Kapitel 7 - Die Entscheidung der Normänner
Maeriels Augen glitten über den Horizont, doch sie nahm weder die dort erscheinenden Gipfel des Gebirges noch irgendetwas anderes wahr. Seit dem Moment, in dem der Tross der zwergischen Händler aus ihrem Blickfeld verschwunden war, war sie nicht mehr fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. In ihrem Kopf wirbelten Selbstvorwürfe und unbeantwortete Fragen wie ein nie enden wollender Malstrom, herum.
Widerstandslos hatte sie sich auf Ariks Befehl hin auf Legolas Pferd gesetzt, das er ihr zugewiesen hatte. Gedankenverloren ließ sie die Fingerspitzen durch die Mähne des schönen Tieres gleiten und versuchte, das bohrende Schuldgefühl zu verdrängen, das sie beim Gedanken an dessen Besitzer befiel.
In ihrem Magen hatte sich ein schmerzhafter Knoten gebildet, der selbst durch die logischen Argumente ihres Geistes nicht verschwand. Natürlich würde es Legolas, da er in der Gewalt der Zwerge nun allein und nicht mir ihr belastet war, leichter fallen, eine Flucht durchzuführen. Doch das beruhigte sie nicht.
Arik erschien erneut und lenkte sein Pferd neben sie. Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch konnte sie ihm auf gleicher Höhe in die Augen blicken. Er schien ihre Gedanken zu erahnen, denn er schenkte ihr ein mehr als freundliches Lächeln.
"Nun können wir uns einmal unterhalten, ohne dass fremde Ohren lauschen", sagte er auf Elbisch und ließ in seiner Stimme seine Erleichterung über diesen Umstand mitklingen. "Immerhin wirst Du Dich daran gewöhnen müssen, dass wir beide bald sehr viel allein sein werden." Maeriel gab keine Antwort. Sie hatte an Ariks Sattel die beiden langen Elbenmesser entdeckt, die Legolas vormals getragen hatte. Der dreiste Diebstahl fachte ihre Wut aufs Neue an. "Wir werden in drei Tagen das Hauptlager erreichen. Dort werden wir vor den anderen Fürsten das Hochzeitsritual vollziehen, um meinen Anspruch auf die Führerschaft zu untermauern."
"Ihr werdet eher eine tote als eine willige Braut in Eurem Bett finden", fauchte Maeriel und erntete für ihren Ausbruch nur ein Schulterzucken.
"Das glaube ich nicht, meine Schöne. Ihr hängt sehr an Eurem Leben, denn ich glaube nicht, dass Ihr von Eurem Fluchtversuch nur zurückgekehrt sein, um das Leben Eures Begleiters zu retten." Er hob eine Hand und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie ließ es geschehen, vor Entrüstung bebend. "Ich kenne Frauen wie Dich. Ihr werdet immer überleben, weil Ihr egoistisch und berechnend seid."
Maeriel schluckte. Auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte, Arik hatte nicht Unrecht. Sie war eigennützig und hatte durch diese Eigenschaft mehr Übel angerichtet, als sie jemals wiedergutmachen konnte. Der Kampf in ihrem Kopf war bisher noch nicht entschieden, aber vielleicht würde irgendwann die Stimme ihrer Vernunft über die Stimme ihres Herzens siegen. Und dann würde sie die Frau sein, die Arik in ihr sah.
Sie richtete den Blick auf das Banner, das über den Köpfen der Männer flatterte. War es das, was ihr Schicksal für sie bereithielt? Eine Ehe mit einem Mann, die sie in etwas verwandelte, was sie nie hatte werden wollen? Vielleicht stand das Symbol der Krähe nicht für ihren Tod. Vielleicht stand es für den Verlust ihres Selbst.
"Lasst mich in Frieden", sagte sie leise und nicht sonderlich überzeugend. "Ich werde, wie Ihr es sagt, noch früh genug von Eurer Anwesenheit belästigt werden, also verschwindet. Ich werde kein Wort mehr mit Euch sprechen."
Arik musterte sie belustigt.
"Wenn Du Ruhe willst, Maeriel, dann kannst Du sie haben." Er grub seinem Pferd die Hacken in die Seite und preschte davon. Er rief in der Sprache der Norländer einige Befehle, die an die Rhûnländer weitergegeben wurde. Maeriel verstand kaum ein Wort, aber ihr wurde klar, dass etwas auf sie zukam. Sie wollte gar nicht wissen, was es genau war.
***
Im Lauf des Tages wurde ihr klar, was Arik seinen Männern befohlen hatte. Zunächst hatte sie es für einen Zufall gehalten, dass niemand das Wort an sie richtet, doch als selbst Thoran, der immer eine gehässige Bemerkung übriggehabt hatte, wortlos an ihr vorbeiritt, begriff sie.
Arik hatte ihrem Wunsch nach Ruhe in jeder Hinsicht entsprochen. Maeriel wusste nicht recht, ob sie sprachlos oder tatsächlich belustigt sein sollte. Er wollte mit ihr spielen und hatte eine Runde für sich entschieden. Obwohl sie ihn bislang geschickt von einer Handlung abgehalten hatte, war er endlich zum Zug gekommen.
Sie nahm sich der Zeit, die ihr gegeben wurde, dankbar an. Das Schweigen war einerseits heilsam, andererseits bedrückend. Als Legolas noch in ihrer Seite gewesen war, hatte sie ihre Gedanken mit ihm teilen können, aus seiner Überzeugung, dass sie überleben würden, neue Hoffnung schöpfen.
Nun war sie allein mit den zwei Stimmen in ihrem Kopf, die keine Entscheidung darüber treffen konnten, was sie zu tun hatte.
Ihr Verstand riet ihr, nicht zu verzweifeln, sich mit der Situation anzufreunden. Immerhin lebte sie, sie konnte reiten und bekam genug zu essen. Auf sie wartete eine Verbindung mit einem mächtigen Mann, gezwungen zwar, aber dennoch eine Zukunft. Sie verlor zwar ihre Freiheit, gewann dafür aber Abstand von ihrem Volk, neue Einblicke in das Leben, neue Erfahrungen.
Gegen diese nüchterne, rationale Stimme ihres Kopfes insistierte ihr Gefühl. Warum die Begegnung mit Legolas, warum die Erkenntnis all der Fehler, die sie gemacht hatte, wenn sie jetzt nicht die Möglichkeit bekam, sie wiedergutzumachen? Sie wollte die Menschen verlassen, in ihre Heimat zurückkehren, gereift und sich der Tatsache bewusst, dass sie nicht mehr das kleine, verwöhnte Mädchen war wie zu Beginn ihrer Reise. Sie war nicht bereit, das Gute in der Verbindung mit Arik zu sehen, die Zweckmäßigkeit. Solange sie noch fühlen konnte, würde sie es tun. Berechnend, so wie Arik sie sah, wollte sie niemals werden.
Sie sah, wie der Tag verging, ohne es wirklich zu sehen und auch die dunkle Umarmung der Nacht glitt vorbei wie ein flüchtiges Schemen. Sie schwebte in einer Wolke von Vorstellungen und Betrachtungen, von den rhythmischen Bewegungen des Pferdes unter ihr und dem Zerren des Windes an ihrer Kleidung. Die Stille umhüllte sie, als wolle sie nichts zu ihr heran und keinen ihrer Zweifel zu den Menschen dringen lassen.
Die Mittagssonne des nächsten Tages stand hoch am Himmel, als dieser Kokon der Einsamkeit durchbrochen wurde. Arik näherte sich ihr erneut.
"Und", fragte er. "Bist Du bereit, die Stille gehen zu lassen?"
"Ja", antwortete Maeriel, insgeheim froh darüber, dass eine weitere Stimme das Dickicht in ihrem Kopf durchdrang und zerschnitt wie ein Schwert einen Strauch voller Dornen.
Arik sah sie erstaunt an, er hatte anscheinend nicht mit damit gerechnet, dass sie einlenkte. Dann nickte er. Er hatte verstanden, dass sie ihm mit ihrer Antwort eine Art Waffenstillstand angeboten hatte. Maeriel hatte nicht vor, in irgendeiner Weise ihre Fluchtpläne aufzugeben. Aber vielleicht nützte ihr die Kooperation mehr, als sie ihr schadete.
***
Am Abend des Tages wurde eine dringend überfällige Pause eingelegt. Der schneidend kalte Wind, der vom Norden zu ihnen geweht wurde, war wie ein unerbittlicher Feind, dem sie sich entgegenzustemmen hatten und der letztendlich triumphierte. Im Schutz einiger Ruinen, die davon zeugten, dass Rhûn nicht immer eine große Leere gewesen war, suchten sie Schutz und entfachten einige Feuer.
Maeriel kuschelte sich dankbar in einen der weichen Pelze, die auf den Packtieren mitgeführt wurden. Anscheinend hatte das Lager, in dem sie Ariks das erste Mal getroffen hatte, lange genug existiert, dass der Anführer es für nötig gehalten hatte, es sich gemütlich zu machen.
Sie blickte über die züngelnden Flammen hinweg zu dem großen, schweigsamen Mann, der ihre Gedanken öfter fesselte, als sie es wollte. Er spürte die Berührung ihrer Augen und blickte auf. Sein Gesicht war ernst und nachdenklich und einmal nicht von jenem spöttischen Ausdruck gezeichnet, den er ihr gegenüber so oft aufsetzte. Als hätte er ihre Gedanken erraten, erklärte er:
"Meine Männer haben während des Aufenthaltes viele der Pelze zusammengetragen, damit wir sie im Hauptlager verteilen können."
"Auch eine Handlung, um Eure Führerschaft zu verteidigen?", wollte Maeriel wissen und bemühte sich, die Provokation aus ihrer Stimme zu nehmen. Arik schien sich dennoch herausgefordert zu fühlen, denn er erklärte, merklich kühl:
"Nein. Sie sind dafür da, damit die Frauen und Kinder nicht frieren. Es wird Winter. Die schweren Wolken kriechen über die Kette der Berge und noch immer sind viele meines Volkes auf dem Weg."
Maeriel nahm die Zurechtweisung entgegen und atmete tief durch.
"Warum kommt Ihr über die Berge?", erkundigte sie sich, um der Situation ein wenig ihrer Schärfe zu nehmen. Arik schüttelte ungläubig den Kopf.
"Das interessiert Euch nicht wirklich, gwelyth. Ich versichere Euch, Ihr müsst nicht versuchen, mich durch geheucheltes Interesse einzuwickeln." Als sie nicht reagierte, seufzte er. "Nun gut, ich werde es Euch erzählen. Im zweiten Ringkrieg schlugen sich viele Männer auf die Seite des dunklen Herrschers - und kehrten niemals zu ihren Familien zurück. Die Krieger wurden nur mit dem Tod gestraft, ihre Angehörigen jedoch durch unbestellte Äcker und die Trauer um ihre Männer und Söhne. Krankheiten begannen um sich zu greifen und zu allem Überfluss begann es, immer kälter zu werden. Es passierte über die Jahre und zunächst nahmen wir es nicht ernst, doch als die Pflanzen begannen einzugehen und der Himmel immer weniger Sonne zeigte, wurde uns klar, was unweigerlich folgen würde."
Maeriel folgte den Erläuterungen, wider Willen fasziniert. Sie hatte bereits davon gehört, dass das Eis in den Buchten des Nordens in den Jahren nach dem Krieg dicker geworden war, doch in ihrer Unwissenheit über das Leben hatte sie dem nicht viel Bedeutung zugemessen.
"Und deswegen hat sich Euer gesamtes Volk entschlossen, über die Berge zu gehen?" Die Vorstellung nahm ein Ausmaß an, das sie sich nicht vorstellen konnte. "Ohne zu wissen, was Euch erwarten könnte?"
"Genau so war es. Die Führer der Stämme waren sich einig, dass wir handeln mussten, ohne lange an Diplomatie oder Rücksicht auf die hier lebenden Völker zu nehmen. Wir wollten nicht erfrieren, sondern eher das Risiko auf uns nehmen, im Kampf zu sterben." Arik hob seine Hände den Flammen entgegen, so als lasse ihn die Erinnerung an das Geschehene erschauern. "Man sandte mich mit einigen Männern vor, um das Hauptlager zu bereiten und zu versuchen, Fuß zu fassen. Einer der Stämme der Rhûnländer, dem wir begegneten, war bereit, sich mit uns zu verbünden. Wir zahlten mit dem wenigen wertvollen Gut, das wir besaßen."
"Habt Ihr keine Angst, dass sie Euch verraten könnten?", wollte Maeriel wissen. "Sie sind Euch überlegen, da sie die Gegend kennen -."
"Natürlich sind sie das", unterbrach Arik sie, nicht etwa ungehalten, sondern sichtlich niedergedrückt. "Unsere Gruppe besteht aus Kriegern, aber unsere Familien sind dreimal so zahlreich wie wir. Wenn die Rhûnländer den Pakt brechen sollten, sind wir verloren. Aber das sind wir so oder so."
Arik schwieg abrupt und Maeriel begriff, dass er nicht mehr mit ihr sprechen wollte. Sie legte den Kopf auf die angezogenen Knie und starrte ins Feuer, dessen brennende Holzscheite mit einem leisen Knacken Funken in die Luft schleuderten. In ihrem Kopf entstanden Bilder von Krieg und Zerstörung, die sie bisher nur aus den Erzählungen ihres Volkes kannte, von hungernden Kindern.
Ihr Verstand schalt sie, zu mitleidig zu sein, sich von der Geschichte zu sehr berühren zu lassen, doch er verlor gegen ihren Instinkt. Es ging nicht darum, mit welchen Gefühlen sie Arik gegenüberstand, denn daran gab es für sie keinen Zweifel - jemand, der sie zu etwas zwingen wollte, zu dem konnte sie in keiner Weise Vertrauen oder gar Zuneigung fassen. Es ging darum, dass sie auf einmal verstehen konnte, was er tat. In gewissen Dingen ging es ihm nur um sich selbst, so zum Beispiel im Kampf um die Vorherrschaft unter seinen Leuten. Doch das alles wurde überschattet von seinem Bedürfnis, seinem Volk zu helfen.
Maeriel blickte nachdenklich zu ihm hinüber und betrachtete ihn wie aus anderen Augen. Sie verstand ihn - aber das hieß nicht, dass sie seine Mittel billigte. Um die Normänner zu schützen, würde er Krieg und Tod riskieren. Wie verzweifelt konnte ein Mensch sein, um so weit zu gehen? Sie würde es erfahren.
Maeriels Augen glitten über den Horizont, doch sie nahm weder die dort erscheinenden Gipfel des Gebirges noch irgendetwas anderes wahr. Seit dem Moment, in dem der Tross der zwergischen Händler aus ihrem Blickfeld verschwunden war, war sie nicht mehr fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. In ihrem Kopf wirbelten Selbstvorwürfe und unbeantwortete Fragen wie ein nie enden wollender Malstrom, herum.
Widerstandslos hatte sie sich auf Ariks Befehl hin auf Legolas Pferd gesetzt, das er ihr zugewiesen hatte. Gedankenverloren ließ sie die Fingerspitzen durch die Mähne des schönen Tieres gleiten und versuchte, das bohrende Schuldgefühl zu verdrängen, das sie beim Gedanken an dessen Besitzer befiel.
In ihrem Magen hatte sich ein schmerzhafter Knoten gebildet, der selbst durch die logischen Argumente ihres Geistes nicht verschwand. Natürlich würde es Legolas, da er in der Gewalt der Zwerge nun allein und nicht mir ihr belastet war, leichter fallen, eine Flucht durchzuführen. Doch das beruhigte sie nicht.
Arik erschien erneut und lenkte sein Pferd neben sie. Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch konnte sie ihm auf gleicher Höhe in die Augen blicken. Er schien ihre Gedanken zu erahnen, denn er schenkte ihr ein mehr als freundliches Lächeln.
"Nun können wir uns einmal unterhalten, ohne dass fremde Ohren lauschen", sagte er auf Elbisch und ließ in seiner Stimme seine Erleichterung über diesen Umstand mitklingen. "Immerhin wirst Du Dich daran gewöhnen müssen, dass wir beide bald sehr viel allein sein werden." Maeriel gab keine Antwort. Sie hatte an Ariks Sattel die beiden langen Elbenmesser entdeckt, die Legolas vormals getragen hatte. Der dreiste Diebstahl fachte ihre Wut aufs Neue an. "Wir werden in drei Tagen das Hauptlager erreichen. Dort werden wir vor den anderen Fürsten das Hochzeitsritual vollziehen, um meinen Anspruch auf die Führerschaft zu untermauern."
"Ihr werdet eher eine tote als eine willige Braut in Eurem Bett finden", fauchte Maeriel und erntete für ihren Ausbruch nur ein Schulterzucken.
"Das glaube ich nicht, meine Schöne. Ihr hängt sehr an Eurem Leben, denn ich glaube nicht, dass Ihr von Eurem Fluchtversuch nur zurückgekehrt sein, um das Leben Eures Begleiters zu retten." Er hob eine Hand und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie ließ es geschehen, vor Entrüstung bebend. "Ich kenne Frauen wie Dich. Ihr werdet immer überleben, weil Ihr egoistisch und berechnend seid."
Maeriel schluckte. Auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte, Arik hatte nicht Unrecht. Sie war eigennützig und hatte durch diese Eigenschaft mehr Übel angerichtet, als sie jemals wiedergutmachen konnte. Der Kampf in ihrem Kopf war bisher noch nicht entschieden, aber vielleicht würde irgendwann die Stimme ihrer Vernunft über die Stimme ihres Herzens siegen. Und dann würde sie die Frau sein, die Arik in ihr sah.
Sie richtete den Blick auf das Banner, das über den Köpfen der Männer flatterte. War es das, was ihr Schicksal für sie bereithielt? Eine Ehe mit einem Mann, die sie in etwas verwandelte, was sie nie hatte werden wollen? Vielleicht stand das Symbol der Krähe nicht für ihren Tod. Vielleicht stand es für den Verlust ihres Selbst.
"Lasst mich in Frieden", sagte sie leise und nicht sonderlich überzeugend. "Ich werde, wie Ihr es sagt, noch früh genug von Eurer Anwesenheit belästigt werden, also verschwindet. Ich werde kein Wort mehr mit Euch sprechen."
Arik musterte sie belustigt.
"Wenn Du Ruhe willst, Maeriel, dann kannst Du sie haben." Er grub seinem Pferd die Hacken in die Seite und preschte davon. Er rief in der Sprache der Norländer einige Befehle, die an die Rhûnländer weitergegeben wurde. Maeriel verstand kaum ein Wort, aber ihr wurde klar, dass etwas auf sie zukam. Sie wollte gar nicht wissen, was es genau war.
***
Im Lauf des Tages wurde ihr klar, was Arik seinen Männern befohlen hatte. Zunächst hatte sie es für einen Zufall gehalten, dass niemand das Wort an sie richtet, doch als selbst Thoran, der immer eine gehässige Bemerkung übriggehabt hatte, wortlos an ihr vorbeiritt, begriff sie.
Arik hatte ihrem Wunsch nach Ruhe in jeder Hinsicht entsprochen. Maeriel wusste nicht recht, ob sie sprachlos oder tatsächlich belustigt sein sollte. Er wollte mit ihr spielen und hatte eine Runde für sich entschieden. Obwohl sie ihn bislang geschickt von einer Handlung abgehalten hatte, war er endlich zum Zug gekommen.
Sie nahm sich der Zeit, die ihr gegeben wurde, dankbar an. Das Schweigen war einerseits heilsam, andererseits bedrückend. Als Legolas noch in ihrer Seite gewesen war, hatte sie ihre Gedanken mit ihm teilen können, aus seiner Überzeugung, dass sie überleben würden, neue Hoffnung schöpfen.
Nun war sie allein mit den zwei Stimmen in ihrem Kopf, die keine Entscheidung darüber treffen konnten, was sie zu tun hatte.
Ihr Verstand riet ihr, nicht zu verzweifeln, sich mit der Situation anzufreunden. Immerhin lebte sie, sie konnte reiten und bekam genug zu essen. Auf sie wartete eine Verbindung mit einem mächtigen Mann, gezwungen zwar, aber dennoch eine Zukunft. Sie verlor zwar ihre Freiheit, gewann dafür aber Abstand von ihrem Volk, neue Einblicke in das Leben, neue Erfahrungen.
Gegen diese nüchterne, rationale Stimme ihres Kopfes insistierte ihr Gefühl. Warum die Begegnung mit Legolas, warum die Erkenntnis all der Fehler, die sie gemacht hatte, wenn sie jetzt nicht die Möglichkeit bekam, sie wiedergutzumachen? Sie wollte die Menschen verlassen, in ihre Heimat zurückkehren, gereift und sich der Tatsache bewusst, dass sie nicht mehr das kleine, verwöhnte Mädchen war wie zu Beginn ihrer Reise. Sie war nicht bereit, das Gute in der Verbindung mit Arik zu sehen, die Zweckmäßigkeit. Solange sie noch fühlen konnte, würde sie es tun. Berechnend, so wie Arik sie sah, wollte sie niemals werden.
Sie sah, wie der Tag verging, ohne es wirklich zu sehen und auch die dunkle Umarmung der Nacht glitt vorbei wie ein flüchtiges Schemen. Sie schwebte in einer Wolke von Vorstellungen und Betrachtungen, von den rhythmischen Bewegungen des Pferdes unter ihr und dem Zerren des Windes an ihrer Kleidung. Die Stille umhüllte sie, als wolle sie nichts zu ihr heran und keinen ihrer Zweifel zu den Menschen dringen lassen.
Die Mittagssonne des nächsten Tages stand hoch am Himmel, als dieser Kokon der Einsamkeit durchbrochen wurde. Arik näherte sich ihr erneut.
"Und", fragte er. "Bist Du bereit, die Stille gehen zu lassen?"
"Ja", antwortete Maeriel, insgeheim froh darüber, dass eine weitere Stimme das Dickicht in ihrem Kopf durchdrang und zerschnitt wie ein Schwert einen Strauch voller Dornen.
Arik sah sie erstaunt an, er hatte anscheinend nicht mit damit gerechnet, dass sie einlenkte. Dann nickte er. Er hatte verstanden, dass sie ihm mit ihrer Antwort eine Art Waffenstillstand angeboten hatte. Maeriel hatte nicht vor, in irgendeiner Weise ihre Fluchtpläne aufzugeben. Aber vielleicht nützte ihr die Kooperation mehr, als sie ihr schadete.
***
Am Abend des Tages wurde eine dringend überfällige Pause eingelegt. Der schneidend kalte Wind, der vom Norden zu ihnen geweht wurde, war wie ein unerbittlicher Feind, dem sie sich entgegenzustemmen hatten und der letztendlich triumphierte. Im Schutz einiger Ruinen, die davon zeugten, dass Rhûn nicht immer eine große Leere gewesen war, suchten sie Schutz und entfachten einige Feuer.
Maeriel kuschelte sich dankbar in einen der weichen Pelze, die auf den Packtieren mitgeführt wurden. Anscheinend hatte das Lager, in dem sie Ariks das erste Mal getroffen hatte, lange genug existiert, dass der Anführer es für nötig gehalten hatte, es sich gemütlich zu machen.
Sie blickte über die züngelnden Flammen hinweg zu dem großen, schweigsamen Mann, der ihre Gedanken öfter fesselte, als sie es wollte. Er spürte die Berührung ihrer Augen und blickte auf. Sein Gesicht war ernst und nachdenklich und einmal nicht von jenem spöttischen Ausdruck gezeichnet, den er ihr gegenüber so oft aufsetzte. Als hätte er ihre Gedanken erraten, erklärte er:
"Meine Männer haben während des Aufenthaltes viele der Pelze zusammengetragen, damit wir sie im Hauptlager verteilen können."
"Auch eine Handlung, um Eure Führerschaft zu verteidigen?", wollte Maeriel wissen und bemühte sich, die Provokation aus ihrer Stimme zu nehmen. Arik schien sich dennoch herausgefordert zu fühlen, denn er erklärte, merklich kühl:
"Nein. Sie sind dafür da, damit die Frauen und Kinder nicht frieren. Es wird Winter. Die schweren Wolken kriechen über die Kette der Berge und noch immer sind viele meines Volkes auf dem Weg."
Maeriel nahm die Zurechtweisung entgegen und atmete tief durch.
"Warum kommt Ihr über die Berge?", erkundigte sie sich, um der Situation ein wenig ihrer Schärfe zu nehmen. Arik schüttelte ungläubig den Kopf.
"Das interessiert Euch nicht wirklich, gwelyth. Ich versichere Euch, Ihr müsst nicht versuchen, mich durch geheucheltes Interesse einzuwickeln." Als sie nicht reagierte, seufzte er. "Nun gut, ich werde es Euch erzählen. Im zweiten Ringkrieg schlugen sich viele Männer auf die Seite des dunklen Herrschers - und kehrten niemals zu ihren Familien zurück. Die Krieger wurden nur mit dem Tod gestraft, ihre Angehörigen jedoch durch unbestellte Äcker und die Trauer um ihre Männer und Söhne. Krankheiten begannen um sich zu greifen und zu allem Überfluss begann es, immer kälter zu werden. Es passierte über die Jahre und zunächst nahmen wir es nicht ernst, doch als die Pflanzen begannen einzugehen und der Himmel immer weniger Sonne zeigte, wurde uns klar, was unweigerlich folgen würde."
Maeriel folgte den Erläuterungen, wider Willen fasziniert. Sie hatte bereits davon gehört, dass das Eis in den Buchten des Nordens in den Jahren nach dem Krieg dicker geworden war, doch in ihrer Unwissenheit über das Leben hatte sie dem nicht viel Bedeutung zugemessen.
"Und deswegen hat sich Euer gesamtes Volk entschlossen, über die Berge zu gehen?" Die Vorstellung nahm ein Ausmaß an, das sie sich nicht vorstellen konnte. "Ohne zu wissen, was Euch erwarten könnte?"
"Genau so war es. Die Führer der Stämme waren sich einig, dass wir handeln mussten, ohne lange an Diplomatie oder Rücksicht auf die hier lebenden Völker zu nehmen. Wir wollten nicht erfrieren, sondern eher das Risiko auf uns nehmen, im Kampf zu sterben." Arik hob seine Hände den Flammen entgegen, so als lasse ihn die Erinnerung an das Geschehene erschauern. "Man sandte mich mit einigen Männern vor, um das Hauptlager zu bereiten und zu versuchen, Fuß zu fassen. Einer der Stämme der Rhûnländer, dem wir begegneten, war bereit, sich mit uns zu verbünden. Wir zahlten mit dem wenigen wertvollen Gut, das wir besaßen."
"Habt Ihr keine Angst, dass sie Euch verraten könnten?", wollte Maeriel wissen. "Sie sind Euch überlegen, da sie die Gegend kennen -."
"Natürlich sind sie das", unterbrach Arik sie, nicht etwa ungehalten, sondern sichtlich niedergedrückt. "Unsere Gruppe besteht aus Kriegern, aber unsere Familien sind dreimal so zahlreich wie wir. Wenn die Rhûnländer den Pakt brechen sollten, sind wir verloren. Aber das sind wir so oder so."
Arik schwieg abrupt und Maeriel begriff, dass er nicht mehr mit ihr sprechen wollte. Sie legte den Kopf auf die angezogenen Knie und starrte ins Feuer, dessen brennende Holzscheite mit einem leisen Knacken Funken in die Luft schleuderten. In ihrem Kopf entstanden Bilder von Krieg und Zerstörung, die sie bisher nur aus den Erzählungen ihres Volkes kannte, von hungernden Kindern.
Ihr Verstand schalt sie, zu mitleidig zu sein, sich von der Geschichte zu sehr berühren zu lassen, doch er verlor gegen ihren Instinkt. Es ging nicht darum, mit welchen Gefühlen sie Arik gegenüberstand, denn daran gab es für sie keinen Zweifel - jemand, der sie zu etwas zwingen wollte, zu dem konnte sie in keiner Weise Vertrauen oder gar Zuneigung fassen. Es ging darum, dass sie auf einmal verstehen konnte, was er tat. In gewissen Dingen ging es ihm nur um sich selbst, so zum Beispiel im Kampf um die Vorherrschaft unter seinen Leuten. Doch das alles wurde überschattet von seinem Bedürfnis, seinem Volk zu helfen.
Maeriel blickte nachdenklich zu ihm hinüber und betrachtete ihn wie aus anderen Augen. Sie verstand ihn - aber das hieß nicht, dass sie seine Mittel billigte. Um die Normänner zu schützen, würde er Krieg und Tod riskieren. Wie verzweifelt konnte ein Mensch sein, um so weit zu gehen? Sie würde es erfahren.
