Kapitel 6 - Jäger und Beute
Eine zögerliche Sonne kroch über den Horizont, doch ihre Strahlen brachten keine Wärme mit sich. Im Lager entwickelte sich ein geschäftiges Treiben. Die Männer bereiteten sich ein rasches Frühstück zu, dann begannen sie, das Lager abzubrechen. Die Zelte wurden zusammengerollt und auf die Pferde geladen, einiges auch zurückgelassen. Für die Augen des Betrachters wurde klar, dass nun größte Eile geboten war.
Maeriel und Legolas wurden trotz aller Hast stets beobachtet und fanden keine Möglichkeit, die ihnen eine Flucht versprach. Sie sprachen nicht miteinander, sondern beobachteten scharf jede Regung, die ihrer Entführer machten. Bald schon war von der Stätte des Lagers nicht mehr viel zu sehen außer einigen rauchenden Feuerstellen, über die Sand geschüttet wurde.
Thoran trat zu den beiden Elben und befahl:
"Hoch mit Euch! Wir haben einen langen Marsch vor uns. Versucht nur nicht zu fliehen. Ob nun Edle oder nicht, Ihr seid ersetzbar für uns."
Maeriel kam wortlos auf die Füße und streckte ihre steifen Glieder ein wenig. Die Fesseln hatten ihre Handgelenke wundgescheuert und schmerzten. Doch sie würde sich nichts anmerken lassen. Langsam setzte sie sich in Bewegung und wurde sofort von einigen der Normänner in die Mitte genommen.
Legolas folgte ihr. Seine Nähe war beruhigend, auch wenn er im Moment ebenso hilflos war wie sie. Doch wenn er erst eine Waffe in der Hand hielt - . Sie konnte nur erahnen, dass er ein guter Kämpfer war. Seine Schüsse auf die Wölfe waren von erschreckender Präzision gewesen und hatten ihr bewiesen, dass sie ihn keinesfalls zum Gegner wollte. Ihre eigene Kampfkraft, die sie bis zu Beginn ihrer Reise als ausreichend eingeschätzt hatte, erschien ihr nun lächerlich gering.
Die Gruppe setzte sich in Richtung Norden in Bewegung. Da nur die Hälfte aller Männer beritten war, ging es nicht schnell voran. Die Nervosität war allerorten zu spüren. Obwohl sich die Normänner im Gebiet ihrer Verbündeten befanden, war der Düsterwald noch immer nahe. Nun versuchten sie, möglichst viel Raum zwischen sich und dem Volk zu schaffen, dem ihre Geiseln angehörten.
Maeriels Kopf pochte. Sie hatte keine Minute Ruhe finden können in dieser Nacht, wie in den andere Nächten davor, weder Schlaf noch innere Einkehr waren ihr vergönnt gewesen. Sie beneidete Legolas um seine Kaltblütigkeit. Im Gegensatz zum vergangenen Abend wirkte er ausgeruht und voller neuem Elan, während sie sich nichts sehnlicher wünschte als die Augen zu schließen.
Ein Pferd durchbrach die Reihe der Männer neben ihr. Arik blickte auf sie herab, mit einem wissenden Ausdruck auf dem Gesicht. Die Unruhe seiner Untergebenen ließ ihn offenkundig ungerührt. Ein wertvoller Pelz schützte seinen massigen Körper vor dem eisigen Wind, der über die baumlose Ebene heulte.
"Du kannst das Tier Deines Begleiters von mir bekommen, gwelyth", sagte er freundlich. "Aber Du kennst den Preis dafür."
Maeriel zuckte ob des Kosenamens und der intimen Anrede ungewollt zusammen. Legolas Gesicht neben ihr versteinerte. Es war leicht zu erkennen, dass er nun eine Vorstellung von dem hatte, was in Ariks Zelt geschehen war - oder auch nicht.
"Solange ich Beine habe, werde ich diese benutzen", gab Maeriel möglichst ruhig zurück. Die Drohung des Stammesführers, dass jede ihrer Weigerungen ihrem Begleiter schaden würde, hallte unnachgiebig in ihrem Gedächtnis wieder. "Ein Pferd wäre unnötig."
Arik lachte, seine grauen Augen blitzten amüsiert.
"Die Elben sind schon ein stolzes und verdammt stures Volk. Umso mehr weiß ich jetzt, wie gut Du und ich zueinander passen werden. In jeder Beziehung."
Er neigte den Kopf und trieb sein Pferd wieder fort. Sofort schlossen die Norländer wieder den Kreis um die Gefangenen, einige von ihnen tauschten derbe Bemerkungen aus. Maeriel verstand einige davon inzwischen sehr gut, doch sie reagierte nicht darauf. Die Männer würden ihr nicht zu nahe kommen, wenn ihr Führer sie begehrte. Lediglich Arik konnte ihr gefährlich werden. Doch das tröstete sie nicht.
***
Der Tag verging und als die Sonne verschwand und sich das Schwarzblau der Nacht über den Himmel schob, stockte der Tross der Männer. Maeriel wusste zuerst nicht warum, doch dann nahm auch sie die schwankenden Lichter in der Ferne wahr.
Unter den Kriegern entstand eine gewisse Unruhe, so als erwarteten sie eine Auseinandersetzung. Hände wanderten zu Schwertern, überprüften deren Sitz. Arik, der an der Spitze der Gruppe ritt, begann eine Unterhaltung mit Thoran. Sein gepresster Tonfall ließ erahnen, dass, wer immer sich auch näherte, nicht erwartet wurde. Dennoch gab der Anführer das Signal zum Weitermarsch.
Eine Stunde verging, bis Maeriel die Schemen einer mit Wagen und Fackeln ausgerüsteten Gruppe klar wahrnehmen konnte. Zwei Berittene wurden vorausgeschickt, um den Begehr der Fremden auszukundschaften. Eine angespannte Weile geschah rein gar nichts. Dann kehrten die Späher zurück und Rufe schallten von dem Wagenzug heran.
"Zwerge", sagte Legolas, doch er klang ein wenig resigniert. Als sich die beiden Gruppen schließlich auf einer Höhe befanden, konnte Maeriel auch erkennen, warum ihr Begleiter die Hoffnung hatte fahren lassen. Es handelte sich um eine Gruppe von reisenden Händlern. Die acht hoch mit Ausrüstung und Waffen beladenen Wagen wurden von stämmigen Pferden gezogen, die im Gegensatz zu den warmblütigen Tieren der Rhûnländer völlig unbewegt in der Kälte der Nacht standen.
Maeriel zählte drei Dutzend Zwerge, alle schwer bewaffnet. Obwohl ihre Ware für die Norländer sicher verlockend erscheinen musste, würden sie sich nicht mit den Bergbewohnern anlegen. Ein Scharmützel kostete Zeit und Menschenleben. Doch es sah so aus, als würde sich Arik die Gelegenheit eines Gesprächs und einer Pause für seine Männer nicht entgehen lassen. Er gab das Zeichen zum Absitzen.
Vorsichtig und lauernd, weil man den Zwergen nicht zu trauen schien, wurden einige kleine Feuer entfacht und schon vermischten sich die Gruppen. Waren wurden von den Wagen geholt, kunstvoll gearbeitete Schilde und Harnische, Helme und Schwerter. Die Zwerge, mit zunächst missmutigen Gesichtern, wurden beim Anblick von Goldstücken und einigen Schläuchen mit Bier zusehends freundlicher.
Maeriel und Legolas wurden mit Einverständnis der Zwerge an einem der Wagen angebunden. Zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme schenkte man ihnen nicht die volle Aufmerksamkeit. Zu beschäftigt waren die Norländer und die Menschen von Rhûn mit dem Handel und dem Taktieren der Zwerge, die trotz ihrer Bereitschaft zur Verhandlung misstrauisch beäugt wurden.
Legolas warf Maeriel einen eindeutigen Blick zu. Dies war vielleicht nicht die beste Gelegenheit zur Flucht, aber vielleicht die einzige, die sich ihnen für eine lange Zeit bieten würde. Maeriel, deren Hände hinter ihren Rücken an eine Speiche des Rades gebunden waren, begann vorsichtig, mit den Finger nach dem Verbindungsstück zwischen Rad und Nabe zu tasten. Prüfend rüttelte sie daran, erst vorsichtig, dann mit größerer Kraft.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Immer wieder musste sie ihrem Tun Einhalt gebieten, wenn sie ein Blick ihrer Bewacher traf, doch sie gab nicht auf. Legolas, an das andere Rad gefesselt, tat es ihr gleich. Sein Gesicht ließ nicht darauf schließen, ob er Erfolg hatte.
Als Maeriel das Gefühl hatte, dass sich die Speiche langsam lockerte, hätte sie vor Erleichterung fast geseufzt. Unbeirrt rüttelte sie weiter und schließlich hörte sie an einem leisen Krachen, dass sie kurz vor der Befreiung stand. Vorsichtig zog sie die Hände näher an ihren Rücken. Splitter bohrten sich hinein, als die Speiche endgültig nachgab und in zwei Teile zerbrach.
Doch sie konnte diesen kleinen Sieg nicht auskosten. Als sie die Gegend um sich näher in Augenschein nahm und über mögliche Fluchtwege nachsann, näherte sich ihr einer der Zwerge, der auf sie aufmerksam geworden sein musste. Er war schon älter, sein rotes Haar und sein beeindruckender Bart wiesen Spuren von Grau auf. Doch die Angriffslust in seinem Blick stand dem eines jungen Kämpfers in nichts nach.
"Zwei Elben. Was für eine nette Beute", sagte er verächtlich und maß Maeriel und Legolas mit einem langen Blick. "So in Fesseln gefallt Ihr mir recht gut." Maeriel sagte keinen Ton, um ihn nicht zu provozieren, doch der Zwerg schien ihr Schweigen mißzuverstehen. "Seid Ihr Euch zu gut, um mit mir zu sprechen?"
Maeriel sah kommen, was geschehen würde, doch sie konnte es nicht verhindern. Der Zwerg versetzte ihr einen derart groben Stoß, dass sie das Gleichgewicht verlor und auf die Knie fiel. Im selben Moment ertönte einige wütende Rufe. Die gebrochene Speiche war entdeckt worden. Aber daran musste sie Flucht nicht scheitern.
Sie rollte sich zur Seite, sprang auf und hechtete los, den Gedanken an Legolas eigennützig zur Seite schiebend. Hinter ihr brach schlagartig ein gewaltiger Lärm los, als schließlich alle verstanden hatten, was vor sich ging.
Vor ihre standen einige Pferde, die seelenruhig am Boden grasten. Wenn es ihr doch nur gelingen würde -. Doch ein Ruf bewahrte sie vor allen waghalsigen Plänen, ließ ihre Gewissen und ihr Bewusstsein wiederkehren. Ariks Stimme war trotz der Unruhe weithin zu vernehmen.
"Bleibt stehen - oder Ihr und Euer Begleiter seid tot."
Maeriel stoppte im vollen Lauf ein wenig und warf einen Blick über die Schulter. Ariks Schwert hing drohend an Legolas Kehle und drei Bögen waren auf sie selbst gerichtet. Für einen winzigen Moment erwog Maeriel, das Risiko einzugehen, doch dann erinnerte sie sich daran, welche Schuld sie mit Legolas verband und blieb endgültig stehen. Sie konnte sein Leben nicht einsetzen, nur um ihres zu retten.
Wütend und resigniert hob sie die Hände und ging langsam ins Lager zurück.
***
"Wirklich, Ihr seid sehr hartnäckig!" Arik stand in Siegerhaltung vor Maeriel und sie konnte nichts anderes tun als zu ihn aufzusehen. Zwei Norländern hielten sie an den Schultern gepackt und drückten sie unbarmherzig auf die Knie. Sie sollte lernen, den Platz zu behalten, den man ihr zugewiesen hatte. Die Gefangene. Die Unterwürfige. Die Ehefrau.
Ihr Blick wanderte zu Legolas hinüber, der sich in der gleichen Situation befand wie sie selbst. Seit ihrer Aufgabe war es ihr nicht möglich gewesen, ein Wort mit ihm zu wechseln oder sich gar für ihr egoistisches Verhalten zu entschuldigen. Darüber hinaus mied er ihren Blick, was sie zusätzlich verunsicherte.
Die Stimme in ihren Kopf riet ihr, sich nicht von ihren Gefühlen für ihren Begleiter in die Irre führen zu lassen. Denn wenn sie nichts fühlen würde, dann wäre sie geflohen. Doch diese Verbindung zwischen ihnen auszuloten war nichts, was im Moment anstand. Vielmehr galt es, ihrer beider Leben zu retten.
Deswegen hob Maeriel den Kopf, soweit sie konnte, und sagte trotzig:
"Ich habe nichts getan, was Ihr nicht auch versucht und erwartet hättet, Arik."
Der Führer der Normänner hob, erstaunt über die Antwort, die Augenbrauen und gestattete sich dann ein Lächeln.
"In der Tat, ich war auf eine Flucht vorbereitet. Aber ich kenne Euch besser, als Ihr denkt, meine Elbin. Ihr seid trotz Eures temperamentvollen Wesens sehr leicht zu durchschauen." Sein Blick wanderte zu Legolas. "Ich habe mir meine Gedanken gemacht, wie ich mich in dieser ganz speziellen Situation verhalten würde. Anfangs dachte ich, ich könnte möglicherweise Euren Begleiter töten, um Euren Willen zu brechen." Wie um seine Worte zu bestätigen ließ er sein Hand fast beiläufig auf seinem Schwertgriff ruhen. "Doch dann kam mir eine weitaus bessere Idee. Broga!"
Auf seinen Ruf hin trat einer der Zwerge in das Licht des nahen Feuers und Maeriel erkannte in ihm den Zwerg wieder, der mit seinem hasserfüllten Verhalten ihre mögliche Flucht vereitelt hatte. Der Mann grinste breit und schien sich diebisch über etwas zu freuen, das Maeriel nicht wusste. Ein Schauer kroch über ihren Rücken.
"Wir werden uns des Elben schon annehmen, Arik, dessen könnt Ihr Euch sicher sein", versprach Broga mit einem hinterhältigen Glitzern in den unter buschigen Augenbrauen verborgenen Pupillen. "Geschäft ist Geschäft."
Maeriel brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was geschehen würde. Dann traf sie die Erkenntnis mit einem Schlag. Arik hatte Legolas an die Zwerge verkauft. Sie würde allein mit den Normännern weiterreisen.
"Nein." Der Laut war alles, was sie zustande brachte. Hilflos beobachtete sie, wie Legolas auf einen Wink Ariks hin auf die Füße gezerrt und zu den Zwergen geführt wurde. Kein weiterer Blick auf ihn war ihr vergönnt, denn Arik hockte sich vor sie und hob ihr Kinn mit dem Finger, eine sanfte Geste, wenn sie nicht von seinem grimmigen Lächeln begleitet worden wäre.
"Ihre Sorge um ihn seid ihr los, Maeriel. Vielleicht hat er bei den Zwergen eine Chance zu leben - vielleicht auch nicht. Das sollte Euch nun nicht mehr interessieren."
"Und was, denkt Ihr, habt Ihr von diesem Handel?", rief Maeriel und machte sich keine Mühe, das Zittern ihrer Stimme zu verstecken. Arik schüttelte den Kopf, so als schelte er ein kleines Kind.
"Von Euch erwarte ich gar nichts, gwelyth, kein Versprechen, keine Dankbarkeit." Er stand wieder auf, nun erneut riesig und übermächtig vor ihr. Maeriel starrte mit blinden Augen zu Boden. "Bleibt, wie Ihr seid. Hasst mich, wehrt Euch, versucht zu fliehen. Keine Beute ist reizvoll, wenn sie nicht bis zum Schluss kämpft."
Eine zögerliche Sonne kroch über den Horizont, doch ihre Strahlen brachten keine Wärme mit sich. Im Lager entwickelte sich ein geschäftiges Treiben. Die Männer bereiteten sich ein rasches Frühstück zu, dann begannen sie, das Lager abzubrechen. Die Zelte wurden zusammengerollt und auf die Pferde geladen, einiges auch zurückgelassen. Für die Augen des Betrachters wurde klar, dass nun größte Eile geboten war.
Maeriel und Legolas wurden trotz aller Hast stets beobachtet und fanden keine Möglichkeit, die ihnen eine Flucht versprach. Sie sprachen nicht miteinander, sondern beobachteten scharf jede Regung, die ihrer Entführer machten. Bald schon war von der Stätte des Lagers nicht mehr viel zu sehen außer einigen rauchenden Feuerstellen, über die Sand geschüttet wurde.
Thoran trat zu den beiden Elben und befahl:
"Hoch mit Euch! Wir haben einen langen Marsch vor uns. Versucht nur nicht zu fliehen. Ob nun Edle oder nicht, Ihr seid ersetzbar für uns."
Maeriel kam wortlos auf die Füße und streckte ihre steifen Glieder ein wenig. Die Fesseln hatten ihre Handgelenke wundgescheuert und schmerzten. Doch sie würde sich nichts anmerken lassen. Langsam setzte sie sich in Bewegung und wurde sofort von einigen der Normänner in die Mitte genommen.
Legolas folgte ihr. Seine Nähe war beruhigend, auch wenn er im Moment ebenso hilflos war wie sie. Doch wenn er erst eine Waffe in der Hand hielt - . Sie konnte nur erahnen, dass er ein guter Kämpfer war. Seine Schüsse auf die Wölfe waren von erschreckender Präzision gewesen und hatten ihr bewiesen, dass sie ihn keinesfalls zum Gegner wollte. Ihre eigene Kampfkraft, die sie bis zu Beginn ihrer Reise als ausreichend eingeschätzt hatte, erschien ihr nun lächerlich gering.
Die Gruppe setzte sich in Richtung Norden in Bewegung. Da nur die Hälfte aller Männer beritten war, ging es nicht schnell voran. Die Nervosität war allerorten zu spüren. Obwohl sich die Normänner im Gebiet ihrer Verbündeten befanden, war der Düsterwald noch immer nahe. Nun versuchten sie, möglichst viel Raum zwischen sich und dem Volk zu schaffen, dem ihre Geiseln angehörten.
Maeriels Kopf pochte. Sie hatte keine Minute Ruhe finden können in dieser Nacht, wie in den andere Nächten davor, weder Schlaf noch innere Einkehr waren ihr vergönnt gewesen. Sie beneidete Legolas um seine Kaltblütigkeit. Im Gegensatz zum vergangenen Abend wirkte er ausgeruht und voller neuem Elan, während sie sich nichts sehnlicher wünschte als die Augen zu schließen.
Ein Pferd durchbrach die Reihe der Männer neben ihr. Arik blickte auf sie herab, mit einem wissenden Ausdruck auf dem Gesicht. Die Unruhe seiner Untergebenen ließ ihn offenkundig ungerührt. Ein wertvoller Pelz schützte seinen massigen Körper vor dem eisigen Wind, der über die baumlose Ebene heulte.
"Du kannst das Tier Deines Begleiters von mir bekommen, gwelyth", sagte er freundlich. "Aber Du kennst den Preis dafür."
Maeriel zuckte ob des Kosenamens und der intimen Anrede ungewollt zusammen. Legolas Gesicht neben ihr versteinerte. Es war leicht zu erkennen, dass er nun eine Vorstellung von dem hatte, was in Ariks Zelt geschehen war - oder auch nicht.
"Solange ich Beine habe, werde ich diese benutzen", gab Maeriel möglichst ruhig zurück. Die Drohung des Stammesführers, dass jede ihrer Weigerungen ihrem Begleiter schaden würde, hallte unnachgiebig in ihrem Gedächtnis wieder. "Ein Pferd wäre unnötig."
Arik lachte, seine grauen Augen blitzten amüsiert.
"Die Elben sind schon ein stolzes und verdammt stures Volk. Umso mehr weiß ich jetzt, wie gut Du und ich zueinander passen werden. In jeder Beziehung."
Er neigte den Kopf und trieb sein Pferd wieder fort. Sofort schlossen die Norländer wieder den Kreis um die Gefangenen, einige von ihnen tauschten derbe Bemerkungen aus. Maeriel verstand einige davon inzwischen sehr gut, doch sie reagierte nicht darauf. Die Männer würden ihr nicht zu nahe kommen, wenn ihr Führer sie begehrte. Lediglich Arik konnte ihr gefährlich werden. Doch das tröstete sie nicht.
***
Der Tag verging und als die Sonne verschwand und sich das Schwarzblau der Nacht über den Himmel schob, stockte der Tross der Männer. Maeriel wusste zuerst nicht warum, doch dann nahm auch sie die schwankenden Lichter in der Ferne wahr.
Unter den Kriegern entstand eine gewisse Unruhe, so als erwarteten sie eine Auseinandersetzung. Hände wanderten zu Schwertern, überprüften deren Sitz. Arik, der an der Spitze der Gruppe ritt, begann eine Unterhaltung mit Thoran. Sein gepresster Tonfall ließ erahnen, dass, wer immer sich auch näherte, nicht erwartet wurde. Dennoch gab der Anführer das Signal zum Weitermarsch.
Eine Stunde verging, bis Maeriel die Schemen einer mit Wagen und Fackeln ausgerüsteten Gruppe klar wahrnehmen konnte. Zwei Berittene wurden vorausgeschickt, um den Begehr der Fremden auszukundschaften. Eine angespannte Weile geschah rein gar nichts. Dann kehrten die Späher zurück und Rufe schallten von dem Wagenzug heran.
"Zwerge", sagte Legolas, doch er klang ein wenig resigniert. Als sich die beiden Gruppen schließlich auf einer Höhe befanden, konnte Maeriel auch erkennen, warum ihr Begleiter die Hoffnung hatte fahren lassen. Es handelte sich um eine Gruppe von reisenden Händlern. Die acht hoch mit Ausrüstung und Waffen beladenen Wagen wurden von stämmigen Pferden gezogen, die im Gegensatz zu den warmblütigen Tieren der Rhûnländer völlig unbewegt in der Kälte der Nacht standen.
Maeriel zählte drei Dutzend Zwerge, alle schwer bewaffnet. Obwohl ihre Ware für die Norländer sicher verlockend erscheinen musste, würden sie sich nicht mit den Bergbewohnern anlegen. Ein Scharmützel kostete Zeit und Menschenleben. Doch es sah so aus, als würde sich Arik die Gelegenheit eines Gesprächs und einer Pause für seine Männer nicht entgehen lassen. Er gab das Zeichen zum Absitzen.
Vorsichtig und lauernd, weil man den Zwergen nicht zu trauen schien, wurden einige kleine Feuer entfacht und schon vermischten sich die Gruppen. Waren wurden von den Wagen geholt, kunstvoll gearbeitete Schilde und Harnische, Helme und Schwerter. Die Zwerge, mit zunächst missmutigen Gesichtern, wurden beim Anblick von Goldstücken und einigen Schläuchen mit Bier zusehends freundlicher.
Maeriel und Legolas wurden mit Einverständnis der Zwerge an einem der Wagen angebunden. Zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme schenkte man ihnen nicht die volle Aufmerksamkeit. Zu beschäftigt waren die Norländer und die Menschen von Rhûn mit dem Handel und dem Taktieren der Zwerge, die trotz ihrer Bereitschaft zur Verhandlung misstrauisch beäugt wurden.
Legolas warf Maeriel einen eindeutigen Blick zu. Dies war vielleicht nicht die beste Gelegenheit zur Flucht, aber vielleicht die einzige, die sich ihnen für eine lange Zeit bieten würde. Maeriel, deren Hände hinter ihren Rücken an eine Speiche des Rades gebunden waren, begann vorsichtig, mit den Finger nach dem Verbindungsstück zwischen Rad und Nabe zu tasten. Prüfend rüttelte sie daran, erst vorsichtig, dann mit größerer Kraft.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Immer wieder musste sie ihrem Tun Einhalt gebieten, wenn sie ein Blick ihrer Bewacher traf, doch sie gab nicht auf. Legolas, an das andere Rad gefesselt, tat es ihr gleich. Sein Gesicht ließ nicht darauf schließen, ob er Erfolg hatte.
Als Maeriel das Gefühl hatte, dass sich die Speiche langsam lockerte, hätte sie vor Erleichterung fast geseufzt. Unbeirrt rüttelte sie weiter und schließlich hörte sie an einem leisen Krachen, dass sie kurz vor der Befreiung stand. Vorsichtig zog sie die Hände näher an ihren Rücken. Splitter bohrten sich hinein, als die Speiche endgültig nachgab und in zwei Teile zerbrach.
Doch sie konnte diesen kleinen Sieg nicht auskosten. Als sie die Gegend um sich näher in Augenschein nahm und über mögliche Fluchtwege nachsann, näherte sich ihr einer der Zwerge, der auf sie aufmerksam geworden sein musste. Er war schon älter, sein rotes Haar und sein beeindruckender Bart wiesen Spuren von Grau auf. Doch die Angriffslust in seinem Blick stand dem eines jungen Kämpfers in nichts nach.
"Zwei Elben. Was für eine nette Beute", sagte er verächtlich und maß Maeriel und Legolas mit einem langen Blick. "So in Fesseln gefallt Ihr mir recht gut." Maeriel sagte keinen Ton, um ihn nicht zu provozieren, doch der Zwerg schien ihr Schweigen mißzuverstehen. "Seid Ihr Euch zu gut, um mit mir zu sprechen?"
Maeriel sah kommen, was geschehen würde, doch sie konnte es nicht verhindern. Der Zwerg versetzte ihr einen derart groben Stoß, dass sie das Gleichgewicht verlor und auf die Knie fiel. Im selben Moment ertönte einige wütende Rufe. Die gebrochene Speiche war entdeckt worden. Aber daran musste sie Flucht nicht scheitern.
Sie rollte sich zur Seite, sprang auf und hechtete los, den Gedanken an Legolas eigennützig zur Seite schiebend. Hinter ihr brach schlagartig ein gewaltiger Lärm los, als schließlich alle verstanden hatten, was vor sich ging.
Vor ihre standen einige Pferde, die seelenruhig am Boden grasten. Wenn es ihr doch nur gelingen würde -. Doch ein Ruf bewahrte sie vor allen waghalsigen Plänen, ließ ihre Gewissen und ihr Bewusstsein wiederkehren. Ariks Stimme war trotz der Unruhe weithin zu vernehmen.
"Bleibt stehen - oder Ihr und Euer Begleiter seid tot."
Maeriel stoppte im vollen Lauf ein wenig und warf einen Blick über die Schulter. Ariks Schwert hing drohend an Legolas Kehle und drei Bögen waren auf sie selbst gerichtet. Für einen winzigen Moment erwog Maeriel, das Risiko einzugehen, doch dann erinnerte sie sich daran, welche Schuld sie mit Legolas verband und blieb endgültig stehen. Sie konnte sein Leben nicht einsetzen, nur um ihres zu retten.
Wütend und resigniert hob sie die Hände und ging langsam ins Lager zurück.
***
"Wirklich, Ihr seid sehr hartnäckig!" Arik stand in Siegerhaltung vor Maeriel und sie konnte nichts anderes tun als zu ihn aufzusehen. Zwei Norländern hielten sie an den Schultern gepackt und drückten sie unbarmherzig auf die Knie. Sie sollte lernen, den Platz zu behalten, den man ihr zugewiesen hatte. Die Gefangene. Die Unterwürfige. Die Ehefrau.
Ihr Blick wanderte zu Legolas hinüber, der sich in der gleichen Situation befand wie sie selbst. Seit ihrer Aufgabe war es ihr nicht möglich gewesen, ein Wort mit ihm zu wechseln oder sich gar für ihr egoistisches Verhalten zu entschuldigen. Darüber hinaus mied er ihren Blick, was sie zusätzlich verunsicherte.
Die Stimme in ihren Kopf riet ihr, sich nicht von ihren Gefühlen für ihren Begleiter in die Irre führen zu lassen. Denn wenn sie nichts fühlen würde, dann wäre sie geflohen. Doch diese Verbindung zwischen ihnen auszuloten war nichts, was im Moment anstand. Vielmehr galt es, ihrer beider Leben zu retten.
Deswegen hob Maeriel den Kopf, soweit sie konnte, und sagte trotzig:
"Ich habe nichts getan, was Ihr nicht auch versucht und erwartet hättet, Arik."
Der Führer der Normänner hob, erstaunt über die Antwort, die Augenbrauen und gestattete sich dann ein Lächeln.
"In der Tat, ich war auf eine Flucht vorbereitet. Aber ich kenne Euch besser, als Ihr denkt, meine Elbin. Ihr seid trotz Eures temperamentvollen Wesens sehr leicht zu durchschauen." Sein Blick wanderte zu Legolas. "Ich habe mir meine Gedanken gemacht, wie ich mich in dieser ganz speziellen Situation verhalten würde. Anfangs dachte ich, ich könnte möglicherweise Euren Begleiter töten, um Euren Willen zu brechen." Wie um seine Worte zu bestätigen ließ er sein Hand fast beiläufig auf seinem Schwertgriff ruhen. "Doch dann kam mir eine weitaus bessere Idee. Broga!"
Auf seinen Ruf hin trat einer der Zwerge in das Licht des nahen Feuers und Maeriel erkannte in ihm den Zwerg wieder, der mit seinem hasserfüllten Verhalten ihre mögliche Flucht vereitelt hatte. Der Mann grinste breit und schien sich diebisch über etwas zu freuen, das Maeriel nicht wusste. Ein Schauer kroch über ihren Rücken.
"Wir werden uns des Elben schon annehmen, Arik, dessen könnt Ihr Euch sicher sein", versprach Broga mit einem hinterhältigen Glitzern in den unter buschigen Augenbrauen verborgenen Pupillen. "Geschäft ist Geschäft."
Maeriel brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was geschehen würde. Dann traf sie die Erkenntnis mit einem Schlag. Arik hatte Legolas an die Zwerge verkauft. Sie würde allein mit den Normännern weiterreisen.
"Nein." Der Laut war alles, was sie zustande brachte. Hilflos beobachtete sie, wie Legolas auf einen Wink Ariks hin auf die Füße gezerrt und zu den Zwergen geführt wurde. Kein weiterer Blick auf ihn war ihr vergönnt, denn Arik hockte sich vor sie und hob ihr Kinn mit dem Finger, eine sanfte Geste, wenn sie nicht von seinem grimmigen Lächeln begleitet worden wäre.
"Ihre Sorge um ihn seid ihr los, Maeriel. Vielleicht hat er bei den Zwergen eine Chance zu leben - vielleicht auch nicht. Das sollte Euch nun nicht mehr interessieren."
"Und was, denkt Ihr, habt Ihr von diesem Handel?", rief Maeriel und machte sich keine Mühe, das Zittern ihrer Stimme zu verstecken. Arik schüttelte den Kopf, so als schelte er ein kleines Kind.
"Von Euch erwarte ich gar nichts, gwelyth, kein Versprechen, keine Dankbarkeit." Er stand wieder auf, nun erneut riesig und übermächtig vor ihr. Maeriel starrte mit blinden Augen zu Boden. "Bleibt, wie Ihr seid. Hasst mich, wehrt Euch, versucht zu fliehen. Keine Beute ist reizvoll, wenn sie nicht bis zum Schluss kämpft."
