Kapitel 12 - Erkenntnis
Es schneite vor dem Eingang der kleinen Höhle, als Maeriel heraustrat. So weit sie sehen konnte, gab es nichts anderes als schroffe Felsgrate, denen das Weiß der vom Wind mitgerissenen Flocken ein wenig von ihrer kahlen Bedrohlichkeit nahm. Dennoch, die Berge waren eine noch schlimmere Einöde, als es das Rhûnland jemals sein konnte.
Seit über einer Woche lebte Maeriel schon im Inneren der Unterkunft, mutterseelenallein. Nur ab und zu verließ sie die Dunkelheit und die Wärme der Grotte, um einen klaren Kopf zu bekommen. Doch die meiste Zeit saß sie an dem kleinen Feuer, dessen Rauch durch verborgene Abzüge in den Felsspalten stieg, und dachte nach.
In einer kleinen Aushöhlung, die Maeriel zunächst nicht gemerkt hatte, waren Decken, Vorräte und Verbandsmaterial versteckt gewesen. Die Stimme hatte sie darauf aufmerksam gemacht. Deshalb hatte es sie nicht verwundert, da der Zahn der Zeit nicht an den Gegenständen genagt hatte. Als sie in das Loch gegriffen hatte, um die Decken hervorzuziehen, hatte sie eine seltsame, prickelnde Wärme gefühlt, die sie davon überzeugt hatte, dass an diesem Ort natürliche Abläufe keinen Platz hatten.
Auch ein wunderschöner Bogen und ein Köcher mit Pfeilen befanden sich in der Höhle, sowie ein langes Messer, auf dessen funkelnder, weißer Klinge elbsiche Buchstaben eingeprägt waren, die Maeriel nicht lesen konnte, weil der Dialekt bereits zu alt war.
Die Stimme sorgte gut für sie. Unter dem Schnee fand sie manchmal Wurzeln, die auf dem kargen Felsgrund niemals Halt gefunden hätten und hin und wieder fand sie auch trockenes Holz, obwohl es seit ihrer Flucht von dem Schlachtfeld niemals aufgehört hatte zu schneien. Auch das Pferd, das sie nach ihrer Ankunft freigelassen hatte, erschien in regelmäßigen Abständen vor der Höhle und schien gut genährt und gesund zu sein.
'Was wunderst Du Dich, Maeriel?', flüsterte die Stimme leise. Maeriel seufzte und betrachtete nachdenklich ihren Atem, der in der kalten Luft kondensierte. 'Ich habe immer nur Dein Bestes gewollt.'
"Das behauptest Du!", sagte sie leise. In den Tagen der Einsamkeit hatte sie sich daran gewöhnt, laut zu sprechen. Der Klang ihrer eigenen Stimme war tröstlich, konnte sie davon überzeugen, dass sie noch da war, dass der Fremde in ihrem Kopf sie nicht vollständig übernommen hatte. "Du tust alles, um mein Leben zu zerstören."
'Dein Leben war von Anfang an bestimmt, in dieser Weise zu verlaufen!', lautete die wenig ermutigende Antwort. 'Ich weiß alles über den Fluch, der auf Dir liegt.'
"Warum weißt Du es?", erkundigte sich Maeriel. Seit die Stimme ihr den Weg in die Höhle gewiesen hatte, war sie sich sicher, dass die Stimme kein Teil ihres Selbst war. Es gab viele Geschichten über Elbe und Menschen, die im Wahn eine zweite Persönlichkeit in sich wahrnahmen, doch bei ihr war es etwas anderes. Etwas Fremdes hatte Besitz von ihr ergriffen. Etwas Magisches, das sie mehr und mehr kontrollierte, je öfter sie auf seine Fähigkeiten zurückgriff. "Wer bist Du? Warum lässt Du mich eine so lange Zeit im Unklaren darüber?"
'Weil Dir die Wahrheit wehtun wird, Kind!'
"Was kann mich mehr verletzen als dieses Leben, das ich führen muss? Um mich herum geschehen furchtbare Dinge, auf die ich mir keinen Reim machen kann! Gib mir die Chance, wenigstens zu wissen, warum!"
Die Stimme schwieg für einen Moment und Maeriel dachte bereits, dass sie sich zurückgezogen hätte, doch dann kehrte sie zurück.
'Ich sah Dich am Tag Deiner Geburt. Du warst ein wunderschönes Kind mit Deinem schwarzen Haaren, doch als Du Deine Augen aufschlugst, da waren sie von einer goldenen Farbe und am Himmel zog unter den schwarzen Wolken ein Schwarm Krähen vorbei. Ich brauchte diese Zeichen nicht um zu erkennen, wer Du warst. Es war der schönste und der schrecklichste Moment meines Lebens.'
"Hast Du mich zu dem gemacht, was ich bin?", flüsterte Maeriel. Sie zitterte, doch das lag nicht an dem eisigen Wind, der mit einem Mal an Gewalt zunahm und sie hin und her stieß.
'Du warst dazu bestimmt, nicht von mir, sondern vom Schicksal. Nur einmal in einer Generation Elben wird ein Kind der Krähen geboren. Jedes dieser Kinder hatte eine Bürde zu tragen. Viele mussten jung sterben, andere brachten großes Unglück über ihr Volk.'
"Und meine Bestimmung war es, dass ich meinen Körper und meine Seele mich Dir teilen?"
"Es war mir nicht klar, bis ich starb. Ein Schwert machte meinem Leben ein schnelles Ende und im allerletzten Moment dachte ich an Dich. Und dann, so als würde ich hinausgesogen aus meinem Leib und in eine unbekannte Form gepresst, sah ich plötzlich durch Deine Augen, konnte Deine Stimme hören, sah, wie Du durch das Leben gingst.'
"Doch Du warst gefangen in mir", stellte Maeriel fest, da sie langsam zu begreifen begann. "Der magische Schutz meiner Familie hielt Dich davon ab, stärker zu werden. Ich verließ den Wald und Du begannst, stärker zu werden."
'Glaube mir, ich wollte es gar nicht. Mir war sehr wohl bewusst, dass mit jedem Mal, wenn Du Dich auf meine Zauberkraft verlässt, schwächer wirst. In meinem Leben war ich sehr mächtig und auf jetzt drängt alles in mir danach, wieder zu meiner alten Stärke zurückzufinden.'
"Dann ist Dir gleich, was mit mir wird?"
'Nein', antwortete die Stimme. 'Ich habe Dich nur überredet, meine Kräfte zu nutzen, wenn eine Situation hoffnungslos war. Auch wenn ich früher hart zu Dir war, ich wollte nur, dass Du begreifst, welche Verantwortung auf Dir lastet und wie schwer es sein kann, mir zu widerstehen. Du kannst viel Gutes tun in dieser Welt und Dir könnte der Gedanken kommen, dass Du nur etwas wert bist auf dieser Welt, wenn ich bei Dir bin. Doch Du kannst auch widerstehen. Der Preis dafür die Einsamkeit, denn wann immer Du bei denen bist, die Du liebst, wirst Du in Versuchung kommen, ihnen zu helfen.'
Die Worte hallten in Maeriels Seele wider, schienen scharfe Kanten zu besitzen, die ihr Innerstes aufschnitten. Der Schmerz war kaum auszuhalten.
Da hörte sie Hufschlag.
*** In dem Teppich aus Schnee und wirbelnden Schneeflocken zeigten sich die Umrisse zweier Gestalten, die auf Pferden den schmalen Pass hinauf zur Höhle geritten kamen. Bevor Maeriel sie erkannte, wusste sie schon, wer die beiden Männer waren.
Arik war in warme Pelze gehüllt und obwohl er eine derartige Witterung gewohnt sein musste, wirkte er angeschlagen. Er schwankte leicht im Sattel und hielt die Zügel fest umspannt, so als fürchte er, den Halt zu verlieren.
Legolas verließ sich auf seinen grauen Elbenumhang. Der Schnee schien seine hohe Gestalt völlig unangetastet zu lassen. Sein Gesicht war grimmig, doch es veränderte sich, als er Maeriel sah.
Die beiden Reiter hielten ihre Pferde an und saßen ab. Arik hatte sichtliche Probleme und Maeriel begriff, dass er verwundet war. Sein unsteter Blick war auf sie gerichtet und stellte eine Frage, deren Antwort Maeriel nicht kannte.
Wortlos ging sie in die Höhle. Die beiden Männer folgten ihr und saßen kurz darauf mit ihr an dem kleinen, prasselnden Feuer. Maeriel gab vor, in die Flammen zu sehen, doch sie nutzte die Dunkelheit der Höhle, um die Mienen der beiden Männer zu studieren. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht leiden konnte. Was hatte sie dazu gebracht, gemeinsam nach ihr zu suchen?
"Was ist auf dem Schlachtfeld geschehen?", fragte sie schließlich. Legolas schien fast erleichtert über diese Frage, denn er beeilte sich zu antworte:
"Die Rhûnländer unterlagen und zogen sich zurück, ohne das Lager angegriffen zu haben. Mein Vater hat entschieden, die Normänner für die Dauer des Winters zu unterstützen, dann wird er mit König Elessar über Siedlungsraum beraten, den er dem Volk überlassen kann."
"Das ist gut", sagte Maeriel und warme Erleichterung ergriff sie zum ersten Mal seit vielen Tagen. "Es war gut, dass ich nicht dort war."
"Wie seid Ihr entkommen?", wollte Legolas wissen. Maeriel seufzte und wollte eine ausweichende Antwort geben, als sich Arik zum ersten Mal einmischte. Seine Stimme klang rau, Linien des Schmerzes lagen auf seinem Gesicht.
"Eine lange Geschichte, Legolas. Eine Geschichte über eine Frau, die fähig ist, ein Zelt mit der Kraft ihres Willens in einer Sekunde in Brand zu setzen. Aber ich denke nicht, dass wir etwas darüber wissen wollen. Es ist Maeriels Geheimnis, und das sollten wir respektieren.
"Sprecht nicht für mich", sagte Legolas kühl. Die Abneigung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, sagte sie bestimmt:
"Legolas, lasst mich für einen Moment mit Arik allein. Ich möchte mir seine Verletzungen ansehen."
Der Elb zögerte eine Sekunde, doch dann erhob er sich schweigend und ging. Maeriel ahnte, dass er die Hand von diesem Moment an stets an der Waffe haben würde.
Nachdem Legolas verschwundne war, streifte Arik ohne zu Zögern den schweren Fellmantel ab und enthüllte einen großen Blutfleck auf seinem groben Hemd. Maeriel holte sauberes Leinen, eine Schüssel mit Wasser und einige Heilkräuter hervor, während Arik sein Hemd öffnete.
Ohne mit der Wimper zu zucken löste Maeriel den Verband, der Ariks Schulter bedeckte und rang erschrocken nach Atem, als sie das große, heftig blutende Loch in seiner Schulter bemerkte.
"Eine Lanze", erklärt er knapp und verzog kurz das Gesicht, als Maeriel die Verletzung auswusch und eine Kompresse aus Kräutern auflegte. "Es war eine furchtbare Schlacht."
"Ich bin froh, dass Euch nichts geschehen ist." Maeriel wich Ariks verwundertem Blick nicht aus. Es war nicht die Zeit für Lügen oder verschämtes Ausweichen. "Ich habe Euch gern, Arik, auch nach allem, was bisher geschehen ist." Er ergriff ihre Hand, doch sie entzog sich ihm. "Aber ich kann Euch kein Versprechen geben, aus genau jenen Gründen, die Ihr Legolas eben erläutert habt."
"Dein Geheimnis, gwelyth?" Er lächelte gequält. "Ich glaube, ich verstehe Dich. Aber Du sollst auch wissen, dass Du in den Zelten der Normänner stets willkommen sein wirst, wenn Du eines Tages dazu bereit bist."
"Ich danke Dir", sagte Maeriel gerührt und war froh, dass er es ihr nicht allzu schwer machte und von Gefühlen sprach. Unbehaglich erhob sie sich. "Ich werde auch mit Legolas spreche. Entschuldigt mich für einen Moment."
Legolas sah ihr gespannt entgegen und hielt tatsächlich seinen Bogen in der Hand. Ein seltenes Lächeln glitt über sein Gesicht.
"Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, Euch zu sagen, wie froh ich bin, Euch wiederzusehen", sagte er freundlich. "Ihr könnt Euch sicher meine Überraschung vorstellen, als Euer Vetter Galwion mir erklärt, wer Ihr seid. Umso dringender wurde mein Wunsch, Euch so schnell wie möglich zu finden."
"Ihr seid den Zwergen entkommen und habt die Rhûnländer dazu gebracht, den Bund mit den Norländern zu brechen." Es war keine Frage, sondern vielmehr eine Feststellung. Nur er war nahe genug am Gebiet der Rhûnländer gewesen, um dies tun zu können.
Legolas nickte.
"Zu Eurer Befreiung war das nötig. Nun, da es soweit ist - seid Ihr bereit, mich zu begleiten? Ich würde mich geehrt fühlen, Euch als meine Gattin heimführen zu können. Ich habe Euch kennen und schätzen gelernt, Maeriel."
Maeriel schluckte. Sie hasste die Situation, in der sie sich befand. Sie empfand viel für beide Männer, doch auch Legolas konnte sie nur eine einzige Antwort geben.
"Nein", sagte sie und fühlte, wie die Einsamkeit in ihr empor kroch.
***
Es hatte aufgehört zu schneien und der Himmel riss ein wenig auf. Einzelnen Sonnenstrahlen gelang es, sich durch die graue Melasse zu kämpfen.
Maeriel betrachtete, wie Legolas und Arik ihre Pferde bestiegen. Ein letztes Mal hatte sie Ariks Verletzung verbunden und Legolas eine Nachricht für ihre Familie mitgegeben. Nun würden die beiden Männer zu ihren Leuten zurückkehren. Maeriels Wunsch, mit ihnen zu ziehen, war übermächtig, doch sie hatte nicht vergessen, was ihr die Stimme erklärt hatte. Wenn sie große Zuneigung zu einer Person fassen würde, würde sie irgendwann gezwungen sein, ihre Kräfte für diesen Menschen - oder Elben - einzusetzen. Das durfte sie nicht riskieren.
"Ihr könnt Euch noch entscheiden", sagte Legolas und bemühte sich nicht, die Hoffnung aus seiner Stimme zu verbannen. Doch Maeriel schüttelte entschlossen den Kopf.
"Unsere Wege trennen sich hier und ich glaube nicht, dass sie sich noch einmal kreuzen werden", erklärte sie, obwohl der Gedanke sie innerlich fast zerriss.
Arik sah sie nicht an, sondern starrte auf seine Hände. Und er tat es auch nicht, als er seinem Pferd die Sporen gab und an Legolas Seite den Pfad hinunterritt. Maeriel senkte den Blick, um die vertrauten Gestalten nicht verschwinden sehen zu müssen. Je leiser die Geräusche der Pferdehufe auf den bloßen Steinen wurden, desto mehr Gefühle schienen aus ihr herauszufließen wie Wasser aus einem lecken Gefäß.
Eine lange Zeit geschah rein gar nicht. Sie stand im knöchelhohen Schnee und fror, doch sie merkte es nicht. Schließlich handelte ihr Körper wie von selbst. Eilige kehrte sie in die Höhle zurück und packte die notwendigsten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Sorgfältig löschte sie das Feuer, sah sich einen Moment schweigend um und kehrte dann ins Freie zurück.
Das Pferd wartete dort auf sie und schnaubte, forderte sie zum Aufbruch auf. Maeriel schnallte die Bündel am Sattel fest, bewaffnete sich und stieg auf. Der warme Körper des Tieres unter ihr beruhigte sie ein wenig.
'Ich bin sehr stolz auf Dich', meldete sich die Stimme. 'Es tut mir leid, Maeriel.'
"Sei still!", befahl sie bitter. "Ich glaube, dass der Tod besser ist als die Einsamkeit."
'Du bist doch nicht allein. Wir werden uns besser kennen lernen und ich werde wieder gut machen, dass ich die meiste Zeit meines Lebens nicht bei Dir sein konnte.'
"Warum konntest Du nicht bei mir sein? Und wieso denkst Du, das Recht gehabt zu haben?"
Die Stimme lachte.
'Du weißt also immer noch nicht, wer ich bin? Nun, ich denke, ich sollte es Dir sagen." Maeriel spürte, dass die Stimme zögerte. Je öfter sie miteinander sprachen, desto klarer wurde es Maeriel, dass der Fremde in ihr nicht bösartig war. Aber er war oft egoistisch und setzte sich über ihre Entscheidungen hinweg, weil er glaubte, sie habe nicht die nötige Erfahrung, um die Dinge richtig beurteilen zu können. "Maeriel, ich bin Dein Vater."
"Ich wusste es", flüsterte Maeriel. Sie hatte die Wahrheit oft gespürt, während des Fiebers oder auch, als die Stimme sie vor der Vergewaltigung gerettet hatte. Er wollte sie beschützen. Weil sie seine Tochter war. Weil sie ein Teil von ihm und er ein Teil von ihr war.
Maeriel schnalzte mit den Zügeln und das Pferd trabte an. Hoch über ihr, am Himmel, kreiste in großer Höhe ein Vogel. Obwohl sie in nicht erkennen oder seinen Schrei hören konnte, wusste sie, was für ein Tier es wahr. Und zum ersten Mal verspürte sie nicht mehr die drückende Last der Ungewissheit. Ihr war nun bewusst, was sie erwartet, kannte ihre Vergangenheit und Zukunft.
Und sie würde sich ihr Schicksal zum Freund machen. Ganz gleich, wie lang es dauern würde.
Das Ende (?)
Hallo, liebe Leser! Hat Euch die Story gefallen? Vielleicht gibt es eine Fortsetzung. Sagt mir Eure Meinung dazu! Per Review oder auch gerne per Mail: verena_trek@gmx.de
Lieber Gruß
Demetra
Es schneite vor dem Eingang der kleinen Höhle, als Maeriel heraustrat. So weit sie sehen konnte, gab es nichts anderes als schroffe Felsgrate, denen das Weiß der vom Wind mitgerissenen Flocken ein wenig von ihrer kahlen Bedrohlichkeit nahm. Dennoch, die Berge waren eine noch schlimmere Einöde, als es das Rhûnland jemals sein konnte.
Seit über einer Woche lebte Maeriel schon im Inneren der Unterkunft, mutterseelenallein. Nur ab und zu verließ sie die Dunkelheit und die Wärme der Grotte, um einen klaren Kopf zu bekommen. Doch die meiste Zeit saß sie an dem kleinen Feuer, dessen Rauch durch verborgene Abzüge in den Felsspalten stieg, und dachte nach.
In einer kleinen Aushöhlung, die Maeriel zunächst nicht gemerkt hatte, waren Decken, Vorräte und Verbandsmaterial versteckt gewesen. Die Stimme hatte sie darauf aufmerksam gemacht. Deshalb hatte es sie nicht verwundert, da der Zahn der Zeit nicht an den Gegenständen genagt hatte. Als sie in das Loch gegriffen hatte, um die Decken hervorzuziehen, hatte sie eine seltsame, prickelnde Wärme gefühlt, die sie davon überzeugt hatte, dass an diesem Ort natürliche Abläufe keinen Platz hatten.
Auch ein wunderschöner Bogen und ein Köcher mit Pfeilen befanden sich in der Höhle, sowie ein langes Messer, auf dessen funkelnder, weißer Klinge elbsiche Buchstaben eingeprägt waren, die Maeriel nicht lesen konnte, weil der Dialekt bereits zu alt war.
Die Stimme sorgte gut für sie. Unter dem Schnee fand sie manchmal Wurzeln, die auf dem kargen Felsgrund niemals Halt gefunden hätten und hin und wieder fand sie auch trockenes Holz, obwohl es seit ihrer Flucht von dem Schlachtfeld niemals aufgehört hatte zu schneien. Auch das Pferd, das sie nach ihrer Ankunft freigelassen hatte, erschien in regelmäßigen Abständen vor der Höhle und schien gut genährt und gesund zu sein.
'Was wunderst Du Dich, Maeriel?', flüsterte die Stimme leise. Maeriel seufzte und betrachtete nachdenklich ihren Atem, der in der kalten Luft kondensierte. 'Ich habe immer nur Dein Bestes gewollt.'
"Das behauptest Du!", sagte sie leise. In den Tagen der Einsamkeit hatte sie sich daran gewöhnt, laut zu sprechen. Der Klang ihrer eigenen Stimme war tröstlich, konnte sie davon überzeugen, dass sie noch da war, dass der Fremde in ihrem Kopf sie nicht vollständig übernommen hatte. "Du tust alles, um mein Leben zu zerstören."
'Dein Leben war von Anfang an bestimmt, in dieser Weise zu verlaufen!', lautete die wenig ermutigende Antwort. 'Ich weiß alles über den Fluch, der auf Dir liegt.'
"Warum weißt Du es?", erkundigte sich Maeriel. Seit die Stimme ihr den Weg in die Höhle gewiesen hatte, war sie sich sicher, dass die Stimme kein Teil ihres Selbst war. Es gab viele Geschichten über Elbe und Menschen, die im Wahn eine zweite Persönlichkeit in sich wahrnahmen, doch bei ihr war es etwas anderes. Etwas Fremdes hatte Besitz von ihr ergriffen. Etwas Magisches, das sie mehr und mehr kontrollierte, je öfter sie auf seine Fähigkeiten zurückgriff. "Wer bist Du? Warum lässt Du mich eine so lange Zeit im Unklaren darüber?"
'Weil Dir die Wahrheit wehtun wird, Kind!'
"Was kann mich mehr verletzen als dieses Leben, das ich führen muss? Um mich herum geschehen furchtbare Dinge, auf die ich mir keinen Reim machen kann! Gib mir die Chance, wenigstens zu wissen, warum!"
Die Stimme schwieg für einen Moment und Maeriel dachte bereits, dass sie sich zurückgezogen hätte, doch dann kehrte sie zurück.
'Ich sah Dich am Tag Deiner Geburt. Du warst ein wunderschönes Kind mit Deinem schwarzen Haaren, doch als Du Deine Augen aufschlugst, da waren sie von einer goldenen Farbe und am Himmel zog unter den schwarzen Wolken ein Schwarm Krähen vorbei. Ich brauchte diese Zeichen nicht um zu erkennen, wer Du warst. Es war der schönste und der schrecklichste Moment meines Lebens.'
"Hast Du mich zu dem gemacht, was ich bin?", flüsterte Maeriel. Sie zitterte, doch das lag nicht an dem eisigen Wind, der mit einem Mal an Gewalt zunahm und sie hin und her stieß.
'Du warst dazu bestimmt, nicht von mir, sondern vom Schicksal. Nur einmal in einer Generation Elben wird ein Kind der Krähen geboren. Jedes dieser Kinder hatte eine Bürde zu tragen. Viele mussten jung sterben, andere brachten großes Unglück über ihr Volk.'
"Und meine Bestimmung war es, dass ich meinen Körper und meine Seele mich Dir teilen?"
"Es war mir nicht klar, bis ich starb. Ein Schwert machte meinem Leben ein schnelles Ende und im allerletzten Moment dachte ich an Dich. Und dann, so als würde ich hinausgesogen aus meinem Leib und in eine unbekannte Form gepresst, sah ich plötzlich durch Deine Augen, konnte Deine Stimme hören, sah, wie Du durch das Leben gingst.'
"Doch Du warst gefangen in mir", stellte Maeriel fest, da sie langsam zu begreifen begann. "Der magische Schutz meiner Familie hielt Dich davon ab, stärker zu werden. Ich verließ den Wald und Du begannst, stärker zu werden."
'Glaube mir, ich wollte es gar nicht. Mir war sehr wohl bewusst, dass mit jedem Mal, wenn Du Dich auf meine Zauberkraft verlässt, schwächer wirst. In meinem Leben war ich sehr mächtig und auf jetzt drängt alles in mir danach, wieder zu meiner alten Stärke zurückzufinden.'
"Dann ist Dir gleich, was mit mir wird?"
'Nein', antwortete die Stimme. 'Ich habe Dich nur überredet, meine Kräfte zu nutzen, wenn eine Situation hoffnungslos war. Auch wenn ich früher hart zu Dir war, ich wollte nur, dass Du begreifst, welche Verantwortung auf Dir lastet und wie schwer es sein kann, mir zu widerstehen. Du kannst viel Gutes tun in dieser Welt und Dir könnte der Gedanken kommen, dass Du nur etwas wert bist auf dieser Welt, wenn ich bei Dir bin. Doch Du kannst auch widerstehen. Der Preis dafür die Einsamkeit, denn wann immer Du bei denen bist, die Du liebst, wirst Du in Versuchung kommen, ihnen zu helfen.'
Die Worte hallten in Maeriels Seele wider, schienen scharfe Kanten zu besitzen, die ihr Innerstes aufschnitten. Der Schmerz war kaum auszuhalten.
Da hörte sie Hufschlag.
*** In dem Teppich aus Schnee und wirbelnden Schneeflocken zeigten sich die Umrisse zweier Gestalten, die auf Pferden den schmalen Pass hinauf zur Höhle geritten kamen. Bevor Maeriel sie erkannte, wusste sie schon, wer die beiden Männer waren.
Arik war in warme Pelze gehüllt und obwohl er eine derartige Witterung gewohnt sein musste, wirkte er angeschlagen. Er schwankte leicht im Sattel und hielt die Zügel fest umspannt, so als fürchte er, den Halt zu verlieren.
Legolas verließ sich auf seinen grauen Elbenumhang. Der Schnee schien seine hohe Gestalt völlig unangetastet zu lassen. Sein Gesicht war grimmig, doch es veränderte sich, als er Maeriel sah.
Die beiden Reiter hielten ihre Pferde an und saßen ab. Arik hatte sichtliche Probleme und Maeriel begriff, dass er verwundet war. Sein unsteter Blick war auf sie gerichtet und stellte eine Frage, deren Antwort Maeriel nicht kannte.
Wortlos ging sie in die Höhle. Die beiden Männer folgten ihr und saßen kurz darauf mit ihr an dem kleinen, prasselnden Feuer. Maeriel gab vor, in die Flammen zu sehen, doch sie nutzte die Dunkelheit der Höhle, um die Mienen der beiden Männer zu studieren. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht leiden konnte. Was hatte sie dazu gebracht, gemeinsam nach ihr zu suchen?
"Was ist auf dem Schlachtfeld geschehen?", fragte sie schließlich. Legolas schien fast erleichtert über diese Frage, denn er beeilte sich zu antworte:
"Die Rhûnländer unterlagen und zogen sich zurück, ohne das Lager angegriffen zu haben. Mein Vater hat entschieden, die Normänner für die Dauer des Winters zu unterstützen, dann wird er mit König Elessar über Siedlungsraum beraten, den er dem Volk überlassen kann."
"Das ist gut", sagte Maeriel und warme Erleichterung ergriff sie zum ersten Mal seit vielen Tagen. "Es war gut, dass ich nicht dort war."
"Wie seid Ihr entkommen?", wollte Legolas wissen. Maeriel seufzte und wollte eine ausweichende Antwort geben, als sich Arik zum ersten Mal einmischte. Seine Stimme klang rau, Linien des Schmerzes lagen auf seinem Gesicht.
"Eine lange Geschichte, Legolas. Eine Geschichte über eine Frau, die fähig ist, ein Zelt mit der Kraft ihres Willens in einer Sekunde in Brand zu setzen. Aber ich denke nicht, dass wir etwas darüber wissen wollen. Es ist Maeriels Geheimnis, und das sollten wir respektieren.
"Sprecht nicht für mich", sagte Legolas kühl. Die Abneigung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, sagte sie bestimmt:
"Legolas, lasst mich für einen Moment mit Arik allein. Ich möchte mir seine Verletzungen ansehen."
Der Elb zögerte eine Sekunde, doch dann erhob er sich schweigend und ging. Maeriel ahnte, dass er die Hand von diesem Moment an stets an der Waffe haben würde.
Nachdem Legolas verschwundne war, streifte Arik ohne zu Zögern den schweren Fellmantel ab und enthüllte einen großen Blutfleck auf seinem groben Hemd. Maeriel holte sauberes Leinen, eine Schüssel mit Wasser und einige Heilkräuter hervor, während Arik sein Hemd öffnete.
Ohne mit der Wimper zu zucken löste Maeriel den Verband, der Ariks Schulter bedeckte und rang erschrocken nach Atem, als sie das große, heftig blutende Loch in seiner Schulter bemerkte.
"Eine Lanze", erklärt er knapp und verzog kurz das Gesicht, als Maeriel die Verletzung auswusch und eine Kompresse aus Kräutern auflegte. "Es war eine furchtbare Schlacht."
"Ich bin froh, dass Euch nichts geschehen ist." Maeriel wich Ariks verwundertem Blick nicht aus. Es war nicht die Zeit für Lügen oder verschämtes Ausweichen. "Ich habe Euch gern, Arik, auch nach allem, was bisher geschehen ist." Er ergriff ihre Hand, doch sie entzog sich ihm. "Aber ich kann Euch kein Versprechen geben, aus genau jenen Gründen, die Ihr Legolas eben erläutert habt."
"Dein Geheimnis, gwelyth?" Er lächelte gequält. "Ich glaube, ich verstehe Dich. Aber Du sollst auch wissen, dass Du in den Zelten der Normänner stets willkommen sein wirst, wenn Du eines Tages dazu bereit bist."
"Ich danke Dir", sagte Maeriel gerührt und war froh, dass er es ihr nicht allzu schwer machte und von Gefühlen sprach. Unbehaglich erhob sie sich. "Ich werde auch mit Legolas spreche. Entschuldigt mich für einen Moment."
Legolas sah ihr gespannt entgegen und hielt tatsächlich seinen Bogen in der Hand. Ein seltenes Lächeln glitt über sein Gesicht.
"Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, Euch zu sagen, wie froh ich bin, Euch wiederzusehen", sagte er freundlich. "Ihr könnt Euch sicher meine Überraschung vorstellen, als Euer Vetter Galwion mir erklärt, wer Ihr seid. Umso dringender wurde mein Wunsch, Euch so schnell wie möglich zu finden."
"Ihr seid den Zwergen entkommen und habt die Rhûnländer dazu gebracht, den Bund mit den Norländern zu brechen." Es war keine Frage, sondern vielmehr eine Feststellung. Nur er war nahe genug am Gebiet der Rhûnländer gewesen, um dies tun zu können.
Legolas nickte.
"Zu Eurer Befreiung war das nötig. Nun, da es soweit ist - seid Ihr bereit, mich zu begleiten? Ich würde mich geehrt fühlen, Euch als meine Gattin heimführen zu können. Ich habe Euch kennen und schätzen gelernt, Maeriel."
Maeriel schluckte. Sie hasste die Situation, in der sie sich befand. Sie empfand viel für beide Männer, doch auch Legolas konnte sie nur eine einzige Antwort geben.
"Nein", sagte sie und fühlte, wie die Einsamkeit in ihr empor kroch.
***
Es hatte aufgehört zu schneien und der Himmel riss ein wenig auf. Einzelnen Sonnenstrahlen gelang es, sich durch die graue Melasse zu kämpfen.
Maeriel betrachtete, wie Legolas und Arik ihre Pferde bestiegen. Ein letztes Mal hatte sie Ariks Verletzung verbunden und Legolas eine Nachricht für ihre Familie mitgegeben. Nun würden die beiden Männer zu ihren Leuten zurückkehren. Maeriels Wunsch, mit ihnen zu ziehen, war übermächtig, doch sie hatte nicht vergessen, was ihr die Stimme erklärt hatte. Wenn sie große Zuneigung zu einer Person fassen würde, würde sie irgendwann gezwungen sein, ihre Kräfte für diesen Menschen - oder Elben - einzusetzen. Das durfte sie nicht riskieren.
"Ihr könnt Euch noch entscheiden", sagte Legolas und bemühte sich nicht, die Hoffnung aus seiner Stimme zu verbannen. Doch Maeriel schüttelte entschlossen den Kopf.
"Unsere Wege trennen sich hier und ich glaube nicht, dass sie sich noch einmal kreuzen werden", erklärte sie, obwohl der Gedanke sie innerlich fast zerriss.
Arik sah sie nicht an, sondern starrte auf seine Hände. Und er tat es auch nicht, als er seinem Pferd die Sporen gab und an Legolas Seite den Pfad hinunterritt. Maeriel senkte den Blick, um die vertrauten Gestalten nicht verschwinden sehen zu müssen. Je leiser die Geräusche der Pferdehufe auf den bloßen Steinen wurden, desto mehr Gefühle schienen aus ihr herauszufließen wie Wasser aus einem lecken Gefäß.
Eine lange Zeit geschah rein gar nicht. Sie stand im knöchelhohen Schnee und fror, doch sie merkte es nicht. Schließlich handelte ihr Körper wie von selbst. Eilige kehrte sie in die Höhle zurück und packte die notwendigsten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Sorgfältig löschte sie das Feuer, sah sich einen Moment schweigend um und kehrte dann ins Freie zurück.
Das Pferd wartete dort auf sie und schnaubte, forderte sie zum Aufbruch auf. Maeriel schnallte die Bündel am Sattel fest, bewaffnete sich und stieg auf. Der warme Körper des Tieres unter ihr beruhigte sie ein wenig.
'Ich bin sehr stolz auf Dich', meldete sich die Stimme. 'Es tut mir leid, Maeriel.'
"Sei still!", befahl sie bitter. "Ich glaube, dass der Tod besser ist als die Einsamkeit."
'Du bist doch nicht allein. Wir werden uns besser kennen lernen und ich werde wieder gut machen, dass ich die meiste Zeit meines Lebens nicht bei Dir sein konnte.'
"Warum konntest Du nicht bei mir sein? Und wieso denkst Du, das Recht gehabt zu haben?"
Die Stimme lachte.
'Du weißt also immer noch nicht, wer ich bin? Nun, ich denke, ich sollte es Dir sagen." Maeriel spürte, dass die Stimme zögerte. Je öfter sie miteinander sprachen, desto klarer wurde es Maeriel, dass der Fremde in ihr nicht bösartig war. Aber er war oft egoistisch und setzte sich über ihre Entscheidungen hinweg, weil er glaubte, sie habe nicht die nötige Erfahrung, um die Dinge richtig beurteilen zu können. "Maeriel, ich bin Dein Vater."
"Ich wusste es", flüsterte Maeriel. Sie hatte die Wahrheit oft gespürt, während des Fiebers oder auch, als die Stimme sie vor der Vergewaltigung gerettet hatte. Er wollte sie beschützen. Weil sie seine Tochter war. Weil sie ein Teil von ihm und er ein Teil von ihr war.
Maeriel schnalzte mit den Zügeln und das Pferd trabte an. Hoch über ihr, am Himmel, kreiste in großer Höhe ein Vogel. Obwohl sie in nicht erkennen oder seinen Schrei hören konnte, wusste sie, was für ein Tier es wahr. Und zum ersten Mal verspürte sie nicht mehr die drückende Last der Ungewissheit. Ihr war nun bewusst, was sie erwartet, kannte ihre Vergangenheit und Zukunft.
Und sie würde sich ihr Schicksal zum Freund machen. Ganz gleich, wie lang es dauern würde.
Das Ende (?)
Hallo, liebe Leser! Hat Euch die Story gefallen? Vielleicht gibt es eine Fortsetzung. Sagt mir Eure Meinung dazu! Per Review oder auch gerne per Mail: verena_trek@gmx.de
Lieber Gruß
Demetra
