Kapitel 3

In den folgenden Tagen erholte Matthew sich langsam. Obwohl er immer noch geschwächt war, war es nicht einfach ihn im Bett zu halten. Er war es immer gewohnt gewesen zu arbeiten und nie war er vorher ernsthaft krank gewesen. Marilla und Anne waren voll damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass er sich ausruhte. Martin übernahm währenddessen weitgehend die ganze Farmarbeit. Aber Martin war schon immer unzuverlässig gewesen. Manchmal war er plötzlich für Stunden verschwunden, in denen er angeblich auf irgendeinem Feld arbeitete. Aber tatsächlich hatte ihn Anne schon einmal schlafend in der Scheune vorgefunden, wo er es sich hinter einem Berg Heu bequem gemacht hatte. Anne hatte den Verdacht, dass er dies öfters tat. Nachdem Matthew nun ausfiel, ärgerte es Anne nur noch mehr, wenn er nicht seine Arbeit tat. "Ich weiß, Anne", sagte Marilla, als Anne eines Nachmittags davon anfing. "Am liebsten würde ich ihn rauswerfen, aber was sollen wir tun? Im Augenblick sind keine Arbeiter zu bekommen und wir können unmöglich die Arbeit alleine schaffen." Es war ein Elend.

Es war ein wolkenverhangener Julitag, als Anne eine Woche später auf dem Rückweg vom Postamt war. Sie sah zum Himmel hoch, der sich immer mehr verdüsterte und seufzte. Sie sollte sich lieber beeilen, nach Hause zu kommen, denn es lag ein Gewitter in der Luft, als ihr plötzlich Mr. Sadler mit seinem Wagen entgegen kam. Sie wollte ihn gerade freundlich grüßen, als sie seinen wütenden Gesichtsausdruck sah. "Miss Shirley, es ist jetzt schon das dritte mal. Ich mach das nicht mehr länger mit!" Rief er ihr erbost entgegen und zügelte sein Pferd. "Was. Mr. Sadler?" Stammelte Anne verwundert. "Was? Ihre Kuh natürlich. Sie ist jetzt bereits das dritte mal in meinem Kartoffelacker. Dieses Vieh macht noch meine ganze Ernte kaputt. Wenn die Kuh nicht augenblicklich aus meinem Feld verschwindet, werde ich jetzt Schadensersatz verlangen. Sorgen sie dafür, dass es nicht mehr passiert!" Erbost nahm er wieder die Zügel auf und fuhr davon. Anne sah ihm verdutzt nach. Dolly brach in letzter Zeit ständig aus und Anne hatte Martin bereits darauf hingewiesen, dass er den Weidezaun reparieren musste. Allem Anschein nach hatte er es immer noch nicht getan. Auch war er vorhin mal wieder verschwunden gewesen, als Marilla nach ihm gerufen hatte. Es hatte keinen Zweck jetzt erst stundenlang nach Martin zu suchen. Die Kuh musste sofort aus Mr. Sadlers Acker raus. Bevor er noch mehr Theater machte. Sie konnten es sich unmöglich leisten, ihm den Schaden zu ersetzen. Wütend und verärgert machte Anne sich auf den Weg zu Mr. Sadlers Feld. Die Wolken am Himmel wurden immer dunkler und von weitem war schon Donner zu vernehmen.

Als Anne bei Mr. Sadlers Kartoffelacker ankam, sah sie Dolly genüsslich kauend zwischen den Pflanzen stehen. Durch den ausgiebigen Regen am Vortag war das Feld ein einziger Morast. Seufzend ging Anne auf Dolly zu. Doch die kleine braune Jerseykuh hatte nicht vor, ihr köstliches Mahl so schnell aufzugeben. Als Anne fast bei ihr war, rannte sie davon. So schnell sie konnte, rannte Anne ihr hinterher. Doch ihr Kleid hinderte sie daran, sie einzuholen. Schließlich blieb die Kuh stehen und auch Anne hielt schnaufend inne.

"Dolly, du störrische Kuh, komm jetzt sofort da raus." Rief Anne zornig. Ihr Kleid war unten inzwischen klatschnass das nahende Gewitter kam immer näher. Nicht mehr lange und es würde in Strömen gießen. Schließlich schafft Anne es, Dolly am Halfter zu fassen, was aber nicht bedeutete, dass die Kuh sich bewegte. Störrisch stemmte sie ihre Hufe in den dunklen Morast. "Oh, Dolly. Komm jetzt endlich!" Energisch zerrte Anne am Halfter. Aber Dolly muhte nur mürrisch und stand wie zu Stein erstarrt auf dem Acker.

Ein Blitz zuckte durch den dunklen Himmel und gleichzeitig begann es wie aus Eimern zu schütten. In wenigen Minuten war Anne bis auf die Knochen total durchnässt. Sie war der Verzweiflung nah, dieses Mistvieh von Kuh bewegte sich immer noch nicht.

"Dolly, du dumme Kuh, beweg dich jetzt endlich." Anne zog am Stick und versuchte Dolly zum Laufen zu bewegen. "Anne Shirley, was um Himmelswillen tust du bei diesem Wetter hier?" Hörte sie eine Stimme hinter sich.

Hastig drehte Anne sich um. Hinter ihr, im strömenden Regen, stand Gilbert Blythe. Er hatte einen langen dunklen Regenmantel an, der ihn vor dem Regen schützte. Am Wegesrand hatte er sein Pferd angebunden. Ohne auf eine Antwort von Anne zu warten griff Gilbert nach Dollys Halfter und gab ihr gleichzeitig einen kräftigen Klaps auf die Flanken. Dolly muhte erbost und beim zweiten Klaps bewegte sie sich schließlich doch.

"Dort drüben ist eine Scheune, wir sollten uns solange dort unterstellen", rief Gilbert ihr zu und zeigte auf die andere Seite des Weges. Der Donner brach krachend über sie zusammen, so dass Anne Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen, obwohl er nur wenige Meter von ihr entfernt war. Als sie den Weg erreicht hatten, band Gilbert sein Pferd los, während Anne sich bereits mit Dolly im Schlepptau, auf den Weg zur Scheune machte. Jetzt, da die Kuh einmal in Gang gesetzt war, lief sie friedlich hinter Anne her. In der kleinen Scheune war es wunderbar trocken und Dolly fing sofort genüsslich an, an dem Stroh zu kauen, das darin aufgeschichtet war. Annes Haar hing klatschnass herunter, durch den Wind hatten sich ihre Haarnadeln gelöst. Mit klammen Fingern zog sie die losen Klammern aus dem Haar. Dann schlang sie fröstelnd die Arme um sich. Erst jetzt merkte Anne, wie kalt ihr war. Sie war vollkommen durchnässt und bestimmt würde sie sich jetzt furchtbar erkälten. Plötzlich legte ihr Gilbert seine Jacke um die Schultern. "Du holst dir sonst noch eine Lungenentzündung", murmelte er und wand sich nochmals seinem Pferd zu, dem er jetzt ebenfalls einen kleinen Haufen Stroh hinlegte. Das Pferd schnaubte und kurz darauf war nur noch das mahlende Geräusch von Dolly und dem Pferd zu hören, die das trockene Stroh kauten.

Anne beobachtete Gilbert, wie er sein Pferd versorgte. In letzter Zeit wusste sie einfach nicht, wie sie sich gegenüber Gilbert verhalten sollte. Die ganzen Jahre lang, war sie wütend auf ihn gewesen und hatte ihn wie Luft behandelt, wegen dieses albernen Streiches, den er ihr damals gespielt hatte. Nun hatte er ihr geholfen, als Matthew den Herzanfall hatte und Anne bemerkte, dass sie eigentlich schon lange nicht mehr wütend auf ihn war. Sie wand hastig, den Blick ab, als er auf sie zukam. Hoffentlich hatte er nicht gemerkt, dass sie ihn beobachtet hatte.

"Fängst du bei Gewitter immer entlaufene Kühe ein?" fragte er plötzlich grinsend. Für einen kurzen Augenblick war Anne wütend, ganz offensichtlich machte er sich über sie lustig. Doch dann sah sie ihn an und bemerkte, dass er einfach nur versuchte, ein Gespräch zu beginnen. "Nein, ganz bestimmt nicht", lacht Anne. "Aber Mr. Sadler war so wütend, dass Dolly Schaden in seinem Acker anrichtete, dass ich unmöglich warten konnte, bis Martin mal wieder auftaucht." "Martin ist nicht gerade ein zuverlässiger Arbeiter, nicht wahr?" "Tja, was will man machen. Marilla würde gern jemand anderen einstellen, wenn sie jemanden finden würde." Seufzte Anne und strich das nasse Haar aus ihrem Gesicht.

Der Donner grollte laut und Anne zuckte unwillkürlich zusammen. "Komm setzen wir uns, " sagte Gilbert und deutete auf einen Strohballen. "Ich glaube, das Gewitter dauert noch eine Weile." Für einige Minuten saßen sie einfach nebeneinander und schwiegen. Keiner von beiden wusste, was er sagen sollte. "Wie geht es Matthew?" begann Gilbert erneut das Gespräch. "Schon viel besser. Jedoch muss er immer noch aufpassen, sich nicht aufzuregen." "In gerade mal vier Wochen, wirst du nach Kingsport ans Redmond gehen, freust du dich schon darauf?" Fragend sah er sie an. Von Diana hatte Anne bereits gehört, dass Gilbert nicht ans College zurückgehen würde. Er würde im nächsten Jahr als Lehrer arbeiten, um sich das Geld für sein weiteres Studium zu verdienen. "Ich werde nicht aufs College gehen", sagte Anne. Diesen Entschluss hatte sie erst vor wenigen Tagen getroffen. Es war keine Frage des Geldes, denn Anne hatte das Averi Stipendium gewonnen und könnte damit vier Jahre lang studieren. Nein, sie wollte Matthew und Marilla nicht alleine lassen. Sie brauchten sie, jetzt da es um Matthews Gesundheit so schlecht stand. Bisher hatte sie den beiden noch nichts von ihrer Entscheidung gesagt. "Ich habe mich um die Lehrerstelle in Carmody beworben." "Du gehst nicht aufs College. Aber warum denn nicht?" Mit erstaunten Augen sah er Anne an. Nicht im Traum wäre ihm eingefallen, dass Anne nicht aufs College gehen könnte. "Ich kann Matthew und Marilla nicht einfach alleine lassen. Sie haben so viel für mich getan, jetzt muss ich etwas für sie tun. Außerdem gebe ich nicht meine ganzen Pläne damit auf. Ich will ein Fernstudium absolvieren." "He, das habe ich auch vor. Vielleicht können wir uns ja gegenseitig helfen." Lachte Gilbert. Anne lächelte ihn an. Ja, vielleicht könnten sie wirklich zusammen lernen, dachte Anne und merkte, dass sie keinerlei Groll mehr gegen Gilbert hegte. Die alte, alberne Wut, die sie immer mit sich herumgetragen hatte, war plötzlich verflogen.