im Keller gefunden hatte und aß noch etwas von dem Kartoffeleintopf, den Primula zubereitet hatte. Er hörte genau das laute Knarzen der stockenden Tür, als sie aufgestossen wurde und seinen Schreck, als Esmeralda vollkommen durchnässt vor ihm knien sah, einen merkwürdig fremden Ausdruck in ihren Augen und auch bei ihrem nassen Gesicht konnte er ihre Tränen deutlich erkennen.
Sie nahm ihn in die Arme – er erinnerte sich genau, an die festen, beschützenden Arme der Hobbitfrau und an das klamme Gefühl ihres feuchten Kleides an seiner Wange und seinem Körper, als das Wasser seine Kleidung durchdrang – und flüsterte ihm mit rauer Stimme etwas zu, das er wohl niemals vergessen würde.
„Frodo, mein Junge, deine Eltern sind ertrunken."
„Frodo?"
Er zuckte so heftig zusammen, daß Bilbo einen Schritt zurücksprang. Er war noch im Brandyschlosses..... sein Nachthemd war trocken und das Rauschen des Flusses war ruhig und gleichmäßig, aber niemals würde es für den Hobbit wohl je wieder friedlich klingen.
„Mein Junge, ist alles in Ordnung?"
Frodo drehte sich um und nickte leicht. „Es geht schon wieder."
„Warum hast du dann geweint?"
Der junge Hobbit hob überrascht seine Finger an seine Wangen. Auch wenn er trocken war, unberührt von dem peitschenden nassen Sturms des wütenden Brandyweins seiner Erinnerung, seine Wangen waren feucht wie in jener Nacht die von Esmeralda Brandybock.
„Es ist nur........ der Fluss," sagte er leise und fiel resignierend in die Arme seines Onkels. „Werde ich ihn jemals wieder so hören können wie früher?"
„Du hast das Wasser geliebt und du wusstest um seine Kraft." Bilbo strich Frodo durch seine wirren dunklen Locken. „Ich kann es dir nicht sagen, lass lieber die Zeit dieses Rätsel lösen." Dann legte er seine Hände auf Frodos Schultern. „Willst du nicht dein Geschenk aufmachen?"
„Mein......Geschenk?"
„Du wirst doch nicht die hobbitischste aller Traditionen vergessen haben, zumal dich Saradoc gestern erst wieder daran erinnert hat." Er lächelte Frodo an und ging zu dessen Bett. „Du hast es heute morgen im Schrecken leider heruntergeworfen, ich hoffe, daß es noch heil ist."
Frodo nahm das kleine Päckchen von Bilbo an. „Kann ich es aufmachen, wenn wir wieder daheim sind? Ich meine......."
„Ich weiß schon, mein Junge. Komm, lass uns frühstücken. Wir müssen bald aufbrechen."
***
Saradoc umarmte Frodo noch einmal, bevor er ihn und Bilbo verabschiedete. Er hatte fast mehr Freude als bei den anderen Gästen empfunden, als sie angekommen waren, mehr Sorge besonders um das Wohlbefinden des jungen Beutlin und nun fand er es umso schwerer, ihn wieder gehen zu lassen. Er lebte noch ein wenig in der Zeit, als Frodo im Brandyschloss noch ein zweites Zuhause gehabt hatte. Fast wie ein Sohn war er für ihn geworden.
„Hast du dein Geschenk bekommen?"
Frodo nickte. „Vielen Dank, Herr Brandybock. Ich werde es öffnen, sobald ich daheim bin. Es ist so einfach besser gepolstert." Saradoc sah an Frodos Augen, daß dies nicht der einzige Grund war, aber er war durch und durch Hobbit – viel zu höflich es zu erwähnen.
„Natürlich. Ich werde mich auch gleich an deins machen. Den ganzen Abend habe ich gerätselt was es sein könnte." Er gab Frodo einen Kuss auf die Stirn und umarmte dessen Onkel. „Gute Heimreise."
Bilbo lächelte. „Danke für die Gastfreundschaft. Trotz allem."
Saradoc nickte ihm zu. „Gerade deshalb."
Er winkte ihnen noch eine Weile zu, als sie den Weg nach Hobbingen einschlugen und begab sich wieder in das Brandyschloss.
***
Author's Note: Das Kapitel mag etwas tragisch ausgefallen sein, aber das war durchaus Absicht. Keine Angst, die Geschichte wird auch noch andere Stimmungen erleben. Kapitel 2 ist fast fertig ;). Please review!
