Kapitel 3 - Gefangen
Der Morgen schlich sich wie ein willkommener Gast heran und als über den undurchdringlichen Bäumen die ersten Fetzen eines blauen Herbsthimmels zu sehen waren, packten Maeriel und Legolas ihre Habseligkeiten zusammen.
Maeriel tätschelte Adyial, die auf dem Waldboden nach Futter suchte und schützte Ruhe vor, während in ihrem Gehirn die Gedanken rasten.
"Ihr braucht mich wirklich nicht zu begleiten", sagte sie schließlich zu Legolas, der daraufhin vollkommen ruhig aufsah und sie mit einem reichlich abschätzenden Blick musterte.
"Ihr sagtet, Ihr würdet nach Norden reiten. Das werde auch ich tun. Es gibt also kein Grund, weswegen wir nicht Reisegefährten sein sollten. Es sei denn, Ihr habt etwas zu verbergen."
Maeriel schluckte eine harsche Antwort hinunter. Unsanft zog sie Adyial an den Zügeln und saß auf. Ganz gleich, was sie auch tat, sie bewegte sich einen Schritt neben dem Abgrund. Er war scharfsinnig, zu scharfsinnig, als dass ihm ihre Unruhe entgangen sein konnte.
Ohne auf ihn zu warten trabte sie an. Die Bewegung des Pferdes unter ihr schickte einen scharfen Schmerz durch ihre verletzte Hüfte, doch sie biss die Zähen zusammen. Legolas, der mühelos aufholte, sollte nichts davon merken.
So verging eine quälende Zeit, die sich durch Schweigen auszeichnete. Maeriel beobachtet den Lauf der Sonne über den selten zu erblickenden Himmel und wünschte sich, diesen beschleunigen zu können. Doch Gestirn blieb Gestirn und ihre Aufgebrachtheit dieselbe. Der Wald, an dessen Rand sie ritten, umgab sie an diesem Tag seltsam beschützend. Jeder Meter, den sie sich von ihrer Heimat entfernte, gab ihr mehr Sicherheit, gestattete ihr mehr Entscheidungsfreiheit. Sie hätte sich glücklich fühlen müssen und tat es nicht.
Aus den Augenwinkeln betrachtet sie ihren Begleiter, dem es trotz seines Schweigens gelang, einschüchternd zu wirken. Sie sollte einen Prinzen von Düsterwald heiraten. Und da sie wusste, dass seine Brüder alle einer Frau verbunden waren, blieb nur noch er übrig. Oder etwa nicht? Es war nicht zu bestreiten, dass er sehr gut aussah, aber seine beschützende, arrogante Art machte sie wahnsinnig. In seiner Gegenwart fühlte sie sich einfach noch jünger und unerfahrener, als sie war.
Also galt es, diesen unleidlichen Zustand zu beenden. Irgendwann gegen Mittag kann ihr der zündende Gedanke. Am vergangenen Abend war ihr aufgefallen, dass Legolas sehr wenig über seine Zeit in der Gemeinschaft des Ringes sprach. Dieses Verhalten musste einen Grund haben. Und das war ihr Ansatzpunkt.
"In einer Stunde erreichen wir meine Heimat", erklärte sie ihm und hoffte, dass er die Lüge nicht bemerkte. Aber wie auch? Tatsächlich gab es in dieser Entfernung eine kleine Ansiedlung. "Meine Familie wird Euch zu Ehren sicher ein Fest geben. Seit dem Ende der großen Ringe ist Euer Name in aller Mund. Mein Vater sagt, Ihr wärt ein wahrer Held. Er würde sich freuen, Eure Hand zu schütteln."
An dem kaum sichtbaren Zucken in Legolas' Gesicht erkannte sie, dass sie seinen wunden Punkt getroffen hatte. Offensichtlich hielt er rein gar nichts von Heldenverehrung.
"Eine Stunde sagt Ihr?", erkundigte er sich und überging ihre übrigen Worte geflissentlich. Innerlich frohlockte Maeriel, doch sie bemühte sich, eine enttäuschte Miene zu machen, als er, wie gewünscht, sagte: "Ich schlage vor, dass wir uns nun trennen. Mir bleibt leider keine Zeit für derartige Zerstreuung."
"Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Euch noch einmal für Eure Freundlichkeit zu danken", gab Maeriel zurück und fügte hinzu: "Ich glaube nicht, dass mir nun noch etwas zustoßen wird, zumal wir helllichten Tag haben. Seid also unbesorgt."
Ein seltsamer, nicht zu deutender Ausdruck verdüsterte Legolas' Miene. Für einen Moment dachte Maeriel, sie hätte ihre Freude über ihre Trennung zu offensichtlich gemacht, doch dann nickte der Elb.
"Suilaid, Maeriel."
"Gruß an Euch, Legolas!", gab sie höflich zurück und trieb ihr Pferd in Richtung Westen, wo die von ihr beschriebene Ansiedlung lag. Sie sah sich nicht um, doch sie spürte den nachdenklichen Blick grauer Augen noch eine lange Zeit in ihrem Rücken. Erst als sich die Bäume zwischen sie und den Prinzen schoben, konnte sich Maeriel entspannen. Das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, drängte sich ihr auf. Doch wahrscheinlich verwechselte sie diese Regung mit ihrer Dankbarkeit.
Als sie sich sicher war, dass Legolas außer Sichtweite war, lenkte sie Adyial wieder gen Norden. Sie würde zur alten Straße reiten, die den Düsterwald durchquerte, und dort entscheiden, wohin sie ging. Weiter im Norden gab es viele Zwerge und vor allem lag die Festung des Königs unweit des Gebirges. Vielleicht konnte sie es schaffen, vor Wintereinbruch einen der Pässe über das Nebelgebirge zu nehmen. In Bruchtal, so sagte man, gab es noch einige wenige Elben.
***
Der östliche Rand des Düsterwaldes, der in die große, grasbewachsene Ebene von Rhûn auslief, war undurchdringlich und abweisend. Dementsprechend war das Vorwärtskommen kompliziert und Maeriel musste mehr als einmal Umwege in Kauf nehmen, weil die Abstände zwischen den Bäumen zu klein oder die sich auftürmenden Wurzeln zu hoch waren, als dass Adyial sie hätte durchqueren können. Viele Geschichten, die in Mittelerde über Düsterwald erzählt wurden - und Maeriel kannte einige davon - erzählten, dass sich das uralte Gehölz gegen jeden verteidigte, der seinen Bewohnern schaden wollte. Doch nun kam es Maeriel so vor, als wolle der Forst sie daran hindern, weiterzureiten.
Seit ihrer Trennung von Legolas waren mehrere Stunden vergangen und die Sonne schwebte als glühender Ball kurz über dem Horizont. Die Temperaturen sanken langsam, ebenso wie Maeriels Stimmung. Das war es, was Du wolltest, meldete sich ihre innere Stimme erneut. Frustriert kämpfe Maeriel dagegen an. In Wirklichkeit war sie sich gar nicht mehr so sicher, was sie wollte. Die schnelle Flucht war eine rein emotionale Entscheidung gewesen. Ihre Tante Beriel pflegte zu sagen, dass Maeriels menschliche Seite in gewissen Situationen Überhand nahm. Das war nur zu wahr.
Aber Maeriel empfand dies nicht als negativ. Sie hatte ihren Vater sehr geliebt, und akzeptierte sein Erbe, das in ihr ruhte. Ereborn war ein Mann gewesen, der die Freiheit ebenso hoch schätzte wie sie selbst. Diese Angewohnheit hatte ihn oftmals zu seinen langen Reisen aus seiner Heimat und letztendlich auch in den Tod getrieben.
Stimmen drangen zwischen den Bäumen bis zu ihr, eine kehlige Sprache, die sie bisher noch nicht gehört hatte. Maeriel zügelte Adyial und lauschte. Es mussten Menschen sein. Einige wenige von ihnen lebten in diesen Wäldern, nördlich ihrer eigenen Heimat, in die Elben aus Lorien nach dem Ringkrieg eingewandert waren. Sie selbst erinnerte sich nur noch dunkel an die Reise, die sie als junges Mädchen mitgemacht hatte.
Ihre Stute begann zu tänzeln und so als lege es der Tag darauf an, ebenso zu enden wie der vergangene, tauchten plötzlich einige Wölfe zwischen den Bäumen auf. Als Maeriel genau hinsah, stellte sie fest, dass es dieselben waren wie am Vorabend. Sie mussten zu dem Menschen gehören, deren Stimmen langsam näher kamen. Maeriel seufzte und wollte fortreiten, da sprang plötzlich direkt vor ihr ein Mensch aus dem Gebüsch. Er war groß und muskulös. Tierfellen bekleideten seinen Körper und in Händen hielt er eine gefährlich aussehende Axt, deren tiefe Scharten von einigen Kämpfen sprachen.
Maeriel, wütend darüber, dass ihre Gedanken sie erneut die Konzentration gekostet hatten, langte nach ihrem Dolch, doch in diesem Moment schrie Adyial gequält auf. Der Mensch hatte seine Waffe in ihre Vorderbeine gerammt. Während die Stute zusammenbrach, sprang Maeriel behände aus dem Sattel. Wieder einmal stand sie ohne Fluchtmöglichkeit da. Sie blieb neben Adyials vor Schmerz zuckenden Leib stehen und starrte ihren Gegnern entgegen.
Schon witterten die ersten der Wölfe ihre Gegenwart. Augen blitzten zornig auf, Lefzen zogen sich nach oben. Weitere Menschen erschienen zwischen den Bäume, riesige Gestalten, die sich durch ihr Auftreten nicht als Waldbewohner erwiesen. Sie sahen aus, als kämen sie aus einer vielen kälteren Gegend.
Der Mann vor ihr grinste ihr ins Gesicht, als er sie angriff. Während er bedachtsam seine Axt schwang, überkam Maeriel das Gefühl, dass er sie nicht wirklich verletzten wollte, doch das war ihr herzlich egal. Er hatte ihr Pferd verwundet, ihre Begleiterin, die nun so schrie wie es nur ein sterbendes Wesen konnte.
Sie tauchte unter seinem Angriff hindurch und stieß ihr den langen Dolch in den Rücken. Sein Grinsen erstarb, als er zu Boden ging.
Etwas in ihr schrie eine Warnung und sie duckte sich. Ein Stein flog über sie hinweg und schlug klatschend an einem Baum auf. Doch er blieb nicht allein. Dutzende Geschosse, aus Fels und auch aus Metall prasselten ihr entgegen. Die Wölfe kamen näher, ebenso wie ihre Herren, die nun, da einer von ihnen gefallen waren, ihre Waffen unverkennbar drohend gepackt hielten.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung war. Der Krieger, den sie verwundet hatte, hatte sich wieder erhoben. Der kleine Moment der Ablenkung kam ihr teuer zu stehen. Sie hörte das Surren einer Schleuder; im selben Moment explodierte ein scharfer Schmerz in ihrem Kopf. Die Welt kippte und wurde schwarz.
***
Mit einem Schlag kehrte sie ins Bewusstsein zurück, aus der dunklen Welt wirrer Träume. Sie lag zusammengerollt auf der Seite, enge Fesseln hielten ihre Arme auf dem Rücken zusammen. Der Geruch von frischer Erde und Blut wandelte sich in ihrer Nase zu einer Übelkeit erregenden Mischung.
Maeriel hielt die Augen geschlossen und lauschte. Brennendes Holz knackte unweit von ihr. Viele Stimmen unterhielten sich in einer Sprache, die sie nicht verstand, doch der Tonfall genügte ihr, um zu verstehen, dass gefeiert wurde. Trunkenheit lag in den Stimmen, ebenso wie Aggression. Es musste Nacht sein, denn ein eisiger Wind strich über ihre Körper, der sich trotz des schützenden Elbenmantels ausgelaugt und kalt anfühlte. Einer der Wolfshunde knurrte.
Ihre linke Schläfe schmerzte zum Zerspringen und es dauerte einige Zeit, bis sie sich soweit konzentrieren konnte, dass das Drehen hinter ihren geschlossenen Augenlidern aufhörte. Ihre Gedanken glitten zurück zu dem kurzen Kampf. Ein Stein musste sie aus dem Hinterhalt getroffen haben. Eine neue Erinnerung vertrieb die alte, noch schmerzhafter und realer. Adyial war verletzt worden und nun wahrscheinlich tot. Kein Pferd, nicht einmal das ihre, konnte eine Verletzung beider Vorderläufe überleben. Maeriel schluckte ein paar heiße, unwillkommene Tränen hinunter.
Schritte näherten sich ihr und ehe sie es sich versah, hatte sie eine starke Faust am Arm gepackt und empor gezerrt. Sie schlug die Augen auf und blickte in ein bärtiges Männergesicht. Der Geruch von starkem Alkohol schlug ihr entgegen und sie versuchte, ihr Gesicht abzuwenden. Doch ihr ganzer Körper schien ihr nicht recht gehorchen zu wollen, und selbst als der Krieger sie in den Kreis seiner Kumpane zerrt und dort, direkt vor dem Feuer, zu Boden stieß, konnte sie sich nicht wehren.
Die Gespräche der Männer verstummten und alle Aufmerksamkeit wandte sich ihr zu. Einer der Krieger machte eine Bemerkung in seiner Sprache und ein dröhnendes Lachen ertönte, das Maeriel zusammenzucken ließ. Die Sprache der Augen und Körper war eindeutig. Der Wortführer erhob sich schwer von dem Baumstamm, auf dem er saß, und trat zu ihr. Abschätzend betrachtete er sie, als er sich neben sie hinkniete. Maeriel sah kommen, was geschah, doch der Mann war schneller. Mit einer geübten Geste griff in den Kragen ihres Hemdes und riss es bis zu ihrem Bauchnabel auf. Maeriel schrie und trat nach ihm, während sie sich auf die Seite warf und mit den Händen ihre Blöße zu bedecken suchte.
Doch der Mann ließ sich davon nicht abhalten. Schon griff er erneut nach ihr.
"Lasst mich in Ruhe!", schrei Maeriel, die sich nicht anders zu helfen wusste. "Meine Mutter ist Herrin in diesem Wald."
Nichts geschah. Doch als sie schon bereit war, alle Hoffnung fahren zu lassen, erklang eine befehlsgewohnte Stimme aus der Dunkelheit. Der Krieger über Maeriel ließ von ihr ab und zog sich mit unbewegter Miene zurück. Sie atmete zitternd durch und starrte dem Mann entgegen, der sie gerettet hatte.
Er unterschied sich kaum von den anderen. Sein Gesicht wurde von langem, blonden Haar und einem Bart bedeckt, seine Kleidung bestand aus Fellen und groben Stoffen. Doch als er erneut den Mund öffnete, erlebte sie eine Überraschung.
"Die Tochter einer Herrin, sagt Ihr?", erkundigte er sich in holprigem Elbisch und musterte sie genau. "Nichts an Euch lässt mich darauf schließen. Beweist es."
Maeriel Gedanken rasten. Wenn sie ihn überzeugte, dann würde sie das vor den Nachstellungen der Menschen retten. Zumindest vorerst. Doch wie sollte sie das anstellen? Bei ihrer Flucht hatte sie es darauf angelegt, möglichst unauffällig zu erscheinen und alle Zeugnisse ihrer Herkunft zurückgelassen. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Sie war verloren.
Der Morgen schlich sich wie ein willkommener Gast heran und als über den undurchdringlichen Bäumen die ersten Fetzen eines blauen Herbsthimmels zu sehen waren, packten Maeriel und Legolas ihre Habseligkeiten zusammen.
Maeriel tätschelte Adyial, die auf dem Waldboden nach Futter suchte und schützte Ruhe vor, während in ihrem Gehirn die Gedanken rasten.
"Ihr braucht mich wirklich nicht zu begleiten", sagte sie schließlich zu Legolas, der daraufhin vollkommen ruhig aufsah und sie mit einem reichlich abschätzenden Blick musterte.
"Ihr sagtet, Ihr würdet nach Norden reiten. Das werde auch ich tun. Es gibt also kein Grund, weswegen wir nicht Reisegefährten sein sollten. Es sei denn, Ihr habt etwas zu verbergen."
Maeriel schluckte eine harsche Antwort hinunter. Unsanft zog sie Adyial an den Zügeln und saß auf. Ganz gleich, was sie auch tat, sie bewegte sich einen Schritt neben dem Abgrund. Er war scharfsinnig, zu scharfsinnig, als dass ihm ihre Unruhe entgangen sein konnte.
Ohne auf ihn zu warten trabte sie an. Die Bewegung des Pferdes unter ihr schickte einen scharfen Schmerz durch ihre verletzte Hüfte, doch sie biss die Zähen zusammen. Legolas, der mühelos aufholte, sollte nichts davon merken.
So verging eine quälende Zeit, die sich durch Schweigen auszeichnete. Maeriel beobachtet den Lauf der Sonne über den selten zu erblickenden Himmel und wünschte sich, diesen beschleunigen zu können. Doch Gestirn blieb Gestirn und ihre Aufgebrachtheit dieselbe. Der Wald, an dessen Rand sie ritten, umgab sie an diesem Tag seltsam beschützend. Jeder Meter, den sie sich von ihrer Heimat entfernte, gab ihr mehr Sicherheit, gestattete ihr mehr Entscheidungsfreiheit. Sie hätte sich glücklich fühlen müssen und tat es nicht.
Aus den Augenwinkeln betrachtet sie ihren Begleiter, dem es trotz seines Schweigens gelang, einschüchternd zu wirken. Sie sollte einen Prinzen von Düsterwald heiraten. Und da sie wusste, dass seine Brüder alle einer Frau verbunden waren, blieb nur noch er übrig. Oder etwa nicht? Es war nicht zu bestreiten, dass er sehr gut aussah, aber seine beschützende, arrogante Art machte sie wahnsinnig. In seiner Gegenwart fühlte sie sich einfach noch jünger und unerfahrener, als sie war.
Also galt es, diesen unleidlichen Zustand zu beenden. Irgendwann gegen Mittag kann ihr der zündende Gedanke. Am vergangenen Abend war ihr aufgefallen, dass Legolas sehr wenig über seine Zeit in der Gemeinschaft des Ringes sprach. Dieses Verhalten musste einen Grund haben. Und das war ihr Ansatzpunkt.
"In einer Stunde erreichen wir meine Heimat", erklärte sie ihm und hoffte, dass er die Lüge nicht bemerkte. Aber wie auch? Tatsächlich gab es in dieser Entfernung eine kleine Ansiedlung. "Meine Familie wird Euch zu Ehren sicher ein Fest geben. Seit dem Ende der großen Ringe ist Euer Name in aller Mund. Mein Vater sagt, Ihr wärt ein wahrer Held. Er würde sich freuen, Eure Hand zu schütteln."
An dem kaum sichtbaren Zucken in Legolas' Gesicht erkannte sie, dass sie seinen wunden Punkt getroffen hatte. Offensichtlich hielt er rein gar nichts von Heldenverehrung.
"Eine Stunde sagt Ihr?", erkundigte er sich und überging ihre übrigen Worte geflissentlich. Innerlich frohlockte Maeriel, doch sie bemühte sich, eine enttäuschte Miene zu machen, als er, wie gewünscht, sagte: "Ich schlage vor, dass wir uns nun trennen. Mir bleibt leider keine Zeit für derartige Zerstreuung."
"Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Euch noch einmal für Eure Freundlichkeit zu danken", gab Maeriel zurück und fügte hinzu: "Ich glaube nicht, dass mir nun noch etwas zustoßen wird, zumal wir helllichten Tag haben. Seid also unbesorgt."
Ein seltsamer, nicht zu deutender Ausdruck verdüsterte Legolas' Miene. Für einen Moment dachte Maeriel, sie hätte ihre Freude über ihre Trennung zu offensichtlich gemacht, doch dann nickte der Elb.
"Suilaid, Maeriel."
"Gruß an Euch, Legolas!", gab sie höflich zurück und trieb ihr Pferd in Richtung Westen, wo die von ihr beschriebene Ansiedlung lag. Sie sah sich nicht um, doch sie spürte den nachdenklichen Blick grauer Augen noch eine lange Zeit in ihrem Rücken. Erst als sich die Bäume zwischen sie und den Prinzen schoben, konnte sich Maeriel entspannen. Das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, drängte sich ihr auf. Doch wahrscheinlich verwechselte sie diese Regung mit ihrer Dankbarkeit.
Als sie sich sicher war, dass Legolas außer Sichtweite war, lenkte sie Adyial wieder gen Norden. Sie würde zur alten Straße reiten, die den Düsterwald durchquerte, und dort entscheiden, wohin sie ging. Weiter im Norden gab es viele Zwerge und vor allem lag die Festung des Königs unweit des Gebirges. Vielleicht konnte sie es schaffen, vor Wintereinbruch einen der Pässe über das Nebelgebirge zu nehmen. In Bruchtal, so sagte man, gab es noch einige wenige Elben.
***
Der östliche Rand des Düsterwaldes, der in die große, grasbewachsene Ebene von Rhûn auslief, war undurchdringlich und abweisend. Dementsprechend war das Vorwärtskommen kompliziert und Maeriel musste mehr als einmal Umwege in Kauf nehmen, weil die Abstände zwischen den Bäumen zu klein oder die sich auftürmenden Wurzeln zu hoch waren, als dass Adyial sie hätte durchqueren können. Viele Geschichten, die in Mittelerde über Düsterwald erzählt wurden - und Maeriel kannte einige davon - erzählten, dass sich das uralte Gehölz gegen jeden verteidigte, der seinen Bewohnern schaden wollte. Doch nun kam es Maeriel so vor, als wolle der Forst sie daran hindern, weiterzureiten.
Seit ihrer Trennung von Legolas waren mehrere Stunden vergangen und die Sonne schwebte als glühender Ball kurz über dem Horizont. Die Temperaturen sanken langsam, ebenso wie Maeriels Stimmung. Das war es, was Du wolltest, meldete sich ihre innere Stimme erneut. Frustriert kämpfe Maeriel dagegen an. In Wirklichkeit war sie sich gar nicht mehr so sicher, was sie wollte. Die schnelle Flucht war eine rein emotionale Entscheidung gewesen. Ihre Tante Beriel pflegte zu sagen, dass Maeriels menschliche Seite in gewissen Situationen Überhand nahm. Das war nur zu wahr.
Aber Maeriel empfand dies nicht als negativ. Sie hatte ihren Vater sehr geliebt, und akzeptierte sein Erbe, das in ihr ruhte. Ereborn war ein Mann gewesen, der die Freiheit ebenso hoch schätzte wie sie selbst. Diese Angewohnheit hatte ihn oftmals zu seinen langen Reisen aus seiner Heimat und letztendlich auch in den Tod getrieben.
Stimmen drangen zwischen den Bäumen bis zu ihr, eine kehlige Sprache, die sie bisher noch nicht gehört hatte. Maeriel zügelte Adyial und lauschte. Es mussten Menschen sein. Einige wenige von ihnen lebten in diesen Wäldern, nördlich ihrer eigenen Heimat, in die Elben aus Lorien nach dem Ringkrieg eingewandert waren. Sie selbst erinnerte sich nur noch dunkel an die Reise, die sie als junges Mädchen mitgemacht hatte.
Ihre Stute begann zu tänzeln und so als lege es der Tag darauf an, ebenso zu enden wie der vergangene, tauchten plötzlich einige Wölfe zwischen den Bäumen auf. Als Maeriel genau hinsah, stellte sie fest, dass es dieselben waren wie am Vorabend. Sie mussten zu dem Menschen gehören, deren Stimmen langsam näher kamen. Maeriel seufzte und wollte fortreiten, da sprang plötzlich direkt vor ihr ein Mensch aus dem Gebüsch. Er war groß und muskulös. Tierfellen bekleideten seinen Körper und in Händen hielt er eine gefährlich aussehende Axt, deren tiefe Scharten von einigen Kämpfen sprachen.
Maeriel, wütend darüber, dass ihre Gedanken sie erneut die Konzentration gekostet hatten, langte nach ihrem Dolch, doch in diesem Moment schrie Adyial gequält auf. Der Mensch hatte seine Waffe in ihre Vorderbeine gerammt. Während die Stute zusammenbrach, sprang Maeriel behände aus dem Sattel. Wieder einmal stand sie ohne Fluchtmöglichkeit da. Sie blieb neben Adyials vor Schmerz zuckenden Leib stehen und starrte ihren Gegnern entgegen.
Schon witterten die ersten der Wölfe ihre Gegenwart. Augen blitzten zornig auf, Lefzen zogen sich nach oben. Weitere Menschen erschienen zwischen den Bäume, riesige Gestalten, die sich durch ihr Auftreten nicht als Waldbewohner erwiesen. Sie sahen aus, als kämen sie aus einer vielen kälteren Gegend.
Der Mann vor ihr grinste ihr ins Gesicht, als er sie angriff. Während er bedachtsam seine Axt schwang, überkam Maeriel das Gefühl, dass er sie nicht wirklich verletzten wollte, doch das war ihr herzlich egal. Er hatte ihr Pferd verwundet, ihre Begleiterin, die nun so schrie wie es nur ein sterbendes Wesen konnte.
Sie tauchte unter seinem Angriff hindurch und stieß ihr den langen Dolch in den Rücken. Sein Grinsen erstarb, als er zu Boden ging.
Etwas in ihr schrie eine Warnung und sie duckte sich. Ein Stein flog über sie hinweg und schlug klatschend an einem Baum auf. Doch er blieb nicht allein. Dutzende Geschosse, aus Fels und auch aus Metall prasselten ihr entgegen. Die Wölfe kamen näher, ebenso wie ihre Herren, die nun, da einer von ihnen gefallen waren, ihre Waffen unverkennbar drohend gepackt hielten.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung war. Der Krieger, den sie verwundet hatte, hatte sich wieder erhoben. Der kleine Moment der Ablenkung kam ihr teuer zu stehen. Sie hörte das Surren einer Schleuder; im selben Moment explodierte ein scharfer Schmerz in ihrem Kopf. Die Welt kippte und wurde schwarz.
***
Mit einem Schlag kehrte sie ins Bewusstsein zurück, aus der dunklen Welt wirrer Träume. Sie lag zusammengerollt auf der Seite, enge Fesseln hielten ihre Arme auf dem Rücken zusammen. Der Geruch von frischer Erde und Blut wandelte sich in ihrer Nase zu einer Übelkeit erregenden Mischung.
Maeriel hielt die Augen geschlossen und lauschte. Brennendes Holz knackte unweit von ihr. Viele Stimmen unterhielten sich in einer Sprache, die sie nicht verstand, doch der Tonfall genügte ihr, um zu verstehen, dass gefeiert wurde. Trunkenheit lag in den Stimmen, ebenso wie Aggression. Es musste Nacht sein, denn ein eisiger Wind strich über ihre Körper, der sich trotz des schützenden Elbenmantels ausgelaugt und kalt anfühlte. Einer der Wolfshunde knurrte.
Ihre linke Schläfe schmerzte zum Zerspringen und es dauerte einige Zeit, bis sie sich soweit konzentrieren konnte, dass das Drehen hinter ihren geschlossenen Augenlidern aufhörte. Ihre Gedanken glitten zurück zu dem kurzen Kampf. Ein Stein musste sie aus dem Hinterhalt getroffen haben. Eine neue Erinnerung vertrieb die alte, noch schmerzhafter und realer. Adyial war verletzt worden und nun wahrscheinlich tot. Kein Pferd, nicht einmal das ihre, konnte eine Verletzung beider Vorderläufe überleben. Maeriel schluckte ein paar heiße, unwillkommene Tränen hinunter.
Schritte näherten sich ihr und ehe sie es sich versah, hatte sie eine starke Faust am Arm gepackt und empor gezerrt. Sie schlug die Augen auf und blickte in ein bärtiges Männergesicht. Der Geruch von starkem Alkohol schlug ihr entgegen und sie versuchte, ihr Gesicht abzuwenden. Doch ihr ganzer Körper schien ihr nicht recht gehorchen zu wollen, und selbst als der Krieger sie in den Kreis seiner Kumpane zerrt und dort, direkt vor dem Feuer, zu Boden stieß, konnte sie sich nicht wehren.
Die Gespräche der Männer verstummten und alle Aufmerksamkeit wandte sich ihr zu. Einer der Krieger machte eine Bemerkung in seiner Sprache und ein dröhnendes Lachen ertönte, das Maeriel zusammenzucken ließ. Die Sprache der Augen und Körper war eindeutig. Der Wortführer erhob sich schwer von dem Baumstamm, auf dem er saß, und trat zu ihr. Abschätzend betrachtete er sie, als er sich neben sie hinkniete. Maeriel sah kommen, was geschah, doch der Mann war schneller. Mit einer geübten Geste griff in den Kragen ihres Hemdes und riss es bis zu ihrem Bauchnabel auf. Maeriel schrie und trat nach ihm, während sie sich auf die Seite warf und mit den Händen ihre Blöße zu bedecken suchte.
Doch der Mann ließ sich davon nicht abhalten. Schon griff er erneut nach ihr.
"Lasst mich in Ruhe!", schrei Maeriel, die sich nicht anders zu helfen wusste. "Meine Mutter ist Herrin in diesem Wald."
Nichts geschah. Doch als sie schon bereit war, alle Hoffnung fahren zu lassen, erklang eine befehlsgewohnte Stimme aus der Dunkelheit. Der Krieger über Maeriel ließ von ihr ab und zog sich mit unbewegter Miene zurück. Sie atmete zitternd durch und starrte dem Mann entgegen, der sie gerettet hatte.
Er unterschied sich kaum von den anderen. Sein Gesicht wurde von langem, blonden Haar und einem Bart bedeckt, seine Kleidung bestand aus Fellen und groben Stoffen. Doch als er erneut den Mund öffnete, erlebte sie eine Überraschung.
"Die Tochter einer Herrin, sagt Ihr?", erkundigte er sich in holprigem Elbisch und musterte sie genau. "Nichts an Euch lässt mich darauf schließen. Beweist es."
Maeriel Gedanken rasten. Wenn sie ihn überzeugte, dann würde sie das vor den Nachstellungen der Menschen retten. Zumindest vorerst. Doch wie sollte sie das anstellen? Bei ihrer Flucht hatte sie es darauf angelegt, möglichst unauffällig zu erscheinen und alle Zeugnisse ihrer Herkunft zurückgelassen. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Sie war verloren.
