Kapitel 5 - Das Zeichen der Krähe

Unter dem Banner marschierten sie weiter. Die schweigenden Reiter setzten sich an ihre Seiten, beschützend für die Männer, aber umso mehr bedrohend für die beiden Gefangenen. Die Nacht brach herein, ohne dass gesprochen wurde. Nur das Knallen des Fahnentuchs im kühlen Wind durchbrach die über die weite Landschaft gebettete Stille und die Monotonie der Schritte.

Maeriel, die den Blick nicht von dem Zeichen abwenden konnte, kam es vor, als sei jede Meile, die sie zurücklegten, doppelt und dreifach so lang. Die Temperatur sank, begünstigt durch die sternenübersäte Klarheit des Himmels. Maeriel sah, wie ihr eigener Atem in der Luft sichtbar wurde und hob ihre aneinandergebundenen Hände, um ihren Umhang fester um sich zu ziehen. Die Kälte zog durch ihre zerrissene Kleidung und bedeckte ihren Körper, innen wie außen.

Vergangenheit und Zukunft woben in ihrem Kopf ein Netz des Zweifels. Was geschah mit ihr? Warum kehrte die Krähe nun in ihr Leben zurück, da sie verzweifelt war? Schon einmal hatte das Omen ihr Leben heimgesucht und fast ihren Tod bedeutet. Sollte es nun wieder geschehen?

Um sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken, betrachtete sie die Reiter, die an ihrer Seite blieben. Es waren Männer wie die, die sie gefangengesetzt hatten, doch auf Pferden, die aus der Ebene von Rhûn stammten. Sie wagte nicht daran zu denken, was es bedeuten konnte. Entweder hatten die Krieger die ehemaligen Besitzer der Rösser abgeschlachtet und sich der Tiere bemächtigt - oder es waren Geschenke gewesen.

"Ich rieche Feuer", sagte Legolas neben ihr. Sie blickte zu ihm und sah Zuspruch in seinen Augen. Ein Teil ihrer Reise würde für diese Nacht ein Ende finden. Maeriel krallte ihre klammen Finger in ihren Umhang und starrte zu Boden, wo ihre Füße das spärliche Gras des Bodens niedertraten. Die Erde war fest und trocken. Es würde sehr schwer werden, ihre Spuren zu finden. Die Hufe der Pferde erhöhten jedoch ihre Chance wieder.

Eine weitere Stunde verging, bevor Maeriel den Schein des Feuers, das Legolas wahrgenommen hatte, sehen konnte. Im Schatten einer kleinen Felsgruppe erkannte sie, beleuchtet von mehreren Kochstellen, die Umrisse mehrere Zelte. Pferde grasten angeleint unweit der Behausungen, Menschen eilten geschäftig hin und her.

Als man sie in das Lager hineinführte, versuchte Maeriel, so viele Details wie möglich zu erfassen. Ihre Vermutung bestätigte sich. Reiter von Rhûn, gedrungene, in Erdtöne gekleidete Menschen, saßen mit den anderen an den Feuern und polierten ihre Waffen. Insgesamt hielten sich in dem Lager mehr als acht Dutzend Männer auf, mit halb so vielen Pferden und bewaffnet bis an die Zähen. Sie waren auf Jagd aus. Oder auf Krieg.

Blicken richteten sich auf sie und Legolas, abschätzend und auch unverhohlen gierig. Man hatte anscheinend mit ihnen gerechnet. Anstößige Bemerkungen drangen zu ihnen herüber, die Maeriel wenig Mut machten, das Abenteuer heil zu überstehen. Vor dem größten Zelt machten sie Halt. Während Thoran die Zeltbahn beiseite schob und an den beiden Wachen vorbei eintrat, bildeten die anderen Männer einen Kreis um die Gefangenen. Andere kamen hinzu und begannen eine Unterhaltung in der Sprache der Fremden. Maeriel lauschte angestrengt. Für fremde Zungen hatte sie stets ein Gespür gehabt und je mehr Worte sie hörte, desto leichter wurde es ihr, einige Wendungen zu verstehen.

Nach einigen Momenten kehrte Thoran zurück und stellte sich vor Maeriel und Legolas. Triumph sprach aus seinen Augen.

"Frau, Ihr werdet erwartet." Er trat vor und fasste sie am Arm. Im selben Moment sprang Legolas vor und stieß den Menschen mit aller Gewalt mit einem Schulterstoß zurück. Umsonst. Er wurde von drei kräftigen Kriegern zurückgezerrt und ein Schwert setzte sich an seine Kehle. Hilflose Wut blitzte aus seinen blauen Augen. Maeriel schenkte Thoran einen eisigen Blick und schüttelte die Hand des Übersetzers ab, als er sich ihr erneut näherte.

"Ich kann allein gehen", beschied sie ihm und sagte dann leise zu Legolas: "Hannan, mellon. Wir sehen uns später."

Er entspannte sich ein wenig, doch noch immer wirkte er, als wolle er trotz der rettungslosen Situation jeden Moment den Griff seiner Bewacher sprengen. Sie schenkte ihm ein Lächeln, das entgegen ihrer Absicht ein wenig zittrig war. Es würde nicht dazu beitragen, ihn zu beruhigen.

Dann schritt sie mit hoch erhobenem Haupt an Thoran vorbei und trat in das Zelt, über dem das Zeichen der Krähe im Wind tanzte.

***

Im Inneren des Zelts erwarteten sie eine wohltuende Wärme. Öllampen sandten ein warmes Licht aus, das sich in den zahlreichen Fellen fing, die die Möbel und den Boden bedeckten. Drei Wolfshunde lagen zusammengerollt in der Ecke. Nur einer von ihnen hob den Kopf und musterte sie aus seinen glühenden Augen, dann verlor er das Interesse wieder. Ein riesiges Lager befand sich in einer Ecke und Maeriels Kopf begann zu glühen, als sie die Augen davon abwandte.

An einem mit Karten und fremdartigen Gerätschaften bedeckten Tisch saß ein Mann mittleren Alters, der sich bei ihrem Anblick erhob. Er war sehr groß, größer als jeder Mensch, den Maeriel jemals kennen gelernt hatte. Auf eine fremdartige Weise konnte man ihn als attraktiv bezeichnen. Sein schulterlanges, dunkelbraunes Haar war zu einem Zopf zusammengebunden, sein Bart sorgsam gestutzt. Augen in der Farbe eines Sturmhimmels musterten sie prüfend, dann hob der Mensch mit einem gewinnenden Lächeln den Kelch, den er in der Hand hielt.

"Ich trinke auf Eure Schönheit", sagte er in fließendem Elbisch und verbeugte sich leicht. Dann stellte er den Kelch ab. Roter Wein schwappte über den Rad und fiel, Blutstropfen gleich, auf das Holz des Tisches.

"Es wird wohl kaum meine Schönheit sein, die Eure Männer dazu brachte, mich zu entführen", gab sie zurück und erntete ein volltönendes, spöttisches Lachen.

"Nun, wenn Ihr hässlich wie die Nacht gewesen wärt, hätten Sie Euch wohl vergewaltigt und dann eine Elbin gesucht, die meinen Ansprüchen genügt." Maeriel schluckte eine harsche Antwort hinunter. In ihre Angst mischte sich unbändige Wut, die aus ihrem Inneren heraufquoll. "Wollt Ihr etwas essen oder trinken?", erkundigte sich der Anführer, nun wieder zuvorkommend. Ein Hohn, wenn man bedachte, dass Maeriels Hände noch immer gefesselt waren.

"Ich will wissen, wieso man mich und meinen Begleiter festhält."

"Zunächst einmal möchte ich mich vorstellen. Ich bin Arik, Stammesführer der Normänner. Man sagte mir, Ihr wärt die Tochter einer Elbenherrin. Ein Grund mehr, warum mich Eure Gesellschaft derart erfreut. Als meine Gattin werdet Ihr eine Zierde meines Zeltes sein."

"Ihr habt vergessen, mich um meine Hand zubitten." Maeriel gestattete sich ein halbes Lächeln, das sie dann schlagartig verlöschen ließ, um die Bedeutung ihrer nächsten Worte hervorzuheben. "Mein Volk wird darüber nicht begeistert sein. Man wird Euch folgen und mich befreien. Ebenso wie Legolas, der der Sohn des Königs von Düsterwald ist. Ihr habt Euch die falschen Geiseln gesucht."

"Oh, ich denke nicht." Arik trat näher an sie heran. Maeriel hielt den Atem an, als er seine Fingerknöchel sanft an ihrer Wange herabgleiten ließ. "Die Elben werden es nicht wagen, mich anzugreifen, wenn ich Euch beide in meiner Gewalt habe. Und wenn wir erst verheiratet sind, werde ich der mächtigste Führer meines Volkes sein. Euer Blut bringt mir viel Ehre und vor allem die Kontrolle über Euer Volk."

"Wofür braucht Ihr die Kontrolle?" Maeriels Stimme brach fast, als sich die tastende Hand Ariks weiter nach unten bewegte und ihren Nacken streichelte. Sie musste die Antwort auf ihre Fragen bekommen. Der Anführer der Norländer schwieg zunächst und sie fürchtet schon, dass er jeden Moment seine Sanftheit ablegen und sich vergessen würde. Doch dann gab er ihr, was sie wollte.

"Mein Volk wandert in diesem Moment über die Berge. Und ich will nicht, dass sich ihnen irgendjemand in den Weg stellt. Vor allem nicht die Elben." Maeriel schluckte trocken. Sie wagte es zu bezweifeln, dass es den Norländern bei ihren Bündnissen mit den Rhûnländern und vielleicht auch mit den Elben um eine friedliche Wanderung ging. Dass er ihr seine Pläne freiwillig offenbarte, bewies ihr, dass er sich sehr sicher war, dass sie dieses Lager nie wieder verlassen würde, um ihn zu verraten. Ariks Stimme wurde sehr sanft. "Wir sollten das Beste aus dieser Verbindung machen. Man nennt Euch Maeriel, nicht wahr? Wie passend. Eure goldenen Augen sind wirklich wunderschön."

Maeriel fasste mit und wich zurück. Die unangenehme Berührung fand ein Ende und es schien, als könnte sie plötzlich wieder atmen. Arik blieb völlig ruhig.

"Ihr solltet Euch Eure Schmeichelei sparen, denn zu einer Verbindung mir wird es niemals kommen."

Arik hob beide Augenbrauen, als könnte er nicht glauben, was er hörte. Dann hob er den Arm, doch lediglich, um ihr höflich den Weg hinaus zu weisen. Zögernd wich sie zurück, ihn nicht aus den Augen lassend. Und tatsächlich gelang es ihm noch, ihr die selbstbewusste Haltung zu rauben, bevor sie hinausging.

"Wir werden heiraten, wenn wir zu meinem Volk stoßen. Überlegt Euch Euer Verhalten gut. Denn eigentlich kümmert es mich nicht, ob Euer Begleiter diese Reise gut übersteht."

***

Legolas saß gefesselt an einen der Felsen gelehnt und hatte die Augen geschlossen. Anscheinend hatten sich einige der Norländer für seinen Angriff auf Thoran an ihm gerächt, denn eine seiner Augenbrauen war aufgeplatzt und ein schmales Rinnsal Blut rann seine Schläfe herab. Er schien Maeriel nicht zu bemerken, bis sie neben ihm auf den Boden gestoßen wurde. Erst dann öffnete er die Augen. Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung meinte Maeriel erkennen zu können, dass auch er den Mut sinken ließ.

"Ihr hättet mich nicht verteidigen sollen", sagte sie leise, da es das Erste war, was ihr einfiel. "Nur durch meine Verblendung seid Ihr in dieser Lage."

Legolas blickte hinüber zum nächsten Feuer, das zu weit entfernt war, um ihnen Wärme schenken zu können. Er schätzte offenkundig ab, ob die dort versammelten Männer ihre Unterhaltung hören konnten und entschloss sich dann zu sprechen.

"Wollt Ihr mir nun endlich erzählen, warum Ihr fortgelaufen seid?" Die Sicherheit, mit der er die Wahrheit erkannte, schockierte Maeriel. Sie war anscheinend leicht zu durchschauen. "Warum habt Ihr Angst, mir die Wahrheit zu erzählen? Bin ich Eures Vertrauens nicht würdig?"

"Ihr seid es", beteuerte Maeriel ohne zu zögern. Doch wie sollte sie es ihm sagen? Die Scham über ihre kindliche Impulsivität war zu groß, ebenso wie die Angst, er könnte sie auslachen, wenn er erfuhr, dass man sie dazu bestimmt hatte, seine Frau zu werden. Er war ein erfahrener Krieger und kluger Mann, sie nur ein dummes, eigensüchtiges Wesen. Ihre nächsten Worte wählte sie mit Bedacht. "Und ich werde Euch alles berichten. Aber lasst uns dies hier erst gemeinsam überstehen." Dann würde sie ihm vielleicht von gleich zu gleich gegenüberstehen können.

"Ich bin froh, dass er Euch nichts getan hat." Mit seiner Aussage gab er ihr die Antwort, die sie hören wollte und das machte sie zutiefst dankbar. "Ich habe die Gespräche der Rhûnländer belauscht. Anscheinend trifft eine riesige Streitmacht ihrer Leute mit den Norländern südlich der Eisenberge zusammen."

"Arik, der Anführer der Norländer, hat mir erzählt, sein gesamtes Volk würde über die Pässe ziehen." Maeriel versuchte, sich an das Gespräch zu erinnern und gleichzeitig den Ekel zu verdrängen, der sie dabei befiel. Das Wappentier des Anführers passte sehr genau zu seinem Herrn. Er war voller boshafter Heimtücke und dunkler Bedrohung. "Anscheinend wollen sie die Ebene mit den Rhûnländern teilen - oder auch weiter nach Süden wandern. Und das wird sicher nicht friedlich ablaufen."

"Die einzige, die zwischen den Menschen aus dem Norden und Gondor stehen, sind unser Volk und die Zwerge. Sie allein könnten verhindern, dass ein neuer Krieg in der Welt ausbricht." Legolas begegnete ihrem Blick voller Sorge. "Die Zwerge würden niemals einen Finger rühren, wenn ihre Berge in Ruhe gelassen werden. Und die Tatenlosigkeit der Elben wollen sie sich durch unsere Anwesenheit sichern. Ich hoffe nur, dass Gimli oder mein Vater uns sobald wie möglich befreien, bevor die Übermacht der Allianz zu groß ist. Ich muss Elessar, den König von Gondor warnen."

Es gab nichts mehr zu sagen. Maeriel lehnte sich mit dem Rücken an den Felsen hinter ihr und spürte, wie ihr die Kälte in die Glieder kroch wie ein schleichendes Gift. Legolas hatte wieder die Augen geschlossen, doch sie konnte seine Ruhe nicht teilen. Das Banner Ariks schwebte über allem und raubte ihr jede Hoffnung auf Schlaf. Wenn sie es versuchte, dann erschien das Bild des Vogels vor ihrem inneren Auge, vertraut und doch immer wieder schrecklich.

Kurz nach dem letzten und endgültigen Verschwinden ihres Vaters hatte sie ein schweres Fieber befallen und in ihren wilden Träumen war ihr die Krähe zum ersten Mal begegnet. Fast wäre sie damals gestorben und nur die Pflege ihrer Mutter hatte sie gerettet. Wenn sie nun an jene Zeit dachte, erschien ihr diese ihr zuteil gewordene Güte sinnlos. Erneut war das Omen in ihr Leben getreten und dieses Mal würde sie wahrscheinlich nicht das Glück haben zu überleben. Die Krähe war vielleicht nicht der Bote ihres Unglücks, sondern auch ihres Todes.