NACHT 6
Herbert erwachte bei Sonnenuntergang in seinem Sarg. Alfred lag noch immer leb- und regungslos neben ihm. Herbert gestattete sich, die Gesichtszüge seines Gefährten in der Dunkelheit zu ertasten. Alfred war sein wahr gewordener Wunschtraum. Er glaubte nicht, es verkraften zu können, ihn zu verlieren. Wenn er in die Dunkelheit lauschte und konnte hören, wie Stoff über Stoff strich, als Graf von Krolock sich in seinem Sarg aufsetzte. Herbert schloß seine Augen und blieb völlig reglos liegen. Er wollte seinen Vater jetzt nicht sehen oder mit ihm sprechen. Der gestrige Abend hatte ihn erschreckt. Wie hatte er so dumm sein können und die Anziehungskraft seines Vaters unterschätzen? Wieso nur hatte er sich auf diese blödsinnige Wette eingelassen? Er schwor sich, um Alfred zu kämpfen, wenn es nötig sein sollte. Neben ihm begann der Wissenschaftler sich zu regen. Müde gähnte er und tastete mit der Hand nach dem geschlossenen Deckel des gepolsterten Sarges. Herbert legte ihm einen Finger auf den Mund und bedeutete ihm leise zu sein. In der Finsternis konnten die beiden hören, wie von Krolock aus seinem Sarg stieg und dann Sarah half, ihn zu verlassen (den Sarg natürlich *g*). Kaum waren Sarah und der Graf aus der Gruft verschwunden öffnete Herbert den Deckel seines eigenen Sarges. Alfred kletterte als erster hinaus. Er streckte sich und gähnte noch einmal ausgiebig. Der Sohn des Grafen sah Alfred lange an. "Was ist?" fragte dieser ihn verwundert. Herbert winkte ab "Schon gut, nicht so wichtig. Komm, laß uns etwas zu Essen besorgen. Wie wär's mit einem romantischen Abendessen... nur wir beide... Kerzenschein...?" Alfred musste schlucken. Er hatte sich noch nicht ganz an die vampirischen Vorstellungen von einer Mahlzeit gewöhnt. "Nur wir beide... und unsere Mahlzeit. Brrr! Das finde ich nicht besonders romantisch." Er schüttelte sich, obwohl der Gedanke an einen großen Schluck warmes Blut sehr verlockend war. "Der Appetit kommt beim Essen. Komm schon!" Herbert griff ohne weitere Umstände nach Alfreds Ärmel und zog ihn die Treppe hinauf, in die oberen Stockwerke des Schlosses.
Chagall durchstreifte das Schloß auf der Suche nach Magda. Als er aufgestanden war hatte die blonde Frau bereits ihren Sarg verlassen und war verschwunden. Seit ihrem Streit ging sie ihm aus dem Weg. Der Vampir ärgerte sich. Er fühlte sich einsam und vernachlässigt und beschloß ein ernstes Wort mit seiner ehemaligen Angestellten zu reden. Auf der Suche nach Magda fand er auf einmal eine verschlossene Tür. Vorsichtig klopfte er an. "Hallo?" Hinter der dicken Holztür konnte er hastige Schritte hören. "Hallo!" ertönte die Antwort aus dem Zimmer. "Bitte, wenn sie so freundlich wären... ich müßte einmal das gewisse Örtchen aufsuchen und leider ist die Tür versperrt." (Der Kerl kommt sich wahrscheinlich sehr schlau vor, mit diesem Trick... ) Der Wirt überlegte. Hinter der Tür befand sich allem Anschein nach ein Mensch. Er leckte sich unwillkürlich die Lippen. Es war schon lange her, dass er einen anständigen Schluck Blut gekostet hatte. "Einen Moment!" antwortete er und machte sich an dem Schloß zu schaffen. Nach wenigen Sekunden hatte er die Tür geöffnet. "So, mein Herr, zu Diensten. Wenn sie mir folgen wollen, ich zeige Ihnen, wo sie den Abort finden." Er wandte sich ab und ging den Gang hinunter. Befriedigt stellte er fest, das der Mensch ihm dicht auf den Fersen folgte. Dann wandte er sich nach links und führte den Mann, der sich immer wieder nervös umsah in einen unbeleuchteten Korridor. Vor einer Tür hielt er an. "Bitte sehr, der Herr. Nach Ihnen." Chagall buckelte und wies auf die Tür. Eingeschüchtert bedankte sich der Mann, trat an dem Vampir vorbei und öffnete die Tür. Als er in den Raum trat folgte ihm Chagall und schloß die Tür hinter sich. Ohne seine Fänge zu verbergen lächelte er ihn an. "Das... das ist aber nicht..." brachte der Mensch furchtsam hervor. In der Tat. Chagall sah sich um. Der Raum war mit dicken Teppichen ausgelegt. Einige alte Polstersessel standen darin, kleine Beistelltischchen befanden sich daneben. Die Wände waren mit Holz getäfelt und über dem Kamin, in dem sich noch ein wenig kalte Asche befand, hing ein großes Ölgemälde. (à la englischer Club um die Jahrhundertwende, auf dem Bild ist vermutlich eine Fuchsjagd abgebildet( ). In der gegenüberliegenden Wand befand sich eine große Schiebetür aus dunklem Holz, die halb geöffnet war. Der Wirt konnte leise Stimmen aus dem benachbarten Raum hören. Verflucht. Er würde seine Beute teilen müssen... es sei denn... Auf Zehenspitzen schlich der Vampir auf die Schiebetür zu, immer darauf bedacht, den zitternden Mann im Auge zu behalten. Mit einer behandschuhten Hand griff er nach dem Knauf und zog die Tür zu. Auf einmal spürte er einen Widerstand. Erstaunt sah er auf und blickte in die Augen des Grafen. Der ältere Vampir hielt die Tür mühelos mit einer Hand offen. "Exzellenz!" Chagall ließ den Knauf los und verbeugte sich überschwenglich. "Guten Abend."
Von Krolock musterte ihn kalt. Er schnappte sich den dicklichen Vampir und schleifte ihn aus dem Raum. Mit einem Knall verschloß sich die Tür hinter dem Wirt. Dann wand sich der Vampir um und begrüßte den Menschen mit einem höflichen Lächeln. "Entschuldigt, Meister Joachim. Es wird nicht wieder vorkommen. Kommt, leistet mir und meiner Gefährtin ein wenig Gesellschaft im Salon und ich werde euch den Grund eures Aufenthalts erklären." Er legte dem Schneider schwer eine Hand auf die Schulter und führte ihn durch die Schiebetür in den benachbarten Raum, in dem Sarah wartete.
Magda und Koukul bogen ahnungslos um eine Ecke, als ihnen der vor Wut schäumende Chagall gegenüber stand. Seine Geliebte mit dem verkrüppelten Menschen zu sehen verbesserte die Laune des Wirtes nicht unbedingt. "Hier treibst du dich also herum. Meine Güte, Du mußt es in letzter Zeit aber nötig haben, wenn du dich sogar mit diesem Abschaum abgibst. Komm' vertragen wir uns wieder und ich zeig' dir, was ein echter Mann ist." Chagall griff verführerisch lächelnd, wie er selbst jedenfalls glaubte, nach Magdas Hand. Koukul senkte den Kopf und versuchte das Feld zu räumen. Ärger zeigte sich in seinem entstellten Gesicht, aber er wußte, dass er nie eine Chance hatte, als Mann gesehen zu werden. Magda hatte jedoch andere Pläne. Selbstbewußt reckte sie das Kinn und entzog Chagall ihre Hand, während sie Koukul zurückhielt. "Koukul ist mehr Mann als du!" schleuderte sie ihm entgegen. "Und wenn ich die Wahl habe, ziehe ich ihn dir 100 mal vor!" "Ay!" Verletzt verzog Chagall das Gesicht. "Komm' Nachtigall, sei nicht so." Versuchte er es noch einmal schmeichelnd und griff erneut nach ihrer Hand. Koukul machte einen drohenden Schritt auf ihn zu und gab einschüchternde Laute von sich. Ohne Chagall eines Blickes zu würdigen stolzierte Magda davon, den immer nach wütenden Koukul im Schlepptau. Hinter der nächsten Ecke drückte sie den verblüfften Mann herzlich. "Danke! Das hat so gut getan. Er braucht sich nicht einbilden, dass ich zu ihm zurück gekrochen kommen... nein, niemals. Du bist ein guter Freund."
Koukul befreite sich verlegen aus Magdas Umarmung. Er bedeutete ihr, dass es an der Zeit war, in der Küche eine Mahlzeit für den Gast zuzubereiten und wollte schnell um die nächste Ecke verschwinden. Doch Magda ließ sich nicht abschütteln. Sie folgte ihm dicht auf den Fersen. "Ich helfe Dir! Dann geht es schneller und wir können uns um die Dekoration kümmern, einverstanden?" Was sollte Koukul darauf erwidern? Ein "Nein" wäre sehr unhöflich gewesen und eigentlich wollte er ja auch, das Magda blieb... er fürchtete nur, dass sie bald herausfinden würde, was er wirklich für sie empfand und sich dann angewidert von ihm abwenden würde. Seine Antwort war ein vages Brummen, dass Magda offensichtlich als Einverständnis interpretierte.
Alfred und Herbert konnten Stimmen aus einem der Zimmer hören. Der Graf sprach mit einem Unbekannten und neugierig beschloß sein Sohn, herauszufinden, wer der Neuankömmling war. Die beiden traten in das Zimmer. Dort sahen sie Graf von Krolock in ein Gespräch mit einem Sterblichen vertieft. Sarah saß auf der Lehne eines Sessels und lauschte aufmerksam. Als die Anwesenheit der beiden jungen Männer bemerkt wurde verstummte das Gespräch. "Du kommst gerade richtig, Sohn!" begrüßte der adlige Vampir Herbert. "Das ist Meister Joachim." Eine weitere Erklärung fügte er nicht hinzu. "Laß' ihn nur schnell Maß nehmen, dann werden wir euch beide nicht länger von euren Plänen abhalten." Die Launen seines Vaters überraschten ihn nach Jahrhunderten nicht mehr. Geduldig ließ Herbert die Prozedur über sich ergehen, staunte jedoch, als der Schneider auch Alfreds Maße nahm. Alfred starrte gebannt auf die pochende Halsschlagader des Mannes, als dieser sich zu ihm beugte. Bevor ein Unglück geschehen konnte, legte Herbert ihm sanft eine Hand auf die Schulter. "Du willst dir doch nicht vor dem Essen den Magen verderben, Süßer? Hab' noch ein bißchen Geduld." Und an seinen Vater gewandt fügte er hinzu "Wenn wir fertig sind, würdest du uns bitte entschuldigen?" Mit einer galanten Verbeugung in Sarahs Richtung verließ er den Raum. "Alfred?" Suchend sah Herbert sich um. Der Wissenschaftler war ihm nicht gefolgt. Herbert drehte sich auf dem Absatz herum und kehrte zurück. Im Salon war der Graf krampfhaft damit beschäftigt, den Schneider abzulenken indem er ihn in ein Gespräch verwickelte, während Sarah den jungen Vampir davon abhielt, ihn anzufallen, indem sie sich zwischen die beiden stellte und heftig mit Alfred flirtete. Dieser ignorierte sie jedoch. Normalerweise hätte das Herbert gefreut, aber in diesem Fall verlor er die Geduld. "Komm mit!" Er griff nach Alfreds Hand und zog ihn eilig aus dem Zimmer. Außer Sichtweite des Menschen bekam Alfred sich langsam wieder unter Kontrolle. Herbert ließ ihn nicht aus den Augen, als er ihn behutsam durch die Flure führte. "Daran müssen wir wohl noch ein wenig arbeiten, meinst du nicht auch, Alfred?" fragte er ihn sanft. "Es tut mir ja leid. Aber ich konnte einfach nicht anders." Alfred sah ihn geknickt an. "Das wird schon noch!" tröstete Herbert ihn. "Das haben wir alle durchmachen müssen... und manchmal können sich selbst erfahrenere Vampir nicht beherrschen." Er strich Alfred beruhigend über den Rücken. "Komm, wir sehen mal, dass du einen Schluck zu trinken bekommst, das wird dir helfen!" Eifrig schob Herbert Alfred vor sich her.
Genau diesen Augenblick hatten sich Koukul und Magda ausgesucht, um sich auf den Weg in den Ballsaal zu machen, wo sie eine Versammlung der Schloßbewohner einberufen hatten, um diese zum Helfen einzuteilen. Magda erklärte Koukul gerade, dass "... davon noch in Fünfzig Jahren gesprochen wird..." Herbert spitzte neugierig die Ohren. Scheinbar war etwas im Gang, von dem er (noch) nichts wußte. Doch leider bemerkten die beiden ihn. Magda machte einen Knicks und hoffte, das der Sohn des Grafen nicht zu viel gehört hatte. Herbert musterte sie durchdringend. Die ehemalige Magd erwiderte seinen Blick. "Und wovon wird man noch in Fünfzig Jahren sprechen?" fragte der Vampir interessiert. "So ein Mist!" Magdas Gedanken überschlugen sich. Sie durfte die Überraschung auf keinen Fall verraten. Koukul stand nur neben ihr und tat so, als könne er nicht bis drei zählen. Für einen Augenblick beneidete sie ihn unwahrscheinlich. Leider mußte sie sich jetzt schnell eine zufriedenstellende Antwort einfallen lassen. "Äh..." stotterte sie. Herbert wurde sichtlich ungeduldig. "Der Graf hat mir ein neues Kleid versprochen." improvisierte sie. "Der letzte Schrei, damit werde ich einige Köpfe verdrehen. Sogar ein Schneider ist schon im Schloß."
Herbert konnte nicht fassen, dass eine Frau so naiv sein konnte. Er verdrehte die Augen und zog Alfred weiter. "Diese eitle Schnepfe braucht sich nichts darauf einzubilden. Vater verschenkt Kleider wie andere Leute Blumen oder Konfekt. Und dass Meister Joachim ihretwegen im Schloß ist, das wage ich auch zu Bezweifeln..." erklärte er Alfred. Leider hatte er ein wenig zu laut gesprochen.
Magda wurde vor Wut ganz blaß. Das hatte man jetzt also davon, wenn man sich Mühe gab, ein besonderes Fest für einen solchen verwöhnten Bengel auszurichten. Vor Wut kochend stolzierte sie auf Herbert zu und holte aus. In seinen Augen zeigte sich mehr Erstaunen als Schmerz, als ihre Hand mit einem klatschenden Geräusch mit seiner Wange kollidierte. "Nenn' mich NIE wieder eine Schnepfe!" Ihr Tonfall war drohend. Sie stolzierte davon, Koukul dicht auf ihren Fersen. Der bucklige Diener warf Herbert einen verletzten und enttäuschten Blick zu.
"Was war denn das? Sie... sie hat mich geschlagen!" Herbert konnte immer noch nicht glauben, was gerade geschehen war. "Wie kann sie es wagen..." wütend begann er in die Richtung zu gehen, in die Magda und Koukul verschwunden waren. Alfred hielt ihn zurück. "Komm, laß sie." bat er. "Sie hat sich so gefreut... und du hast sie beleidigt. Kein Wunder, dass sie so wütend war. Ich glaube nicht, dass ihr schon jemals in ihrem Leben jemand ein so großzügiges Geschenk gemacht hat. Und außerdem, fügte er hinzu, hast Du damit deine Wettschulden beglichen. Ich würde mal sagen, dass eine Ohrfeige deutlich über einer Beleidigung rangiert." Nachdenklich streckte er sich auf die Zehenspitzen und gab Herbert einen sanften Kuß auf die gerötete Wange. "Siehst Du, es wird schon besser." beschloß er dann. Das brachte dann auch Herbert zum Grinsen. "Na, von dieser Medizin kann ich nie genug bekommen!" Er lächelte Alfred an.
Unterdessen hatten Sarah und Graf von Krolock den Schneider mit dem Versprechen, dass es ihm an nichts fehlen sollte seiner Arbeit überlassen. Die junge Frau hing aufgeregt am Arm des Vampirs, der ihre Vorfreude lächelnd ertrug. "Hab' Geduld, in drei Tagen wird es soweit sein!" versprach er ihr. Ein strahlendes, kindliches Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. "Ich bin ja so aufgeregt!" gestand sie ihm. "Ich habe noch nie an einem Kostümfest teilgenommen." Von Krolock gratulierte sich zu seinem Einfall, Magda die Vorbereitungen zu überlassen. Er musste zugeben, dass die Magd ein Talent dafür besaß. Wenn alles nach Plan verlief, dann würde es mit Sicherheit nicht das letzte Fest sein, dass sie ausrichtete. Gerade bogen die beiden Vampire um einen Ecke, auf den Weg in das Kaminzimmer, in dem sie den letzten Abend verbracht hatten, als Magda wutschnaubend auf den Grafen zu gestürmt kam.
ANMERKUNG: Ohoh... wieviele Kaminzimmer gibt es in diesem Schloß eigentlich? Kaminzimmer... englischer Salon... das sollte ich noch mal überdenken.
"Mir reicht es!" verkündete sie. "Es tut mir leid, Herr Graf, aber was zu viel ist, ist zu viel! Da reißt man sich... Verzeihung... da schuftet man sich krumm und buckelig, um für euren Sohn ein unvergeßliches Erlebnis auf die Beine zu stellen und wie wird es einem gedankt? Nicht mit mir! Diese *Schnepfe*" bei diesen Worten deutete sie auf sich "Wird jedenfalls nichts mehr machen, bevor er sich nicht entschuldigt hat. Eine Schnepfe, pah!" schimpfte sie und wollte den Grafen und Sarah stehen lassen. "Bleib!" Der Befehl war nicht zu ignorieren, die Stimme des Grafen hart und gefährlich. Eingeschüchtert drehte Magda sich um. "Was ist vorgefallen?" fragte von Krolock.
Herbert drückte Alfred einen dicken Wintermantel in die Hand. "Hier, den wirst Du brauchen, wenn wir beide heute Abend ausgehen." Alfred sah Herbert erstaunt an. "Hast du es etwa schon wieder vergessen? Ein romantisches Abendessen für uns zwei... Zieh dich an, es wird heute Nacht noch schneien." Herbert verließ den Raum, ein gefüttertes Cape über dem Arm. "Ich sage Koukul Bescheid, dass wir den Schlitten brauchen." rief er über seine Schulter. Alfred schlüpfte in den pelzgefütterten Mantel, wählte ein Paar feste Schuhe und beeilte sich, Herbert einzuholen. Auf dem Innenhof war Koukul bereits damit beschäftigt anzuspannen. Der Atem der beiden prächtigen Pferde stieg in weißen Wolken in die Luft. Alfred bemerkte interessiert, dass Herberts und sein eigener Atem beim Sprechen unbemerkt blieb. Das hätte den Professor sicher interessiert, dachte er in einem Anfall von Melancholie. Aber Herbert ließ nicht zu, dass der Nachwuchswissenschaftler auf trübe Gedanken kam. Mit einem Schafsfell über den Knien saßen die beiden schon bald in dem Schlitten. Koukul nahm auf Herberts Befehl auf dem Bock Platz und mit einem Knallen der Peitsche verließen die drei den Innenhof des Schlosses.
"Wo steckt Koukul, wenn man ihn braucht?" wunderte sich Graf von Krolock ein wenig später. Eine zornige Falte zeigte sich zwischen seinen Brauen. Er war es nicht gewohnt, auf den Diener warten zu müssen. "Koukul!" Der Ruf des Grafen hallte durch die Räume des Schlosses. Aber der Bucklige ließ sich nicht blicken.
Alfred und Herbert erreichten schon bald das nächste Dorf. Sie hießen Koukul mit dem Schlitten ein wenig außerhalb zu warten. Der Bucklige wickelte sich fest in eine dicke Decke ein und stellte sich auf eine längere Wartezeit ein. Herbert hakte sich bei Alfred ein und die beiden Vampire zogen gemeinsam los. Schon bald hatte der langhaarige Vampir ein passendes Opfer erspäht. Er griff nach Alfreds Kinn und drehte dessen Kopf in die richtige Richtung. In einer Seitengasse konnte Alfred eine Gestalt erkennen, die sich im Schatten versteckte. "Der hat bestimmt nichts Gutes vor... damit dein Gewissen beruhigt ist." flüsterte Herbert in das Ohr des jungen Vampirs. Dann gingen die Beiden scheinbar ahnungslos weiter. Sie näherten sich unbekümmert der Seitengasse, Herbert verwickelte den nervösen Alfred in ein Gespräch. Wie er es erwartet hatte, trat die Person aus dem Schatten der Gasse, als sie diese gerade passiert hatten und Herbert spürte, wie ihm ein Messer an die Kehle gedrückt wurde. "Ganz ruhig, dann passiert nichts!" zischte der Räuber ihm ins Ohr, während er mit einer Hand eilig die Taschen des Vampirs durchsuchte. Herbert lächelte nur und gab Alfred ein Zeichen. Doch der Wissenschaftler stand wie gelähmt da. "Alfred?" Herbert konnte spüren, wie die scharfe Schneide der Klinge die Haut an seinem Hals leicht ritzte als er sprach.
Der Geruch des Blutes ließ Alfred zusammenzucken. Herbert! Ohne nachzudenken warf er sich auf den Dieb. Mit einem lauten Getöse gingen die beiden Gestalten zu Boden, beide wild kämpfend. Die Klinge des Messers blitzte im Mondschein auf und Alfred stieß einen erschrockenen und schmerzerfüllten Schrei aus. Dann verbiß er sich mit einem wütenden Fauchen im Arm des Mannes. Die Schreie des Menschen wurden schriller.
Herbert war im ersten Moment viel zu verblüfft um zu reagieren. Das hätte er seinem Alfred überhaupt nicht zugetraut. Der Nachwuchswissenschaftler kämpfte wie eine Katze. Doch die Schreie des Diebes waren nicht ungehört geblieben. Der Sohn des Grafen griff entschlossen ein. Er trennte die beiden Kämpfenden. Mit einem unangenehmen Knacken brachen die Halswirbel des Menschen und die Schreie verstummten abrupt. "Komm!" Er griff nach Alfreds Hand und die beiden verschwanden zwischen den Häusern, bevor sich eine wütende Menge einfinden konnte. "Wir müssen uns verstecken." Herbert steuerte zielstrebig auf den Friedhof zu, der ein wenig außerhalb des Dorfes lag. Der Boden war so hart gefroren, dass die Verstorbenen bis zum Frühjahr in der Leichenhalle aufbewahrt werden mussten. Mit Alfred an der Hand betrat er die Halle. Einfache Holzsärge standen darin. Herbert sah sich um. Sie mussten einen davon okkupieren, doch was sollte mit dem "Besitzer" des Sarges geschehen? Er löste das Problem schnell. Er wählte einen Sarg aus und hebelte den zugenagelten Deckel auf. Mit einem zweiten verfuhr er ebenso. Die beiden Leichen verstaute er gemeinsam in einem Sarg und verschloß ihn wieder. Dann schob er die nun leere Kiste in den dunkelsten Winkel der Leichenhalle. "Verriegele die Tür, Alfred" wies er den anderen Mann über die Schulter hinweg an. Aus Alfreds Richtung antwortete ihm nur ein schwachen Stöhnen. Alarmiert drehte sich Herbert um. Der jüngere Vampir war zu Boden gesunken und auf seinem Hemd zeigte sich ein schnell größer werdender Fleck dunklen Blutes. Eine eiskalte Hand schloß sich um Herberts Herz. Nein! Nicht Alfred. Mit übermenschlicher Geschwindigkeit verbarrikadierte er die Tür. Dann riß er den blutigen Stoff den Hemdes auf. Eine tiefe Stichwunde, knapp neben dem Herzen zeigte sich in Alfreds Brust. Die Klinge war zum Glück an einer Rippe abgerutscht, aber der Blutverlust war enorm. Und ohne Blut konnte die Wunde auch nicht verheilen. Herbert riß sein eigenes Hemd in Streifen und verband die Wunde um die Blutung zu stoppen. Dann öffnete er mit seinen Zähnen eine Ader an seinem Handgelenk. Hoffentlich war Alfred noch nicht in ein Koma gefallen. Einige Sekunden, die Herbert wie eine Ewigkeit erschienen passierte nichts. Dann begann Alfred zögernd das Blut zu trinken. Tränen der Dankbarkeit stiegen Herbert in die Augen. Als er sicher war, dass die Wunde wieder verheilen würde, legte er Alfred in den Sarg, kuschelte sich neben ihn und schloß den Deckel. Jetzt konnten sie nur abwarten, bis die nächste Nacht kam.
Graf von Krolock wanderte unruhig vor seinem Sarg auf und ab. Herbert war noch nicht heimgekehrt und der Horizont rötete sich bereits. Er machte sich ernsthafte Sorgen. Erst als er ein leichtes Brennen auf seiner Haut spürte suchte er seinen sicheren Sarg auf. Sein einziger Trost war, dass auch Koukul noch nicht zurückgekehrt war. Er hoffte, Herbert würde nicht ohne Beschützer ruhen müssen.
Schneeflocken fielen und bedeckten alle Spuren der vergangenen Nacht.
Herbert erwachte bei Sonnenuntergang in seinem Sarg. Alfred lag noch immer leb- und regungslos neben ihm. Herbert gestattete sich, die Gesichtszüge seines Gefährten in der Dunkelheit zu ertasten. Alfred war sein wahr gewordener Wunschtraum. Er glaubte nicht, es verkraften zu können, ihn zu verlieren. Wenn er in die Dunkelheit lauschte und konnte hören, wie Stoff über Stoff strich, als Graf von Krolock sich in seinem Sarg aufsetzte. Herbert schloß seine Augen und blieb völlig reglos liegen. Er wollte seinen Vater jetzt nicht sehen oder mit ihm sprechen. Der gestrige Abend hatte ihn erschreckt. Wie hatte er so dumm sein können und die Anziehungskraft seines Vaters unterschätzen? Wieso nur hatte er sich auf diese blödsinnige Wette eingelassen? Er schwor sich, um Alfred zu kämpfen, wenn es nötig sein sollte. Neben ihm begann der Wissenschaftler sich zu regen. Müde gähnte er und tastete mit der Hand nach dem geschlossenen Deckel des gepolsterten Sarges. Herbert legte ihm einen Finger auf den Mund und bedeutete ihm leise zu sein. In der Finsternis konnten die beiden hören, wie von Krolock aus seinem Sarg stieg und dann Sarah half, ihn zu verlassen (den Sarg natürlich *g*). Kaum waren Sarah und der Graf aus der Gruft verschwunden öffnete Herbert den Deckel seines eigenen Sarges. Alfred kletterte als erster hinaus. Er streckte sich und gähnte noch einmal ausgiebig. Der Sohn des Grafen sah Alfred lange an. "Was ist?" fragte dieser ihn verwundert. Herbert winkte ab "Schon gut, nicht so wichtig. Komm, laß uns etwas zu Essen besorgen. Wie wär's mit einem romantischen Abendessen... nur wir beide... Kerzenschein...?" Alfred musste schlucken. Er hatte sich noch nicht ganz an die vampirischen Vorstellungen von einer Mahlzeit gewöhnt. "Nur wir beide... und unsere Mahlzeit. Brrr! Das finde ich nicht besonders romantisch." Er schüttelte sich, obwohl der Gedanke an einen großen Schluck warmes Blut sehr verlockend war. "Der Appetit kommt beim Essen. Komm schon!" Herbert griff ohne weitere Umstände nach Alfreds Ärmel und zog ihn die Treppe hinauf, in die oberen Stockwerke des Schlosses.
Chagall durchstreifte das Schloß auf der Suche nach Magda. Als er aufgestanden war hatte die blonde Frau bereits ihren Sarg verlassen und war verschwunden. Seit ihrem Streit ging sie ihm aus dem Weg. Der Vampir ärgerte sich. Er fühlte sich einsam und vernachlässigt und beschloß ein ernstes Wort mit seiner ehemaligen Angestellten zu reden. Auf der Suche nach Magda fand er auf einmal eine verschlossene Tür. Vorsichtig klopfte er an. "Hallo?" Hinter der dicken Holztür konnte er hastige Schritte hören. "Hallo!" ertönte die Antwort aus dem Zimmer. "Bitte, wenn sie so freundlich wären... ich müßte einmal das gewisse Örtchen aufsuchen und leider ist die Tür versperrt." (Der Kerl kommt sich wahrscheinlich sehr schlau vor, mit diesem Trick... ) Der Wirt überlegte. Hinter der Tür befand sich allem Anschein nach ein Mensch. Er leckte sich unwillkürlich die Lippen. Es war schon lange her, dass er einen anständigen Schluck Blut gekostet hatte. "Einen Moment!" antwortete er und machte sich an dem Schloß zu schaffen. Nach wenigen Sekunden hatte er die Tür geöffnet. "So, mein Herr, zu Diensten. Wenn sie mir folgen wollen, ich zeige Ihnen, wo sie den Abort finden." Er wandte sich ab und ging den Gang hinunter. Befriedigt stellte er fest, das der Mensch ihm dicht auf den Fersen folgte. Dann wandte er sich nach links und führte den Mann, der sich immer wieder nervös umsah in einen unbeleuchteten Korridor. Vor einer Tür hielt er an. "Bitte sehr, der Herr. Nach Ihnen." Chagall buckelte und wies auf die Tür. Eingeschüchtert bedankte sich der Mann, trat an dem Vampir vorbei und öffnete die Tür. Als er in den Raum trat folgte ihm Chagall und schloß die Tür hinter sich. Ohne seine Fänge zu verbergen lächelte er ihn an. "Das... das ist aber nicht..." brachte der Mensch furchtsam hervor. In der Tat. Chagall sah sich um. Der Raum war mit dicken Teppichen ausgelegt. Einige alte Polstersessel standen darin, kleine Beistelltischchen befanden sich daneben. Die Wände waren mit Holz getäfelt und über dem Kamin, in dem sich noch ein wenig kalte Asche befand, hing ein großes Ölgemälde. (à la englischer Club um die Jahrhundertwende, auf dem Bild ist vermutlich eine Fuchsjagd abgebildet( ). In der gegenüberliegenden Wand befand sich eine große Schiebetür aus dunklem Holz, die halb geöffnet war. Der Wirt konnte leise Stimmen aus dem benachbarten Raum hören. Verflucht. Er würde seine Beute teilen müssen... es sei denn... Auf Zehenspitzen schlich der Vampir auf die Schiebetür zu, immer darauf bedacht, den zitternden Mann im Auge zu behalten. Mit einer behandschuhten Hand griff er nach dem Knauf und zog die Tür zu. Auf einmal spürte er einen Widerstand. Erstaunt sah er auf und blickte in die Augen des Grafen. Der ältere Vampir hielt die Tür mühelos mit einer Hand offen. "Exzellenz!" Chagall ließ den Knauf los und verbeugte sich überschwenglich. "Guten Abend."
Von Krolock musterte ihn kalt. Er schnappte sich den dicklichen Vampir und schleifte ihn aus dem Raum. Mit einem Knall verschloß sich die Tür hinter dem Wirt. Dann wand sich der Vampir um und begrüßte den Menschen mit einem höflichen Lächeln. "Entschuldigt, Meister Joachim. Es wird nicht wieder vorkommen. Kommt, leistet mir und meiner Gefährtin ein wenig Gesellschaft im Salon und ich werde euch den Grund eures Aufenthalts erklären." Er legte dem Schneider schwer eine Hand auf die Schulter und führte ihn durch die Schiebetür in den benachbarten Raum, in dem Sarah wartete.
Magda und Koukul bogen ahnungslos um eine Ecke, als ihnen der vor Wut schäumende Chagall gegenüber stand. Seine Geliebte mit dem verkrüppelten Menschen zu sehen verbesserte die Laune des Wirtes nicht unbedingt. "Hier treibst du dich also herum. Meine Güte, Du mußt es in letzter Zeit aber nötig haben, wenn du dich sogar mit diesem Abschaum abgibst. Komm' vertragen wir uns wieder und ich zeig' dir, was ein echter Mann ist." Chagall griff verführerisch lächelnd, wie er selbst jedenfalls glaubte, nach Magdas Hand. Koukul senkte den Kopf und versuchte das Feld zu räumen. Ärger zeigte sich in seinem entstellten Gesicht, aber er wußte, dass er nie eine Chance hatte, als Mann gesehen zu werden. Magda hatte jedoch andere Pläne. Selbstbewußt reckte sie das Kinn und entzog Chagall ihre Hand, während sie Koukul zurückhielt. "Koukul ist mehr Mann als du!" schleuderte sie ihm entgegen. "Und wenn ich die Wahl habe, ziehe ich ihn dir 100 mal vor!" "Ay!" Verletzt verzog Chagall das Gesicht. "Komm' Nachtigall, sei nicht so." Versuchte er es noch einmal schmeichelnd und griff erneut nach ihrer Hand. Koukul machte einen drohenden Schritt auf ihn zu und gab einschüchternde Laute von sich. Ohne Chagall eines Blickes zu würdigen stolzierte Magda davon, den immer nach wütenden Koukul im Schlepptau. Hinter der nächsten Ecke drückte sie den verblüfften Mann herzlich. "Danke! Das hat so gut getan. Er braucht sich nicht einbilden, dass ich zu ihm zurück gekrochen kommen... nein, niemals. Du bist ein guter Freund."
Koukul befreite sich verlegen aus Magdas Umarmung. Er bedeutete ihr, dass es an der Zeit war, in der Küche eine Mahlzeit für den Gast zuzubereiten und wollte schnell um die nächste Ecke verschwinden. Doch Magda ließ sich nicht abschütteln. Sie folgte ihm dicht auf den Fersen. "Ich helfe Dir! Dann geht es schneller und wir können uns um die Dekoration kümmern, einverstanden?" Was sollte Koukul darauf erwidern? Ein "Nein" wäre sehr unhöflich gewesen und eigentlich wollte er ja auch, das Magda blieb... er fürchtete nur, dass sie bald herausfinden würde, was er wirklich für sie empfand und sich dann angewidert von ihm abwenden würde. Seine Antwort war ein vages Brummen, dass Magda offensichtlich als Einverständnis interpretierte.
Alfred und Herbert konnten Stimmen aus einem der Zimmer hören. Der Graf sprach mit einem Unbekannten und neugierig beschloß sein Sohn, herauszufinden, wer der Neuankömmling war. Die beiden traten in das Zimmer. Dort sahen sie Graf von Krolock in ein Gespräch mit einem Sterblichen vertieft. Sarah saß auf der Lehne eines Sessels und lauschte aufmerksam. Als die Anwesenheit der beiden jungen Männer bemerkt wurde verstummte das Gespräch. "Du kommst gerade richtig, Sohn!" begrüßte der adlige Vampir Herbert. "Das ist Meister Joachim." Eine weitere Erklärung fügte er nicht hinzu. "Laß' ihn nur schnell Maß nehmen, dann werden wir euch beide nicht länger von euren Plänen abhalten." Die Launen seines Vaters überraschten ihn nach Jahrhunderten nicht mehr. Geduldig ließ Herbert die Prozedur über sich ergehen, staunte jedoch, als der Schneider auch Alfreds Maße nahm. Alfred starrte gebannt auf die pochende Halsschlagader des Mannes, als dieser sich zu ihm beugte. Bevor ein Unglück geschehen konnte, legte Herbert ihm sanft eine Hand auf die Schulter. "Du willst dir doch nicht vor dem Essen den Magen verderben, Süßer? Hab' noch ein bißchen Geduld." Und an seinen Vater gewandt fügte er hinzu "Wenn wir fertig sind, würdest du uns bitte entschuldigen?" Mit einer galanten Verbeugung in Sarahs Richtung verließ er den Raum. "Alfred?" Suchend sah Herbert sich um. Der Wissenschaftler war ihm nicht gefolgt. Herbert drehte sich auf dem Absatz herum und kehrte zurück. Im Salon war der Graf krampfhaft damit beschäftigt, den Schneider abzulenken indem er ihn in ein Gespräch verwickelte, während Sarah den jungen Vampir davon abhielt, ihn anzufallen, indem sie sich zwischen die beiden stellte und heftig mit Alfred flirtete. Dieser ignorierte sie jedoch. Normalerweise hätte das Herbert gefreut, aber in diesem Fall verlor er die Geduld. "Komm mit!" Er griff nach Alfreds Hand und zog ihn eilig aus dem Zimmer. Außer Sichtweite des Menschen bekam Alfred sich langsam wieder unter Kontrolle. Herbert ließ ihn nicht aus den Augen, als er ihn behutsam durch die Flure führte. "Daran müssen wir wohl noch ein wenig arbeiten, meinst du nicht auch, Alfred?" fragte er ihn sanft. "Es tut mir ja leid. Aber ich konnte einfach nicht anders." Alfred sah ihn geknickt an. "Das wird schon noch!" tröstete Herbert ihn. "Das haben wir alle durchmachen müssen... und manchmal können sich selbst erfahrenere Vampir nicht beherrschen." Er strich Alfred beruhigend über den Rücken. "Komm, wir sehen mal, dass du einen Schluck zu trinken bekommst, das wird dir helfen!" Eifrig schob Herbert Alfred vor sich her.
Genau diesen Augenblick hatten sich Koukul und Magda ausgesucht, um sich auf den Weg in den Ballsaal zu machen, wo sie eine Versammlung der Schloßbewohner einberufen hatten, um diese zum Helfen einzuteilen. Magda erklärte Koukul gerade, dass "... davon noch in Fünfzig Jahren gesprochen wird..." Herbert spitzte neugierig die Ohren. Scheinbar war etwas im Gang, von dem er (noch) nichts wußte. Doch leider bemerkten die beiden ihn. Magda machte einen Knicks und hoffte, das der Sohn des Grafen nicht zu viel gehört hatte. Herbert musterte sie durchdringend. Die ehemalige Magd erwiderte seinen Blick. "Und wovon wird man noch in Fünfzig Jahren sprechen?" fragte der Vampir interessiert. "So ein Mist!" Magdas Gedanken überschlugen sich. Sie durfte die Überraschung auf keinen Fall verraten. Koukul stand nur neben ihr und tat so, als könne er nicht bis drei zählen. Für einen Augenblick beneidete sie ihn unwahrscheinlich. Leider mußte sie sich jetzt schnell eine zufriedenstellende Antwort einfallen lassen. "Äh..." stotterte sie. Herbert wurde sichtlich ungeduldig. "Der Graf hat mir ein neues Kleid versprochen." improvisierte sie. "Der letzte Schrei, damit werde ich einige Köpfe verdrehen. Sogar ein Schneider ist schon im Schloß."
Herbert konnte nicht fassen, dass eine Frau so naiv sein konnte. Er verdrehte die Augen und zog Alfred weiter. "Diese eitle Schnepfe braucht sich nichts darauf einzubilden. Vater verschenkt Kleider wie andere Leute Blumen oder Konfekt. Und dass Meister Joachim ihretwegen im Schloß ist, das wage ich auch zu Bezweifeln..." erklärte er Alfred. Leider hatte er ein wenig zu laut gesprochen.
Magda wurde vor Wut ganz blaß. Das hatte man jetzt also davon, wenn man sich Mühe gab, ein besonderes Fest für einen solchen verwöhnten Bengel auszurichten. Vor Wut kochend stolzierte sie auf Herbert zu und holte aus. In seinen Augen zeigte sich mehr Erstaunen als Schmerz, als ihre Hand mit einem klatschenden Geräusch mit seiner Wange kollidierte. "Nenn' mich NIE wieder eine Schnepfe!" Ihr Tonfall war drohend. Sie stolzierte davon, Koukul dicht auf ihren Fersen. Der bucklige Diener warf Herbert einen verletzten und enttäuschten Blick zu.
"Was war denn das? Sie... sie hat mich geschlagen!" Herbert konnte immer noch nicht glauben, was gerade geschehen war. "Wie kann sie es wagen..." wütend begann er in die Richtung zu gehen, in die Magda und Koukul verschwunden waren. Alfred hielt ihn zurück. "Komm, laß sie." bat er. "Sie hat sich so gefreut... und du hast sie beleidigt. Kein Wunder, dass sie so wütend war. Ich glaube nicht, dass ihr schon jemals in ihrem Leben jemand ein so großzügiges Geschenk gemacht hat. Und außerdem, fügte er hinzu, hast Du damit deine Wettschulden beglichen. Ich würde mal sagen, dass eine Ohrfeige deutlich über einer Beleidigung rangiert." Nachdenklich streckte er sich auf die Zehenspitzen und gab Herbert einen sanften Kuß auf die gerötete Wange. "Siehst Du, es wird schon besser." beschloß er dann. Das brachte dann auch Herbert zum Grinsen. "Na, von dieser Medizin kann ich nie genug bekommen!" Er lächelte Alfred an.
Unterdessen hatten Sarah und Graf von Krolock den Schneider mit dem Versprechen, dass es ihm an nichts fehlen sollte seiner Arbeit überlassen. Die junge Frau hing aufgeregt am Arm des Vampirs, der ihre Vorfreude lächelnd ertrug. "Hab' Geduld, in drei Tagen wird es soweit sein!" versprach er ihr. Ein strahlendes, kindliches Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. "Ich bin ja so aufgeregt!" gestand sie ihm. "Ich habe noch nie an einem Kostümfest teilgenommen." Von Krolock gratulierte sich zu seinem Einfall, Magda die Vorbereitungen zu überlassen. Er musste zugeben, dass die Magd ein Talent dafür besaß. Wenn alles nach Plan verlief, dann würde es mit Sicherheit nicht das letzte Fest sein, dass sie ausrichtete. Gerade bogen die beiden Vampire um einen Ecke, auf den Weg in das Kaminzimmer, in dem sie den letzten Abend verbracht hatten, als Magda wutschnaubend auf den Grafen zu gestürmt kam.
ANMERKUNG: Ohoh... wieviele Kaminzimmer gibt es in diesem Schloß eigentlich? Kaminzimmer... englischer Salon... das sollte ich noch mal überdenken.
"Mir reicht es!" verkündete sie. "Es tut mir leid, Herr Graf, aber was zu viel ist, ist zu viel! Da reißt man sich... Verzeihung... da schuftet man sich krumm und buckelig, um für euren Sohn ein unvergeßliches Erlebnis auf die Beine zu stellen und wie wird es einem gedankt? Nicht mit mir! Diese *Schnepfe*" bei diesen Worten deutete sie auf sich "Wird jedenfalls nichts mehr machen, bevor er sich nicht entschuldigt hat. Eine Schnepfe, pah!" schimpfte sie und wollte den Grafen und Sarah stehen lassen. "Bleib!" Der Befehl war nicht zu ignorieren, die Stimme des Grafen hart und gefährlich. Eingeschüchtert drehte Magda sich um. "Was ist vorgefallen?" fragte von Krolock.
Herbert drückte Alfred einen dicken Wintermantel in die Hand. "Hier, den wirst Du brauchen, wenn wir beide heute Abend ausgehen." Alfred sah Herbert erstaunt an. "Hast du es etwa schon wieder vergessen? Ein romantisches Abendessen für uns zwei... Zieh dich an, es wird heute Nacht noch schneien." Herbert verließ den Raum, ein gefüttertes Cape über dem Arm. "Ich sage Koukul Bescheid, dass wir den Schlitten brauchen." rief er über seine Schulter. Alfred schlüpfte in den pelzgefütterten Mantel, wählte ein Paar feste Schuhe und beeilte sich, Herbert einzuholen. Auf dem Innenhof war Koukul bereits damit beschäftigt anzuspannen. Der Atem der beiden prächtigen Pferde stieg in weißen Wolken in die Luft. Alfred bemerkte interessiert, dass Herberts und sein eigener Atem beim Sprechen unbemerkt blieb. Das hätte den Professor sicher interessiert, dachte er in einem Anfall von Melancholie. Aber Herbert ließ nicht zu, dass der Nachwuchswissenschaftler auf trübe Gedanken kam. Mit einem Schafsfell über den Knien saßen die beiden schon bald in dem Schlitten. Koukul nahm auf Herberts Befehl auf dem Bock Platz und mit einem Knallen der Peitsche verließen die drei den Innenhof des Schlosses.
"Wo steckt Koukul, wenn man ihn braucht?" wunderte sich Graf von Krolock ein wenig später. Eine zornige Falte zeigte sich zwischen seinen Brauen. Er war es nicht gewohnt, auf den Diener warten zu müssen. "Koukul!" Der Ruf des Grafen hallte durch die Räume des Schlosses. Aber der Bucklige ließ sich nicht blicken.
Alfred und Herbert erreichten schon bald das nächste Dorf. Sie hießen Koukul mit dem Schlitten ein wenig außerhalb zu warten. Der Bucklige wickelte sich fest in eine dicke Decke ein und stellte sich auf eine längere Wartezeit ein. Herbert hakte sich bei Alfred ein und die beiden Vampire zogen gemeinsam los. Schon bald hatte der langhaarige Vampir ein passendes Opfer erspäht. Er griff nach Alfreds Kinn und drehte dessen Kopf in die richtige Richtung. In einer Seitengasse konnte Alfred eine Gestalt erkennen, die sich im Schatten versteckte. "Der hat bestimmt nichts Gutes vor... damit dein Gewissen beruhigt ist." flüsterte Herbert in das Ohr des jungen Vampirs. Dann gingen die Beiden scheinbar ahnungslos weiter. Sie näherten sich unbekümmert der Seitengasse, Herbert verwickelte den nervösen Alfred in ein Gespräch. Wie er es erwartet hatte, trat die Person aus dem Schatten der Gasse, als sie diese gerade passiert hatten und Herbert spürte, wie ihm ein Messer an die Kehle gedrückt wurde. "Ganz ruhig, dann passiert nichts!" zischte der Räuber ihm ins Ohr, während er mit einer Hand eilig die Taschen des Vampirs durchsuchte. Herbert lächelte nur und gab Alfred ein Zeichen. Doch der Wissenschaftler stand wie gelähmt da. "Alfred?" Herbert konnte spüren, wie die scharfe Schneide der Klinge die Haut an seinem Hals leicht ritzte als er sprach.
Der Geruch des Blutes ließ Alfred zusammenzucken. Herbert! Ohne nachzudenken warf er sich auf den Dieb. Mit einem lauten Getöse gingen die beiden Gestalten zu Boden, beide wild kämpfend. Die Klinge des Messers blitzte im Mondschein auf und Alfred stieß einen erschrockenen und schmerzerfüllten Schrei aus. Dann verbiß er sich mit einem wütenden Fauchen im Arm des Mannes. Die Schreie des Menschen wurden schriller.
Herbert war im ersten Moment viel zu verblüfft um zu reagieren. Das hätte er seinem Alfred überhaupt nicht zugetraut. Der Nachwuchswissenschaftler kämpfte wie eine Katze. Doch die Schreie des Diebes waren nicht ungehört geblieben. Der Sohn des Grafen griff entschlossen ein. Er trennte die beiden Kämpfenden. Mit einem unangenehmen Knacken brachen die Halswirbel des Menschen und die Schreie verstummten abrupt. "Komm!" Er griff nach Alfreds Hand und die beiden verschwanden zwischen den Häusern, bevor sich eine wütende Menge einfinden konnte. "Wir müssen uns verstecken." Herbert steuerte zielstrebig auf den Friedhof zu, der ein wenig außerhalb des Dorfes lag. Der Boden war so hart gefroren, dass die Verstorbenen bis zum Frühjahr in der Leichenhalle aufbewahrt werden mussten. Mit Alfred an der Hand betrat er die Halle. Einfache Holzsärge standen darin. Herbert sah sich um. Sie mussten einen davon okkupieren, doch was sollte mit dem "Besitzer" des Sarges geschehen? Er löste das Problem schnell. Er wählte einen Sarg aus und hebelte den zugenagelten Deckel auf. Mit einem zweiten verfuhr er ebenso. Die beiden Leichen verstaute er gemeinsam in einem Sarg und verschloß ihn wieder. Dann schob er die nun leere Kiste in den dunkelsten Winkel der Leichenhalle. "Verriegele die Tür, Alfred" wies er den anderen Mann über die Schulter hinweg an. Aus Alfreds Richtung antwortete ihm nur ein schwachen Stöhnen. Alarmiert drehte sich Herbert um. Der jüngere Vampir war zu Boden gesunken und auf seinem Hemd zeigte sich ein schnell größer werdender Fleck dunklen Blutes. Eine eiskalte Hand schloß sich um Herberts Herz. Nein! Nicht Alfred. Mit übermenschlicher Geschwindigkeit verbarrikadierte er die Tür. Dann riß er den blutigen Stoff den Hemdes auf. Eine tiefe Stichwunde, knapp neben dem Herzen zeigte sich in Alfreds Brust. Die Klinge war zum Glück an einer Rippe abgerutscht, aber der Blutverlust war enorm. Und ohne Blut konnte die Wunde auch nicht verheilen. Herbert riß sein eigenes Hemd in Streifen und verband die Wunde um die Blutung zu stoppen. Dann öffnete er mit seinen Zähnen eine Ader an seinem Handgelenk. Hoffentlich war Alfred noch nicht in ein Koma gefallen. Einige Sekunden, die Herbert wie eine Ewigkeit erschienen passierte nichts. Dann begann Alfred zögernd das Blut zu trinken. Tränen der Dankbarkeit stiegen Herbert in die Augen. Als er sicher war, dass die Wunde wieder verheilen würde, legte er Alfred in den Sarg, kuschelte sich neben ihn und schloß den Deckel. Jetzt konnten sie nur abwarten, bis die nächste Nacht kam.
Graf von Krolock wanderte unruhig vor seinem Sarg auf und ab. Herbert war noch nicht heimgekehrt und der Horizont rötete sich bereits. Er machte sich ernsthafte Sorgen. Erst als er ein leichtes Brennen auf seiner Haut spürte suchte er seinen sicheren Sarg auf. Sein einziger Trost war, dass auch Koukul noch nicht zurückgekehrt war. Er hoffte, Herbert würde nicht ohne Beschützer ruhen müssen.
Schneeflocken fielen und bedeckten alle Spuren der vergangenen Nacht.
