NACHT 5

Sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war und die Nacht das Schloß in ihre dunkle Umarmung geschlossen hatte verließ Magda ihren Sarg. Sie fand Koukul in der Küche, wo er seine Mahlzeit zu sich nahm. Als sie plötzlich in der Tür stand, verschluckte er sich erschrocken und begann zu husten. Magda klopfte ihm hilfsbereit auf den Rücken. Erstaunt bemerkte sie einen schwachen Geruch nach Sandelholz, der den Buckligen umgab. Prüfend atmete sie noch einmal ein - ja, kein Zweifel. Seine Haut glänzte rosig und seine dünnen Haarsträhnen waren gewaschen. "Seit wann legte der Diener des Grafen einen solchen Wert auf sein Äußeres?" wunderte sich Magda heimlich, verschwendete aber dann keinen weiteren Gedanken daran. Aufgeregt berichtete sie Koukul von ihren Plänen. Dieser erschien ihr ein wenig erstaunt über den Auftrag des Grafen und das geplante Fest, stellte ihre Anweisungen aber nicht in Frage. Gutmütig notierte er sich ihre Wünsche. Als die ehemalige Magd jedoch verlangte, einen Schneider zu engagieren, der sich um die Kostüme kümmern sollte runzelte er ärgerlich die Stirn. "Ich weiß, dass die Anwesenheit eines Sterblichen ein paar Probleme mit sich bringen wird, aber es geht nicht anders." erklärte sie ihm "Wie soll denn sonst alles rechtzeitig fertig werden? Der Graf wird es bestimmt erlauben" Sie konnte Koukul förmlich ansehen, wie er beschloß, diese Anweisung mit seinem Herrn zu besprechen. "Komm!" forderte sie ihn auf "Laß uns nachsehen, was wir brauchen, um den Ballsaal zu dekorieren!" Aufgeregt zog sie ihn hinter sich her. Koukul folgte ihr seufzend.

Alfred, Sarah und Herbert waren ebenfalls bereits aufgestanden. Herbert hatte beschlossen - mit Einverständnis seines Vaters - den beiden Neugeborenen ein Wenig über ihre neuen Kräfte beizubringen. Mit den Beiden im Schlepptau schritt er hinunter in die finsteren Verliese des Schlosses. Hier drang nie Tageslicht hinunter und manche Ecken waren selbst für die empfindlichen Augen eines Vampirs zu dunkel. Herbert stieg die Treppe sicher hinab, jahrelange Vertrautheit mit den unregelmäßigen ausgetretenen Stufen ließ ihn seinen Weg in die Finsternis sicher finden. Alfred und Sarah folgten ihm ein wenig unsicherer. Am Fuße der Treppe hielt er an. "Wartet hier! Ihr zählt jetzt bis 100 und dann versucht, mich zu finden." Sarah und Alfred sahen ihn erstaunt an. "Du meinst," ergriff die Frau als erstes das Wort "Du bist mit uns in den Keller gestiegen, um mit uns *Verstecken* zu spielen? Das glaube ich einfach nicht! Hat man als Kreatur der Finsternis nichts besseres zu tun? Kein Wunder, dass die Ewigkeit euch so eintönig erscheint! Ich für meinen Teil habe jedenfalls besseres zu tun." Mit diesen Worten wollte sie sich umdrehen und die Treppe wieder hinauf steigen. Herbert griff nach ihrem Arm und hielt sie fest. "Das ist kein Scherz! Wie jedes Lebewesen ist es auch für Vampire am leichtesten, spielerisch zu lernen. Aber wenn du glaubst, dass es dir zu kindisch ist... wie wäre es, dass Ganze noch ein bißchen spannender zu machen?" Herausfordernd sah er sie an. "Obwohl, besser nicht, ich glaube ja nicht, dass du überhaupt in der Lage bist, mich aufzuspüren. Es wäre unfair, das auszunutzen." Diesem Köder konnte Sarah natürlich nicht widerstehen. "Und ob, einverstanden! Der, der dich nicht findet, von dem..." "...Darf ich mir was wünschen!" unterbrach Herbert sie. "Falls ihr mich doch findet, habt ihr einen Wunsch frei!" "Einverstanden!" Sarah reichte Herbert ihre Hand. Alfred war nicht überzeugt, dass die Wette ein so guter Einfall gewesen war, aber er wollte jetzt nicht feige aussehen, also schlug er ebenfalls ein. Herbert lächelte zufrieden. Dann drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit "Zählt laut bis 100..." hallte seine Stimme aus der Finsternis an Sarahs und Alfreds Ohren. "Eins ... Zwei ... Drei... " begann Alfred gehorsam zu zählen während Sarah angestrengt lauschte, um die sich entfernenden Schritte zu hören.

Graf von Krolock beobachtete zufrieden von der großen Wendeltreppe aus, wie eine enthusiastische Magda Koukul durch das Schloß zog. Der Diener wirkte ein wenig nervös, aber der Vampir war sich sicher, dass er die Zeit in der Gesellschaft der blonden Frau genoß. Ein wenig besorgt lauschte er den Plänen Magdas für das bevorstehende Fest. Der Graf hatte nicht damit gerechnet, schon so bald wieder einen großen Ball zu veranstalten, aber scheinbar würde sich das nicht umgehen lassen. Die Idee gefiel ihm. Ein Kostümfest! Ein wenig ließ er sich von Magdas Begeisterung anstecken, als er die Treppe in den Ballsaal hinunter schritt, wo er die beiden antraf. Magda machte einen höflichen Knicks, während sich auf Koukuls entstellten Gesichtszügen ein Lächeln zeigte. "Ein Mensch ... hier? Im Schloß?" Skepsis war deutlich in der Stimme des Grafen zu hören. Aber warum eigentlich nicht? Wenn er schon einen Kostümball veranstaltete, dann sollte alles perfekt werden. Und der Schneider würde eine willkommene Bereicherung des Abends darstellen... in mehr als nur einer Weise. "Einverstanden!" gab er nach. Magda strahlte ihn dankbar an. "Ihr werdet es nicht bereuen!" versprach sie ihm aufgeregt und Koukul nickte so stark mit seinem Kopf, dass seine Haarsträhnen wild um seinen Kopf flogen.

"Ich hab' Dich!" Triumphierend zog Sarah Herbert an einem Ärmel aus der Nische, in der er sich verborgen hatte. Alfred trottete etwas säuerlich um die Ecke. Sarah hatte ihm vorgeschlagen, sich zu trennen und Herberts Versteck einzukreisen. Doch der Nachwuchswissenschaftler fühlte sich jetzt betrogen. Warum sollte er denn die Wette verlieren, nur weil er Sarahs Vorschlag gefolgt war? Zugegeben, er hatte Herberts Nähe nicht einmal gespürt... aber er war sich sicher, dass auch Sarah ihn nur gefunden hatte, weil sie praktisch über ihn gestolpert war. Herbert ließ sich gutmütig von der Vampirin auf Alfred zu ziehen. Die junge Frau freute sich wie ein kleines Kind über ihren Erfolg. Längst hatte sie vergessen, dass sie Einwände gegen das Spiel gehabt hatte. "Mmmh!" Sie sah Herbert und Alfred nachdenklich an... "Was soll ich mir nur wünschen?" "Stimmt!" Herbert richtete ebenfalls einen nachdenklichen Blick auf Alfred.

"Das ist nicht fair!" protestierte dieser - jedoch vergebens. "Sei kein Spielverderber." Sarah lächelte ihn zuckersüß an. "Außerdem weißt Du ja noch gar nicht, was ich mir wünsche..." Alfred verdrehte die Augen. Das konnte ja heiter werden. Das Lächeln Sarahs verhieß nichts Gutes. "Ich wünsche mir" erklärte sie laut " Dass Herbert Magda so provoziert, dass sie ihn einen "Idioten" oder Schlimmeres nennt , und *das* natürlich mit Zeugen!"

Herbert musste erst einmal schlucken. Das hatte er nicht erwartet. Sich vor allen Leuten ein paar Beleidigungen einzuhandeln, das kratzte schon sehr an seinem Stolz. Nun gut, das Spiel konnten auch zwei spielen. Böse funkelte er Sarah an, als er seinen Wunsch aussprach: "Ich wünsche mir, dass Alfred - natürlich vor Zeugen - mit meinem Vater flirtet oder ihm ein ... sagen wir mal anzügliches... Kompliment macht."

Alfred stöhnte auf. Na prima, nur weil die beiden sich gegenseitig mit Peinlichkeiten übertreffen mussten saß er jetzt in der Tinte. Von Herbert hatte er das nie erwartet, aber scheinbar genossen die beiden es wirklich, ihn sich vor Verlegenheit winden zu sehen. "Was habe ich denn verbrochen, dass Du mir so etwas antun willst?" beschwerte er sich bei Herbert. "Gar Nichts, Süßer. Es wird schon nicht weh tun... und außerdem finde ich es soooooo niedlich, wenn Du rote Ohren kriegst. Keine Angst, Vater beißt nicht, das heißt eigentlich schon, aber in der Regel läßt er seine Finger von meinen Freunden. Außer ein paar neugierigen Blicken wird Dir schon nichts passieren... glaub' mir, ich habe viel mehr Pech gehabt. Ich würde liebend gerne mit dir tauschen..." "Klar! Das glaube ich dir gerne." maulte Alfred "Du verteilst ja auch den ganzen Tag anzügliche Komplimente, da würde sich keiner wundern..."

Sarah beobachtete ein wenig unsicher die Auseinandersetzung der beiden. Sie hoffte, das ihr Verhältnis nicht durch diese blödsinnige Wette vergiftet werden würde. "Ich habe einen Vorschlag!" unterbrach sie das Gespräch der beiden. "Damit Alfred nicht zu kurz kommt, darf er sich auch was von mir wünschen. Immerhin haben wir ja eigentlich als Team gesucht, also hat er ja irgendwie auch ein bißchen gewonnen, einverstanden?" Herbert schien sehr erleichtert über ihren Vorschlag zu sein und stimmte ihr sofort zu. Alfred bekam auf einmal einen ganz merkwürdigen Glanz in die Augen, als er Sarah verschlagen musterte. "Ich hatte nie gedacht, dass dieser liebe Kerl so gemein aussehen kann." dachte sie sich. Mit einem mulmigen Gefühl erwartete sie Alfreds Wunsch. Als dieser ihn endlich aussprach war sie erleichtert und dankbar. "Ich wünsche mir..." verkündete der Nachwuchswissenschaftler "...Dass Sarah Koukul das Tanzen beibringt und bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit *öffentlich* mit ihm tanzt!" Herbert nickte zufrieden. Die drei reichten sich die Hände. Dann verließen sie den Keller, jeder in Gedanken damit beschäftigt, einen Weg zu finden, seine Wette einzulösen.

Koukul und Magda saßen gemeinsam auf dem Bock des Schlitten des Grafen. Der Bucklige lenkte das Gespann sicher durch die Nacht. Magda war aufgeregt. Sie war in ihrem Leben bisher erst einmal in der nahegelegenen Stadt gewesen. Und dieses Mal hatte sie die Möglichkeit mit den Mitteln des Grafen einzukaufen. Die Adresse eines hervorragenden Schneiders hatte der Graf ihr aufgeschrieben. Die beiden planten, den Mann sofort einzuladen und auf dem Rückweg mit zum Schloß zu bringen. Das Leben war herrlich! Magda begann ein altes Lied, dass sie von ihrer Mutter gelernt hatte zu singen. Zu ihrem Erstaunen fiel Koukul brummend ein und bald konnte man den Gesang der beiden und das Läuten der Schlittenglocken über die weite schneebedeckte Landschaft hören.

So ein Pech! Alfred ärgerte sich. *Natürlich* waren Koukul und Magda nicht im Schloß, also waren den anderen Beiden die Hände gebunden. Das hieß leider, dass sie sich neugierig an seine Fersen hefteten. Der junge Mann ärgerte sich. Er konnte natürlich nicht zugeben, dass er immer noch Angst vor dem einschüchternden Vampirgrafen hatte und er außerdem nicht sicher war, was ein - in Herberts uns Sarahs Augen - angemessen anzügliches Kompliment war und was nicht. Mürrisch stapfte er durch die große Eingangshalle und öffnete die Vordertür. Dann trat er hinaus und nahm einen tiefen Zug der kalten Winterluft. Dann wandte er seine Schritte in Richtung des Friedhofs.

Graf von Krolock saß in seinem alten Lieblingssessel vor einem knisternden Kaminfeuer. Obwohl die Kälte des Winters ihm nicht schaden konnte, liebte er die Wärme des Feuers. Nachdenklich starrte er in die tanzenden Flammen. Welches Kostüm sollte er für den Maskenball wählen? Vielleicht eine literarische Vorlage... er dachte an Poe. "Die Maske des Roten Todes" war schon immer eines seiner Lieblingswerke gewesen. Oder vielleicht etwas traditionell Venezianisches? Gedankenverloren wanderte sein Blick durch den Raum.

Alfred saß auf dem schneebedeckten Deckel eines steinernen Sarkophages. Der Schnee und die Kälte schienen ihm nicht bewußt zu sein. Mit einem verärgerten Gesichtsausdruck grübelte er über die Wette nach. Herbert und Sarah hatten es sich auf einem benachbarten Sarg bequem gemacht und bemühten sich, den jungen Mann aus seiner verdrießlichen Stimmung zu reißen. Doch keiner ihrer neckenden Kommentare entlockte ihm ein Lächeln. Schließlich wurde es Sarah zu bunt. Sie formte aus dem feuchten Schnee einen Ball und warf ihn nach Alfred. Volltreffer! Das kalte Geschoß traf ihn Mitten auf die Brust und hinterließ einen kreisrunden weißen Fleck. Alfred, dessen Laune sich durch diesen Zwischenfall nicht gerade verbesserte, war der Meinung, dass Sarah so langsam eine Lektion verdient hatte. Er griff sich eine Handvoll Schnee, presste ihn zusammen und warf ihn mit Schwung nach ihr. Kreischend duckte sie sich hinter Herbert, der Alfreds Schneeball dadurch abbekam. Schadenfroh sah die Vampirin über Herberts Schulter und streckte Alfred ihre Zunge frech heraus. Doch Herbert war nicht gerade begeistert, als Schutzschild herhalten zu müssen. Ohne Vorwarnung schnappte er sich Sarah und hatte ihr blitzschnell eine Ladung der weißen Pracht ins Gesicht geschleudert, ohne sich die Mühe zu machen einen Ball zu formen. Sarah schrie erschrocken auf, als die kalte Masse in ihrem Ausschnitt landete. "Na warte!" brachte sie atemlos hervor. Sie warf sich auf Herbert und versuchte ihn mit ihrem Gewicht zu Boden zu halten, während sie den Kragen seines Hemdes mit Schnee füllte. Dadurch bemerkte sie Alfred nicht, der sich mit einem Arm voll Schnee hinter sie schlich. Er lächelte schadenfroh, als er seine Last über den Kopf der Frau warf. "Danke, Süßer!" Herbert befreite sich von der Tochter des Wirtes, die versuchte, die Flocken aus ihrem Haar zu schütteln. "Aber wir sind noch nicht ganz quitt!" Mit diesen Worten warf er sich auf Alfred und gemeinsam rollten die beiden durch den Schnee. Wenige Minuten später saßen die drei Vampire erschöpft im Schnee. Alle drei hatten Schnee in Haaren und Kleidung. Die Kälte begann unangenehm zu werden und sie merkten, wie ihre Finger steif wurden.

ANMERKUNG: Wie ist das eigentlich, hat der Körper eines Vampirs die Temperatur seiner Umgebung? Ich gehe jedenfalls mal davon aus... dann kann der Schnee auf ihrer Haut ja nicht schmelzen. Kälter als die Umgebung kann er (der Vampir) rein physikalisch gesehen aber auch nicht sein. Winter muß eine ausgesprochen unangenehme Jahreszeit sein...

"Los, nach drinnen!" Herbert erhob sich und half den anderen auf, indem er ihnen eine Hand reichte. Dann klopften sie sich gegenseitig den Schnee aus der Kleidung. "Hey, nicht so fest!" protestierte Alfred, als Herbert ihm einen lauten Klaps auf sein Hinterteil (oder besser: seinen süßen Popo *g*) gab. Doch der adlige Vampir schenke seinem Protest keine Beachtung. Lächelnd verteilte er noch einen weiteren Klaps. "Tut mir leid!" flüsterte er Alfred ins Ohr, wobei man an seinem Gesicht erkennen konnte, dass ihn das nicht im geringsten leid tat "Aber ich konnte nicht widerstehen..." Sarah musste kichern. Hilfsbereit klopfte sie Herbert den Schnee aus der Kleidung und achtete darauf, das auch dessen Po einen festen Klaps abbekam. Sollte er doch von seiner eigenen Medizin kosten! Er warf ihr über die Schulter einen erstaunten aber nicht verärgerten Blick zu. Sarah warf ihm lachend einen Kuß zu und verschwand dann im Schloß, Alfred und Herbert dicht hinter ihr.

Lärmend stapften die drei über die Flure. Der Graf konnte ihr Nahen schon von weitem hören. Seit Sarah und Alfred in sein Schloß eingezogen waren hallten die Räume des Anwesens vor Leben wieder. Es war schön, wieder Fröhlichkeit und Ausgelassenheit zu spüren, zu lange hatte er in einer emotionalen Leere existiert. Ausgelassen betraten seine Kinder das Kaminzimmer. Herbert grüßte ihn mit einem Nicken, während er Alfred an einer Hand zu dem wärmenden Feuer zog. Die beiden ließen sich gemeinsam auf dem dicken Teppich nieder. Die Hitze des Feuers schmolz die Reste des Schnees und bald glitzerten Wassertropfen in ihrem Haar und auf ihrer Haut. Sarah ließ sich zu seinen Füßen nieder und legte ihren Kopf auf sein Knie. Der Graf strich ihr liebevoll durch das feuchte Haar.

Kurz vor Anbruch der Dämmerung kehrten auch Koukul und Magda wieder in das Schloß zurück, ein verängstigter Mensch in ihrer Begleitung. Koukul wies dem Mann ein Zimmer zu, brachte ihm eine Waschschüssel, schloß - vorsichtshalber - die Tür ab und zog sich dann zurück. Magda sah ihm ein wenig nachdenklich nach. Trotz ihrer Bedenken hatte sich der verkrüppelte Mann als große Hilfe erwiesen. Sie hatte heraus gefunden, dass er trotz der gegenteiligen Behauptung des Grafen ein ausgezeichnetes Gespür für Stil und Eleganz hatte, auch wenn seine Erscheinung nicht darauf schließen ließ. Mittlerweile hatte sie auch schon ein wenig Übung und es bereitete ihr kaum noch Schwierigkeiten, die Bedeutung seiner gestammelten Worte zu verstehen. Eilig folgte sie ihm nach draußen, um den Schlitten abzuladen.

Im Kaminzimmer hatte sich eine behagliche Stille breitgemacht. Die Vampire genossen Wärme und Zusammensein. Aus halb geschlossenen Augen sah Alfred zu dem Grafen und Sarah. Ein strahlendes Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht, als sie ihn bewundernd ansah. Alfred seufzte. "Was sieht sie in dem Grafen?" fragte er sich. Neugierig musterte er die dunkle Gestalt des alten Vampirs, der in dem Lehnsessel saß und mit seiner Hand zärtlich über Sarahs Gesicht streichelte. Auf seinen entspannten Gesichtszügen zeigte sich ebenfalls ein leichtes Lächeln. Alfred kam nicht umhin, die Ausstrahlung von Macht und Kontrolle zu bemerken, die den alten Vampir umgab. In seinen Augen zeigte sich das Wissen von Jahrhunderten. Alfreds Augen blieben an dem Ring haften, der im Schein des Feuers glänzte. Das Siegel der Familie, ein Rabe war darauf zu erkennen. Als die langfingerige Hand des Grafen in Sarahs Haar griff, fielen rote Strähnen über das Objekt seiner Betrachtung. Alfred folgte jeder Bewegung der Hand fasziniert, er konnte seinen Blick nicht abwenden. Die langen Nägel waren gepflegt, aber im Schein des Feuers glänzten sie bedrohlich. Der junge Mann staunte über Sarahs Vertrauen, als sie die Augen schloß. Alfred zwinkerte erstaunt, als sich plötzlich das Gesicht des Grafen in sein Blickfeld schob. Seine Konzentration auf das Spiel des Lichts auf dem goldenen Rind und die Bewegung der Muskeln unter der bleichen Haut war so vollkommen gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass der Vampir sich zu Sarah gebeugt hatte. Lange Strähnen aschgrauen Haares vermischten sich mit den flammenden Locken Sarahs, als sich die beiden küßten. Alfred starrte immer noch wie gebannt auf das sinnliche Schauspiel. Auf einmal verstand er die Faszination, die von dem Grafen ausging nur zu gut... Er konnte ein leises Seufzen nicht unterdrücken, als er darüber nachdachte, wie es wohl sein mochte, sich der Führung des mächtigen Vampirs auszuliefern, und dieses Geräusch ließ die beiden zu ihm sehen. Er konnte sich nicht abwenden. Gebannt erwiderte er den Blick des Grafen. Dieser lächelte ihn ein wenig amüsiert an. "Nun, junger Mann, gefällt dir, was du siehst?" Alfred fuhr zusammen als habe der Vampir ihn geschlagen. Auf einmal wurde er sich wieder des Zimmers, das ihn umgab und vor allem auch der Gegenwart Herberts bewußt. Schuldbewußt senkte er den Blick. So sah er nicht, wie der Graf einen Blick mit Herbert über seinen Kopf hinweg austauschte.

Sarah, die den Blickwechsel zwischen den beiden bemerkte, versuchte die Situation zu entschärfen. "Sieht so aus, als hat Alfred seine Wettschuld beglichen." bemerkte sie an Herbert gewandt. Sie griff nach der Hand von Krolocks.

Herbert war froh ihr zustimmen zu können: "Richtig Süßer, gut gemacht!" Er griff ebenfalls nach der Hand seines Geliebten und strich mit dem Daumen über den Handrücken. Hoffentlich glaubte sein Vater wirklich, das Alfred auf Grund einer Wette so schamlos mit ihm geflirtet hatte. Herbert konnte und wollte ihn nicht an seinen Vater verlieren! Alfred war so verwirrt, dass er nichts dazu sagen konnte. Er folgte Herbert willenlos aus dem Raum, sein Blick hing immer noch an der Gestalt von Krolocks. Der Sohn des Grafen fuhr ihm mit der Hand durch das noch feuchte Haar und zog Alfreds Kopf an seine Schulter. Das führte er ihn mit sich in die Dunkelheit der Gruft.

Der Graf sah den beiden nachdenklich nach. Eine Wette? Er konnte sich nicht vorstellen, dass der naive junge Mann zu einer solchen Verstellung fähig war... er hatte dessen Sehnsucht in seinem Blick zu spüren geglaubt. Aber er verstand das Motiv seines Sohnes gut. Mit gemischten Gefühlen erinnerte er sich daran, das Herbert schon mehr als einmal einen Liebhaber an seinen Vater verloren hatte. "Dieses Mal nicht!" versprach er seinem Sohn still. Er legte Sarah einen Arm um die Hüfte und gemeinsam suchten sie in dem geräumigen Sarg Schutz vor den Strahlen der aufgehenden Sonne.