Kapitel 4 - Der Weg nach Norden
Schmerz und Angst wogten in Maeriel wie zwei furchtbare Gezeiten. Sie setzte sich auf, die eine Hand noch immer krampfhaft um die Fetzen ihres Hemdes gekrallt und erwiderte den Blick des elbisch sprechenden Menschen mit, wie sie hoffte, stoischer Gleichmut.
"Ich warte", sagte er und wies mit dem Kopf auf seine Gefährten. "Wir sind weit gereist und haben lange keine Frau mehr gehabt."
"Warum macht es für Euch einen Unterschied, welche Mutter mich geboren hat?", wollte Maeriel wissen. Sie musste Zeit schinden, einen Ausweg finden. Ihre Augen glitten zählend über die Übermacht der Menschen. Insgesamt über zwei Dutzend. Hoffnungslosigkeit bemächtigte sich ihrer, als sie schließlich ihren Beinen vertrauen konnte und sich würdevoll erhob. Sofort griffen einige Männer nach ihren Waffen. Die Situation war fast lächerlich, aber Maeriel war nicht zum Lachen zumute. Sie, die in jedem Kampf bisher kläglich versagt hatte, wurde nun behandelt wie ein gefährlicher Gegner.
"Wenn Ihr von edler Geburt seid, könnt Ihr uns nützen. Wenn nicht -." Der Krieger brachte den Satz nicht zu Ende. Auch in seinen Augen stand ein Hunger, der Maeriel verunsicherte. Sie konnte sich vorstellen, was ihr bevorstand. Menschen bewunderten und fürchteten Elben und es würde eine doppelte Freude für sie sein, eine Angehörige dieses Volkes zu besitzen.
In dem Moment, in dem die Spannung nicht mehr auszuhalten war, geschah es. Rufe ertönten aus dem Wald, anscheinend von Wachposten, die die Menschen um das Lager platziert hatten. Im nächsten Moment teilte sich das Dickicht und ein Mann erschien, der sein Pferd am Zügel hinter sich herführte.
Maeriel starrte fassungslos auf die Gestalt und fragte sich, ob sie träumte. Legolas war zurückgekehrt und mit einer provozierenden Gleichgültigkeit trat er mitten in das Lager hinein. Die Menschen schienen einen Moment wie gebannt und erst nach einer kleinen Weile sickerte die Erkenntnis, was vor sich ging, bei ihnen durch. Doch niemand bewegte sich.
Das Gemurmel, das aufkam, zeichnete sich durch Verwunderung und auch Unsicherheit aus, zumal Legolas einem der Menschen die Zügel seines Pferdes übergab wie einem einfachen Stallburschen. Erst als sich ein Krieger ihm in den Weg stellte, blieb Legolas stehen. Ein stummes Kräftemessen fand statt, das Legolas aufgab, indem er dem anderen seinen Bogen und die beiden langen Messer übergab, die er bei sich trug.
Dann ging er zum Feuer, groß und schlank, in seiner Erscheinung das genaue Gegenteil der Männer, die Maeriel umgaben. Er blickte sie an und Besorgnis zeichnete seine Züge.
"Seid Ihr unversehrt?", erkundigte er sich und unverhohlene Besorgnis sprach aus seinen Zügen. Maeriel war viel zu verdutzt, um auch nur einen Ton hervorzubringen. Dafür löste sich nun ihr menschlicher Gesprächspartner aus seiner Erstarrung.
"Wer seid Ihr?", fuhr er Legolas in dessen Sprache an und gab den übrigen Männern ein Zeichen, die nun langsam näherrückten. "Ihr müsst verrückt sein, hierher zu kommen."
Der Elb richtete sich noch ein Stück weit mehr auf und ließ einen verächtlichen Blick über die Versammelten schweifen. Seine Stimme klang eisig und voller Hoheit, als er auf die Frage antwortete.
"Ich bin Legolas, Sohn Thranduils, des Königs dieses Waldes. Wenn Ihr einen Elben entführen wollt, aus welchem Grund auch immer, dann nehmt mich."
Um den bärtigen Mund des Menschen zuckte ein leichtes Lächeln.
"Ich bin Thoran, Sprecher dieser Gruppe. Und wir werden Euch beiden mit Vergnügen unsere Gastfreundschaft anbieten."
***
"Ist das Eure Vorstellung von einer Rettung?" Maeriel konnte Legolas zwar nicht sehen, da sie Rücken an Rücken aneinandergebunden waren, aber das hinderte sie nicht daran, sich aufzuregen.
"Wenn Ihr es nicht ständig schaffen würdet, Euch in Schwierigkeiten hineinzumanövrieren, hätte ich nicht improvisieren müssen."
Maeriel wollte noch etwas sagen, doch sie klappte den Mund wieder zu. Er hatte Recht. Im Grunde genommen war sie ihm sehr dankbar, dass er zurückgekehrt war. Sie hätte sich zwar am liebsten auf die Zunge gebissen, trotzdem flüsterte sie kleinlaut:
"Danke." Er reagierte nicht, also wurde sie wieder mutiger. "Aber wieso habt Ihr nicht Hilfe geholt und habt mich dann gerettet?"
"Ich entdeckte Spuren der Menschen und ihrer Wölfe. Daraufhin ritt ich zurück in das Dorf, das Ihr mir beschrieben hattet. Dort kannte man Euch zwar nicht, aber man konnte mir zumindest sagen, dass Ihr nicht angekommen wart. Also - da ich Eure Begabung für solche Situationen zu kennen glaube - suchte ich Euch, fand die Stätte des Kampfes und kam her. Nicht zu spät." Dankbar dafür, dass er ihr keine Fragen über ihre nun aufgedeckte Lüge stellte, schwieg Maeriel. "Und ich habe offensichtlich das Schlimmste verhindert. Nun, da wir zu zweit sind, wird es sie etwas von Euch ablenken. Da Ihr vorerst außer Gefahr sei, haben wir genug Zeit, unsere Flucht zu planen. Falls wir es aus eigener Kraft nicht schaffen, ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis Gimli uns zur Hilfe kommt."
"Gimli? Der Zwerg? Wie soll er uns finden?" Maeriels Mut sank. Sie war noch niemals einem Zwerg begegnet, aber von der Fähigkeit der Bergbewohner, Spuren zu finden, hatte sie nichts Gutes gehört.
"Ich habe Boten aus dem Dorf zu ihm und zu meiner Familie geschickt. Er ist in Richtung des Gebirges aufgebrochen und wir wollten uns an einem Ort in der Nähe des einsamen Berges treffen. Er hat mein vollstes Vertrauen in dieser Sache."
"Das ist schon sehr seltsam, ein Elb und ein Zwerg." Maeriel musste lächeln, doch als Thoran in ihre Richtung blickte und die Stirn runzelte, verging diese Regung wieder. Man hatte ihnen verboten zu sprechen und sie zweifelte nicht daran, dass den Drohungen bei Nichtbeachtung des Gebots Taten folgen würden. Legolas folgte ihrem Blick, sie spürte es an der Bewegung seines Kopfes, der an ihrem ruhte. Sofort senkte er seine Stimme noch weiter, bis selbst sie ihn kaum noch verstehen konnte.
"Nicht seltsamer als eine Elbin, die völlig allein durch diesen Wald zieht, jedem misstraut und dennoch vorgibt, die Tochter einer Herrin zu sein."
Maeriel seufzte. Wenn er nur wüsste, wie sehr sie mit sich selbst kämpfte, ihm nicht die volle Wahrheit zu sagen. Immerhin verdiente er es, denn nun hatte er ihr schon zwei Mal Leib und Leben gerettet. Bei allem Misstrauen und Ablehnung gebot es ihre Ehre, ihn aufzuklären. Doch es war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit.
"Vertraut mir, Legolas, meine Gründe würden Euch nicht interessieren. Was gut zu erfahren wäre, ist, warum sie mich verschonten, als ich ihnen erzählte, wer meine Mutter sei. Habt Ihr eine Antwort darauf?"
Legolas schwieg für einen Moment und Maeriel dachte schon, dass man sie wieder beobachtete, doch dem war nicht so. Die Menschen lagen zum Teil im Schlaf, einige saßen noch am Feuer und hingen ihren Gedanken nach. Warum nur hatten sie die Gefangennahme zweier Elben so frenetisch gefeiert. Welchen Wert besaßen sie und Legolas?
"Was immer sie planen, wir scheinen wertvolle Geiseln zu sein. Vielleicht wollen Sie sich der Hilfe unseres Volkes sicher sein. Und was Euch betrifft - nun, da ich Ihnen bestätigte, dass Ihr edlen Geblüts seid, legen sie großen Wert auf Eure Unversehrtheit. Ich möchte Euch nicht erschrecken, aber vielleicht seid Ihr als Geschenk für einen der Männer vorgesehen. Einen Mann hohen Ranges womöglich, der sich mit Euch schmücken möchte." Maeriel konnte sich ein Lachen nicht mehr verkneifen, ein bitterer Laut, erzeugt vom Paradoxon der Situation, in der sie sich befand. Sie floh vor einer Ehe mit einem Mann ihren Volkes, der ihr jedoch nun als geringeres Übel erschien und landete womöglich in den Armen eines menschlichen Tieres. Sie wünschte, sie hätte diese ganze Reise nie getan. "Es tut mir Leid um Euer Pferd."
"Es war nur ein Pferd", sagte Maeriel bitter und gab sich dem Selbstmitleid hin.
***
Am nächsten Morgen brachen die Krieger zeitig auf. Sie besaßen nur wenige Packpferde, stämmige Kaltblüter, was Maeriels Vermutung, dass die Männer aus dem Norden jenseits der Eisenberge stammten, noch verstärkte. Genau diese Richtung schlugen sie auch ein, doch zunächst ließen sie den Wald, an dessen Rand sie sich bewegt hatten, hinter sich. Vor Maeriels Augen erstreckte sich die große Weite der Ebene von Rhûn, einem feindlichen Ort, in dem nur wenige Wesen lebten.
Einst hatte es dort große Königreiche gegeben, doch diese waren längst im Staub versunken. Jetzt, nach dem Krieg und der Vernichtung Saurons, siedelten dort wieder einige Menschen, gleich den Beorninger und Waldmenschen im Düsterwald, dem man nun den Namen Eryn Lasgalen gegeben hatte, den Wald der grünen Blätter.
Mit Wehmut blickte Maeriel über die Schulter zum Forst zurück, als sie neben Legolas über die Ebene schritt. Was sie dort verachtet hatte, die starren Regeln ihrer Kolonie, die Strenge ihrer Tante, erschien ihr jetzt als die einzige Sicherheit, die sie jemals besessen hatte.
Du hast nur noch Dich selbst, Maeriel, flüsterte ihr Kopf. Sieh doch, wie wenig sie Dich auf die Welt vorbereitet haben, mein armes, kleines Mädchen. Aber unsere Zeit wird kommen.
Maeriel schreckte hoch, weil Legolas sie angesprochen hatte. Geduldig wiederholte er seine Frage, obwohl in ihrem Rücken einige Krieger gingen, deren Missmut über die in elbisch gehaltenen Gespräche durch deutlich zu spüren war.
"Van mathach? Schmerzt Euch Euer Kopf?"
Maeriel tastete mit ihren vor dem Körper gefesselten Armen nach ihrer Schläfe, an der noch getrocknetes Blut klebte. Die Wunde heilte sehr gut, ebenso wie die an ihrer Hüfte, um die noch immer das Tuchgeschlungen war, das Legolas ihr bei ihrer ersten Begegnung gegeben hatte.
"Nein, es ist alles in Ordnung. Wenn man in unsere Situation überhaupt davon reden kann." Sie wusste, wie verstockt sie klang, aber es machte ihr nichts aus. Legolas reagierte zu ihrem Glück nicht mit seiner gewohnten Überheblichkeit darauf. Sie sah lediglich, wie jener bestimmte, halb amüsierte, halb dünkelhafte Ausdruck in seine Augen trat, der sie jedes Mal wütend machte. Doch dieses Mal nicht. Sie war einfach zu müde, um noch groß fühlen oder denken zu können.
Der Tag verging in quälender Langsamkeit. Alles, woran sich Maeriel orientieren konnte, war der Stand der matten Sonne und der Rhythmus ihrer Füße, die auf staubigen, öden Boden trafen. Es schien ihr, als sei alles Leben in dieser Region der Welt in den Wäldern gespeichert. Rhûn war eine Wüste.
Die Pausen waren selten und kurz. Hin und wieder gab mir ihr und Legolas etwas Wasser und etwas von den wenigen Vorräten, die sich in den Taschen von Legolas Pferd befanden, das man als zusätzliches Packtier nutzte. Das getrocknete Fleisch, das man ihr anbot, lehnte sie angewidert ab.
Als sich die Sonne dem Horizont näherte, glomm der Himmel in allen Tönen von Rot auf, so als sei Blut über das Firmament verspritzt worden. Die Menschen wurden unruhig, begannen zu tuscheln. Doch es war nicht das Omen, das der Himmel darstellte, was sie fürchteten. Das wurde Maeriel klar, als sie am Horizont im Nordosten eine kleine Staubwolke erblickte, die sich stetig näherte. Legolas verständigte sich durch einen raschen Blick mit ihr. Etwas Bedeutsames stand an, und es blieb nur zu hoffen, dass es keine unangenehmen Überraschungen für die bot.
In der Wolke des aufgewirbelten Staubes ließen sich irgendwann Gestalten erkennen, Berittene, die sich mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu bewegten. Maeriels Innerstes krampfte sich zusammen. Vielleicht war dies die erwartete Rettung, immerhin war es nicht die Art ihrer Entführer, Pferde zu nutzen. Doch dann, nach einer kleinen Weile, als die Männer schon sehr nahe waren, erkannte sie, dass sie sich geirrt hatte.
Es waren Menschen, auf kleinen sehnigen Tieren, die für die Beschaffenheit der Region typisch waren. Ihnen voran flatterte stolz ein Banner, dessen Zeichen Maeriel zunächst nicht zu deuten wusste. Doch dann packte sie die Erkenntnis mit unnachgiebiger Härte.
Das Bild auf der Flagge stellte eine Krähe dar, eine schwarzen Vogel, dessen Flügel aggressiv in Angriffshaltung abgespreizt waren. Kälte bemächtigte sich Maeriels. Es schien, dass sich ihr das Schicksal nun offenbarte. Ihr, dem Kind der Krähen.
Schmerz und Angst wogten in Maeriel wie zwei furchtbare Gezeiten. Sie setzte sich auf, die eine Hand noch immer krampfhaft um die Fetzen ihres Hemdes gekrallt und erwiderte den Blick des elbisch sprechenden Menschen mit, wie sie hoffte, stoischer Gleichmut.
"Ich warte", sagte er und wies mit dem Kopf auf seine Gefährten. "Wir sind weit gereist und haben lange keine Frau mehr gehabt."
"Warum macht es für Euch einen Unterschied, welche Mutter mich geboren hat?", wollte Maeriel wissen. Sie musste Zeit schinden, einen Ausweg finden. Ihre Augen glitten zählend über die Übermacht der Menschen. Insgesamt über zwei Dutzend. Hoffnungslosigkeit bemächtigte sich ihrer, als sie schließlich ihren Beinen vertrauen konnte und sich würdevoll erhob. Sofort griffen einige Männer nach ihren Waffen. Die Situation war fast lächerlich, aber Maeriel war nicht zum Lachen zumute. Sie, die in jedem Kampf bisher kläglich versagt hatte, wurde nun behandelt wie ein gefährlicher Gegner.
"Wenn Ihr von edler Geburt seid, könnt Ihr uns nützen. Wenn nicht -." Der Krieger brachte den Satz nicht zu Ende. Auch in seinen Augen stand ein Hunger, der Maeriel verunsicherte. Sie konnte sich vorstellen, was ihr bevorstand. Menschen bewunderten und fürchteten Elben und es würde eine doppelte Freude für sie sein, eine Angehörige dieses Volkes zu besitzen.
In dem Moment, in dem die Spannung nicht mehr auszuhalten war, geschah es. Rufe ertönten aus dem Wald, anscheinend von Wachposten, die die Menschen um das Lager platziert hatten. Im nächsten Moment teilte sich das Dickicht und ein Mann erschien, der sein Pferd am Zügel hinter sich herführte.
Maeriel starrte fassungslos auf die Gestalt und fragte sich, ob sie träumte. Legolas war zurückgekehrt und mit einer provozierenden Gleichgültigkeit trat er mitten in das Lager hinein. Die Menschen schienen einen Moment wie gebannt und erst nach einer kleinen Weile sickerte die Erkenntnis, was vor sich ging, bei ihnen durch. Doch niemand bewegte sich.
Das Gemurmel, das aufkam, zeichnete sich durch Verwunderung und auch Unsicherheit aus, zumal Legolas einem der Menschen die Zügel seines Pferdes übergab wie einem einfachen Stallburschen. Erst als sich ein Krieger ihm in den Weg stellte, blieb Legolas stehen. Ein stummes Kräftemessen fand statt, das Legolas aufgab, indem er dem anderen seinen Bogen und die beiden langen Messer übergab, die er bei sich trug.
Dann ging er zum Feuer, groß und schlank, in seiner Erscheinung das genaue Gegenteil der Männer, die Maeriel umgaben. Er blickte sie an und Besorgnis zeichnete seine Züge.
"Seid Ihr unversehrt?", erkundigte er sich und unverhohlene Besorgnis sprach aus seinen Zügen. Maeriel war viel zu verdutzt, um auch nur einen Ton hervorzubringen. Dafür löste sich nun ihr menschlicher Gesprächspartner aus seiner Erstarrung.
"Wer seid Ihr?", fuhr er Legolas in dessen Sprache an und gab den übrigen Männern ein Zeichen, die nun langsam näherrückten. "Ihr müsst verrückt sein, hierher zu kommen."
Der Elb richtete sich noch ein Stück weit mehr auf und ließ einen verächtlichen Blick über die Versammelten schweifen. Seine Stimme klang eisig und voller Hoheit, als er auf die Frage antwortete.
"Ich bin Legolas, Sohn Thranduils, des Königs dieses Waldes. Wenn Ihr einen Elben entführen wollt, aus welchem Grund auch immer, dann nehmt mich."
Um den bärtigen Mund des Menschen zuckte ein leichtes Lächeln.
"Ich bin Thoran, Sprecher dieser Gruppe. Und wir werden Euch beiden mit Vergnügen unsere Gastfreundschaft anbieten."
***
"Ist das Eure Vorstellung von einer Rettung?" Maeriel konnte Legolas zwar nicht sehen, da sie Rücken an Rücken aneinandergebunden waren, aber das hinderte sie nicht daran, sich aufzuregen.
"Wenn Ihr es nicht ständig schaffen würdet, Euch in Schwierigkeiten hineinzumanövrieren, hätte ich nicht improvisieren müssen."
Maeriel wollte noch etwas sagen, doch sie klappte den Mund wieder zu. Er hatte Recht. Im Grunde genommen war sie ihm sehr dankbar, dass er zurückgekehrt war. Sie hätte sich zwar am liebsten auf die Zunge gebissen, trotzdem flüsterte sie kleinlaut:
"Danke." Er reagierte nicht, also wurde sie wieder mutiger. "Aber wieso habt Ihr nicht Hilfe geholt und habt mich dann gerettet?"
"Ich entdeckte Spuren der Menschen und ihrer Wölfe. Daraufhin ritt ich zurück in das Dorf, das Ihr mir beschrieben hattet. Dort kannte man Euch zwar nicht, aber man konnte mir zumindest sagen, dass Ihr nicht angekommen wart. Also - da ich Eure Begabung für solche Situationen zu kennen glaube - suchte ich Euch, fand die Stätte des Kampfes und kam her. Nicht zu spät." Dankbar dafür, dass er ihr keine Fragen über ihre nun aufgedeckte Lüge stellte, schwieg Maeriel. "Und ich habe offensichtlich das Schlimmste verhindert. Nun, da wir zu zweit sind, wird es sie etwas von Euch ablenken. Da Ihr vorerst außer Gefahr sei, haben wir genug Zeit, unsere Flucht zu planen. Falls wir es aus eigener Kraft nicht schaffen, ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis Gimli uns zur Hilfe kommt."
"Gimli? Der Zwerg? Wie soll er uns finden?" Maeriels Mut sank. Sie war noch niemals einem Zwerg begegnet, aber von der Fähigkeit der Bergbewohner, Spuren zu finden, hatte sie nichts Gutes gehört.
"Ich habe Boten aus dem Dorf zu ihm und zu meiner Familie geschickt. Er ist in Richtung des Gebirges aufgebrochen und wir wollten uns an einem Ort in der Nähe des einsamen Berges treffen. Er hat mein vollstes Vertrauen in dieser Sache."
"Das ist schon sehr seltsam, ein Elb und ein Zwerg." Maeriel musste lächeln, doch als Thoran in ihre Richtung blickte und die Stirn runzelte, verging diese Regung wieder. Man hatte ihnen verboten zu sprechen und sie zweifelte nicht daran, dass den Drohungen bei Nichtbeachtung des Gebots Taten folgen würden. Legolas folgte ihrem Blick, sie spürte es an der Bewegung seines Kopfes, der an ihrem ruhte. Sofort senkte er seine Stimme noch weiter, bis selbst sie ihn kaum noch verstehen konnte.
"Nicht seltsamer als eine Elbin, die völlig allein durch diesen Wald zieht, jedem misstraut und dennoch vorgibt, die Tochter einer Herrin zu sein."
Maeriel seufzte. Wenn er nur wüsste, wie sehr sie mit sich selbst kämpfte, ihm nicht die volle Wahrheit zu sagen. Immerhin verdiente er es, denn nun hatte er ihr schon zwei Mal Leib und Leben gerettet. Bei allem Misstrauen und Ablehnung gebot es ihre Ehre, ihn aufzuklären. Doch es war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit.
"Vertraut mir, Legolas, meine Gründe würden Euch nicht interessieren. Was gut zu erfahren wäre, ist, warum sie mich verschonten, als ich ihnen erzählte, wer meine Mutter sei. Habt Ihr eine Antwort darauf?"
Legolas schwieg für einen Moment und Maeriel dachte schon, dass man sie wieder beobachtete, doch dem war nicht so. Die Menschen lagen zum Teil im Schlaf, einige saßen noch am Feuer und hingen ihren Gedanken nach. Warum nur hatten sie die Gefangennahme zweier Elben so frenetisch gefeiert. Welchen Wert besaßen sie und Legolas?
"Was immer sie planen, wir scheinen wertvolle Geiseln zu sein. Vielleicht wollen Sie sich der Hilfe unseres Volkes sicher sein. Und was Euch betrifft - nun, da ich Ihnen bestätigte, dass Ihr edlen Geblüts seid, legen sie großen Wert auf Eure Unversehrtheit. Ich möchte Euch nicht erschrecken, aber vielleicht seid Ihr als Geschenk für einen der Männer vorgesehen. Einen Mann hohen Ranges womöglich, der sich mit Euch schmücken möchte." Maeriel konnte sich ein Lachen nicht mehr verkneifen, ein bitterer Laut, erzeugt vom Paradoxon der Situation, in der sie sich befand. Sie floh vor einer Ehe mit einem Mann ihren Volkes, der ihr jedoch nun als geringeres Übel erschien und landete womöglich in den Armen eines menschlichen Tieres. Sie wünschte, sie hätte diese ganze Reise nie getan. "Es tut mir Leid um Euer Pferd."
"Es war nur ein Pferd", sagte Maeriel bitter und gab sich dem Selbstmitleid hin.
***
Am nächsten Morgen brachen die Krieger zeitig auf. Sie besaßen nur wenige Packpferde, stämmige Kaltblüter, was Maeriels Vermutung, dass die Männer aus dem Norden jenseits der Eisenberge stammten, noch verstärkte. Genau diese Richtung schlugen sie auch ein, doch zunächst ließen sie den Wald, an dessen Rand sie sich bewegt hatten, hinter sich. Vor Maeriels Augen erstreckte sich die große Weite der Ebene von Rhûn, einem feindlichen Ort, in dem nur wenige Wesen lebten.
Einst hatte es dort große Königreiche gegeben, doch diese waren längst im Staub versunken. Jetzt, nach dem Krieg und der Vernichtung Saurons, siedelten dort wieder einige Menschen, gleich den Beorninger und Waldmenschen im Düsterwald, dem man nun den Namen Eryn Lasgalen gegeben hatte, den Wald der grünen Blätter.
Mit Wehmut blickte Maeriel über die Schulter zum Forst zurück, als sie neben Legolas über die Ebene schritt. Was sie dort verachtet hatte, die starren Regeln ihrer Kolonie, die Strenge ihrer Tante, erschien ihr jetzt als die einzige Sicherheit, die sie jemals besessen hatte.
Du hast nur noch Dich selbst, Maeriel, flüsterte ihr Kopf. Sieh doch, wie wenig sie Dich auf die Welt vorbereitet haben, mein armes, kleines Mädchen. Aber unsere Zeit wird kommen.
Maeriel schreckte hoch, weil Legolas sie angesprochen hatte. Geduldig wiederholte er seine Frage, obwohl in ihrem Rücken einige Krieger gingen, deren Missmut über die in elbisch gehaltenen Gespräche durch deutlich zu spüren war.
"Van mathach? Schmerzt Euch Euer Kopf?"
Maeriel tastete mit ihren vor dem Körper gefesselten Armen nach ihrer Schläfe, an der noch getrocknetes Blut klebte. Die Wunde heilte sehr gut, ebenso wie die an ihrer Hüfte, um die noch immer das Tuchgeschlungen war, das Legolas ihr bei ihrer ersten Begegnung gegeben hatte.
"Nein, es ist alles in Ordnung. Wenn man in unsere Situation überhaupt davon reden kann." Sie wusste, wie verstockt sie klang, aber es machte ihr nichts aus. Legolas reagierte zu ihrem Glück nicht mit seiner gewohnten Überheblichkeit darauf. Sie sah lediglich, wie jener bestimmte, halb amüsierte, halb dünkelhafte Ausdruck in seine Augen trat, der sie jedes Mal wütend machte. Doch dieses Mal nicht. Sie war einfach zu müde, um noch groß fühlen oder denken zu können.
Der Tag verging in quälender Langsamkeit. Alles, woran sich Maeriel orientieren konnte, war der Stand der matten Sonne und der Rhythmus ihrer Füße, die auf staubigen, öden Boden trafen. Es schien ihr, als sei alles Leben in dieser Region der Welt in den Wäldern gespeichert. Rhûn war eine Wüste.
Die Pausen waren selten und kurz. Hin und wieder gab mir ihr und Legolas etwas Wasser und etwas von den wenigen Vorräten, die sich in den Taschen von Legolas Pferd befanden, das man als zusätzliches Packtier nutzte. Das getrocknete Fleisch, das man ihr anbot, lehnte sie angewidert ab.
Als sich die Sonne dem Horizont näherte, glomm der Himmel in allen Tönen von Rot auf, so als sei Blut über das Firmament verspritzt worden. Die Menschen wurden unruhig, begannen zu tuscheln. Doch es war nicht das Omen, das der Himmel darstellte, was sie fürchteten. Das wurde Maeriel klar, als sie am Horizont im Nordosten eine kleine Staubwolke erblickte, die sich stetig näherte. Legolas verständigte sich durch einen raschen Blick mit ihr. Etwas Bedeutsames stand an, und es blieb nur zu hoffen, dass es keine unangenehmen Überraschungen für die bot.
In der Wolke des aufgewirbelten Staubes ließen sich irgendwann Gestalten erkennen, Berittene, die sich mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu bewegten. Maeriels Innerstes krampfte sich zusammen. Vielleicht war dies die erwartete Rettung, immerhin war es nicht die Art ihrer Entführer, Pferde zu nutzen. Doch dann, nach einer kleinen Weile, als die Männer schon sehr nahe waren, erkannte sie, dass sie sich geirrt hatte.
Es waren Menschen, auf kleinen sehnigen Tieren, die für die Beschaffenheit der Region typisch waren. Ihnen voran flatterte stolz ein Banner, dessen Zeichen Maeriel zunächst nicht zu deuten wusste. Doch dann packte sie die Erkenntnis mit unnachgiebiger Härte.
Das Bild auf der Flagge stellte eine Krähe dar, eine schwarzen Vogel, dessen Flügel aggressiv in Angriffshaltung abgespreizt waren. Kälte bemächtigte sich Maeriels. Es schien, dass sich ihr das Schicksal nun offenbarte. Ihr, dem Kind der Krähen.
