NACHT 7

Die Sonne war gerade hinter dem Horizont verschwunden, als Graf von Krolock bereits seinen Sarg verließ. "Koukul?!" Sein Ruf hallte in den Gewölben des Schlosses wieder. Ärger und eine Spur von Besorgnis zeichnteten sich in seinen Zügen ab. Wenn der Diener ohne seinen Sohn zurückgekehrt sein sollte... Doch sowohl Koukul als auch der Schlitten des Grafen fehlten. Im Schloß herrschte eine angespannte Stimmung. Die Bewohner reagierten überempfindlich. Sarah und Magda gerieten in einen heftigen Streit, als die rothaarige Tochter des Wirts der blonden Frau vorwarf, Herbert aus dem Schloß in "in seinen Untergang" getrieben zu haben. Der Graf musste einschreiten und die zwei raufenden Frauen trennen. Unsanft schob er sie in zwei getrennte Zimmer und schloß ab. Schmerzhaft verzog er das Gesicht, als ein unmißverständliches Klirren ihm mitteilte, dass Sarah in ihrem Zorn eine wertvolle Vase von innen gegen die Tür geworfen hatte. Dann legte er ein gefüttertes Cape um und verließ das Schloß auf einem Pferd in Richtung des Dorfes. Am Tag waren mehrere Zentimeter Schnee gefallen und hatte alle Spuren zugedeckt. Gut für Herbert und Alfred, wenn sie ein Versteck erreicht hatten, aber schlecht für ihn, wenn er sie finden wollte.

In ihrem kalten Versteck regte sich Herbert als erster. Alfreds Kopf lag schwer auf seiner Brust. Vorsichtig schob Herbert ihn ein wenig zur Seite und setzte sich auf. Erleichtert stellte er fest, dass niemand die Leichenhalle am Tag betreten hatte, die Tür war noch immer so von innen verbarrikadiert, wie er sie von der vergangenen Nacht in Erinnerung hatte. "Alfred?" Vorsichtig versuchte er den jungen Mann zu wecken. Seine Gesichtsfarbe war selbst für einen Vampir besorgniserregend blaß. Doch Herbert konnte es sich nicht leisten ihm noch mehr seines eigenen Blutes anzubieten, wenn er kräftig genug sein wollte, um den anderen durch den Schnee zurück zum Schloß zu transportieren. Mit einem schwachen Stöhnen erwachte Alfred. "Mmmmh? Herbert? Wo sind wir?" Der adlige Vampir hätte ihn am liebsten fest in die Arme geschlossen und nie wieder losgelassen. Doch dafür war jetzt nicht genug Zeit. Sie mussten weg, bevor die Dorfbewohner sie bemerkten. Herbert stützte Alfred und half ihm, aus dem Sarg zu steigen. Dann achtete er darauf, dass sie beide gut in ihre Mäntel eingewickelt waren. Selbst wenn die Kälte nicht tödlich war, der schneidende eisige Wind war unangenehm und behinderte ihr Vorankommen. Herbert hoffte, dass Koukul außer Sichtweite des Dorfes mit dem Schlitten wartete, aber falls dem nicht so war, musste er damit rechnen, den ganzen Weg zu Fuß zurückzulegen. Davon sagte er jedoch Alfred nichts, als er ihn aufmunternd ansah und ihn aufforderte, sich bei ihm einzuhängen. Mit einem ein wenig schwankendem Alfred machten sich die beiden auf den Heimweg.

Koukul erkannte die hochgewachsene Gestalt, die auf dem edelsten Tier des Stalls heran geprescht kam schon von weitem. Nur Graf von Krolock wurde es wagen in einer solchen Nacht alleine unterwegs zu sein. Sein langes Haar wehte wie ein eisgrauer Schleier hinter ihm in der Nachtluft.

Graf von Krolock zügelte sein Pferd, als er Koukul erreichte. Der Diener hatte den Tag gut versteckt in einem kleinen Wäldchen verbracht. Nun hatte er die Pferde wieder vor den Schlitten gespannt und war bereit, sich auf die Suche nach Herbert und Alfred zu machen. Der Vampir hieß ihn außer Sichtweite des Dorfes zu bleiben. Sollte sein Sohn in Schwierigkeiten geraten sein, so wäre es besser, den Bewohnern keinen Hinweiß auf seine Flucht zu geben. Als die Beiden nur noch wenige hundert Meter außerhalb des Dorfes waren, ließ von Krolock sein Reittier in der Obhut Koukuls zurück und schlich sich vorsichtig näher.

Alfred konnte sich kaum auf den Beinen halten Herbert zog ihn mehr mit sich, als dass er aus eigener Kraft lief. Stolpernd hing er am Arm des älteren Vampirs und bemühte sich, nicht zu stürzen. Er sehnte sich nach einem kräftigenden, warmen Schluck Blut. Alles würde er geben, kein Preis wäre ihm zu hoch - oder kein Menschenleben zu teuer. Zum ersten Mal begann er das Verlangen zu verstehen, das die Existenz eines Vampirs regierte. Die Kälte drang bis in seine Knochen vor, ließ seine Gelenke steif werden und verdrängte das Gefühl aus seinen Fingern. Auch wenn sie nicht tödlich war, so ließ sie ihn doch zittern. Herbert legte schützend seinen Arm um ihn und zog ihn noch dichter an sich heran, doch da auch sein Körper keine Wärme abgab, half es nicht gegen die eisigen Temperaturen. Schließlich war Alfred am Ende seiner Kräfte angelangt. Kraftlos ließ er sich in den Schnee sinken. "Ich kann nicht mehr, nicht einen Schritt!" erklärte er zitternd. Herbert sah erschrocken und verstört zu ihm herab, dann kniete er sich neben ihn in den Schnee. "Du mußt! Alfred, wenn du hier bleibst, dann werden sie dich finden. Bitte!" Er versuchte den Wissenschaftler wieder auf die Füße zu ziehen.

Nein! Alles in Herbert wehrte sich dagegen, Alfred zurück und damit seinem Schicksal zu überlassen. Nicht, wo sie so viel gemeinsam durchgemacht und überstanden hatten, so viel Freude geteilt hatte. Der andere bedeutete ihm zu viel. Zum ersten Mal bedeutete ihm jemand mehr als das eigene Leben. Also lud sich Herbert Alfred unter dessen Protest auf die Schultern und machte sich gefährlich schwankend und langsam auf den Weg zum Schloß. Sollten sie entdeckt werden, so würde er seinen Alfred verteidigen, so lange er noch einen Finger rühren konnte. Einen Fuß vor den anderen setzend wanderte er den hohen Schnee abseits der Straße. Die Minuten dehnten sich zu einer Ewigkeit, seine Last wurde ihm schwer. "Nur eine kurze Pause." versprach er sich, obwohl er nicht wußte, ob er in der Lage sein würde, den Weg fortzusetzen, wenn er ihn einmal unterbrach.

So fand der Graf die beiden vor. Im Schnee aneinander gekauert, beide blaß und zitternd. Ohne eine Minute zu zögern lud er sich zuerst Herbert auf die Schulter und trug den halb bewußtlosen Vampir zu Koukul, der mit dem Schlitten wartete, bis der Graf auch Alfred geholt hatte. Mit einem lauten Peitschenknallen trieb der Bucklige die erschöpften Pferde eilig zurück zum Schloß, der Graf folgte auf seinem Reittier.

Im Schutz der dicken Mauern angekommen trugen Herr und Diener die beiden zitternden Gestalten in das Badezimmer. Koukul füllte die Wanne mit heißem Wasser, während der Graf Herbert und Alfred entkleidete. Ein wenig erschrocken begutachtete er die nicht mehr blutende aber noch nicht verheilte Wunde auf Alfreds Brust. Es war knapp für den jungen Vampir geworden. Er hob Herbert in die Wanne und ließ ihn vorsichtig in das warme Wasser gleiten. Ein schwaches, dankbares Lächeln belohnte ihn. Dann wandte er sich wieder Alfred zu und begann vorsichtig, die tiefe Wunde zu säubern.

Herbert spürte, wie mit der Wärme auch das Gefühl wieder in seine Glieder zurückkehrte. Er genoß das heiße Wasser, das seinen Körper bedeckte. Dankbarkeit durchströmte ihn. Auch wenn Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und seinem Vater an der Tagesordnung waren, so konnte er sich doch immer auf ihn verlassen. Es war schön geliebt zu werden. Alfred! Er riß die Augen auf und sah sich erschrocken im Bad um. Er sah den Rücken seines Vaters, der sich konzentriert über die tiefe Wunde beugte. Zum Glück hatte Alfred das Bewußtsein verloren. Herbert verzog nitleidig das Gesicht, als der Graf die Wunde säuberte. Wie hatte er so dumm sein können, Alfred in solche Gefahr zu bringen? Er machte sich Vorwürfe. Hier im Schloß hätte er den jungen Wissenschaftler mit 'sicherer' Beute versorgen können, ohne ihn den Gefahren der Welt auszusetzen. Eine kleine Stimme in seinem Kopf meldete sich zwar und sagte ihm, dass es nicht fair sei, Alfred so hilflos und abhängig zu halten, aber Herbert verdrängte sie entschlossen. Besser abhängig als tot! Und wenn du einmal nicht mehr sein solltest? Wenn er alleine überleben muß? Du bist selbstsüchtig und das wird ihm mehr schaden als nutzen. Wenn du ihn wirklich liebst, dann mußt du etwas riskieren... Die Stimme ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Herbert verließ die Badewanne und trocknete sich sorgfältig ab. Dann kniete er sich neben seinen Vater. Alfred war entsetzlich blaß. Bevor seine Wunde nicht ein wenig verheilt war, konnten sie ihn unmöglich in das warme Wasser legen, sie würde sofort wieder beginnen zu bluten. Entschlossen beugte Herbert sich über sein Handgelenk. Eine starke Hand schloß sich darum und hinderte ihn daran eine Ader zu öffnen.

"Nein!" Graf von Krolocks Stimme klang entschlossen. Er schob seinen Sohn sanft zur Seite und begann die Manschette an seinem eigenen Handgelenk aufzuknöpfen. Dann schob er den Ärmel seines Hemdes hoch und reichte seinen Arm Herbert. "Willst du die Ehre?" fragte er mit einem schwachen ironischen Grinsen im Mundwinkel. Seine leichten Worte konnten seine Sorge nicht verbergen.

Herbert griff erstaunt nach dem angebotenen Handgelenk. Es war schon Jahrzehnte her, dass er das Blut seines Vaters (in mehr als einer Welt) gekostet hatte. Beinahe andächtig tastete er mit der Zunge über die Haut, bis er die Ader darunter fand. Dann biß er zu, wobei er sich bemühte so sanft wie möglich zu sein. Der Graf holte nur einmal scharf Luft, sonst blieb er stumm. Herbert trank einige Schlucke, dann trennte er sich zögernd und rutschte beiseite. Angespannt beobachtete er, wie sein Vater das blutende Handgelenk an Alfreds Lippen hob. Alfred erwachte nur zögernd aus seiner tiefen Bewußtlosigkeit, als der Geschmack des Lebenselixiers (???) in sein Bewußtsein vordrang. Herbert sah zufrieden, wie Alfred in gierigen Schlucken trank und seine Wangen langsam wieder ein wenig Farbe annahmen. Die Wunde auf seiner Brust begann langsam zu heilen, auch wenn die Stelle vermutlich noch in einigen Tagen zu erkennen und empfindlich sein würde. Als Graf von Krolock sicher war, dass Alfred genug seines Blutes getrunken hatte, trennte er den jungen Wissenschaftler mit sanfter Gewalt von seinem Handgelenk. Das Gesicht des Grafen sah jetzt ebenfalls blaß und eingefallen aus. Herbert sah ihm dankbar in die Augen.

Graf von Krolock fühlte sich erschöpft. Er erhob sich ungewohnt schwerfällig. Seit langen fühlte er wieder einmal sein Alter. Herbert sah ebenfalls müde aus, aber er wußte, dass sein Sohn es sich um nichts in der Welt nehmen lassen würde, sich um seinen Geliebten zu kümmern. In der Gewissheit, sein möglichstes getan zu haben verließ er den Raum. Er brauchte dringend ein Opfer!

Herbert schloß Alfred erleichtert in die Arme. Sie waren in Sicherheit! Alfred erwiderte seine Umarmung. Wie ein kleines Kind hob Herbert Alfred vom Boden auf und trug ihn zu der Wanne, in der noch immer warmes Wasser wartete. Er stieg selbst in das Wasser, nahm Platz, Alfred auf seinem Schoß und lehnte sich zurück. Alfred schloß entspannt die Augen. Schon nach wenigen Minuten war er auf der Brust des Vampirs eingeschlafen. Herbert massierte ihn sanft, wusch Schmutz aus seinen Haaren und vertrieb die Kälte aus dem Körper des anderen Vampirs. Ein sanfter Biss ins Ohr weckte Alfred. Herbert half dem gestärkten Wissenschaftler aus der Badewanne und rubbelte ihn sorgfältig ab. Jetzt merkte auch er Müdigkeit in sich. Selbst das Brennen des Hungers in seinem Inneren konnte ihn nicht mehr motivieren. Gemeinsam schleppten sich die Beiden in den Sarg, wo sie an einander gekuschelt bald in tiefen Schlaf sanken.

Meister Joachim war der Unglückliche, der dem Grafen begegnete, nachdem dieser das Badezimmer verlassen hatte. "Exzellenz!" rief er ihm nach und beschleunigte seinen Schritt, um neben dem Vampir herzulaufen, der es ziemlich eilig zu haben schien. "Exzellenz, auf ein Wort?" Ergeben nickte der Graf. In Begleitung des Schneiders ging er weiter und verlangsamte seinen Schritt. "Wenn ihr zur Anprobe bereit seid?" Der Mann schien vor Stolz auf seine schnelle Arbeit zu strahlen. Unter normalen Umständen hätte von Krolock einige lobende Worte gefunden, doch nun brachte er nur ein "Gerne" hervor. Der Schneider übernahm die Führung und der Graf folgte ihm in das ihm zugewiesene Arbeitszimmer. Das Kostüm war perfekt. Der Vampir staunte über die Details und Genauigkeit der Umsetzung seiner Vorstellungen. Er versprach dem Menschen eine großzügige Entlohnung für die schnelle Arbeit. Dann schlüpfte er in das Kleidungsstück. Meister Joachim beugte sich vor, um den Sitz zu prüfen, steckte mit ein paar Nadeln noch ein paar Abnäher fest und ging zufrieden um den Grafen herum. Man konnte ihm seinen berechtigten Stolz auf des gefertigte Stück deutlich ansehen. Als er zufrieden erklärte, dass alles in Ordnung war, zog der Graf das Gewand wieder aus. Beinahe fluchtartig verließ er den Raum. Sein Hunger war wie ein brüllendes Tier, verlangend, fordernd.

Er befreite Sarah und Magda aus ihren Zimmern. Beide waren nicht besonders erfreut und gut auf ihn zu sprechen, aber als sie seine Blässe bemerkten vergaßen sie sowohl ihren Groll auf ihn als auch ihre Streitigkeiten untereinander. "Was ist geschehen?" fragten sie wie aus einem Mund. "Alles in Ordnung. Aber ich muß dringend auf die Jagd. Ich bin vor Sonnenaufgang wieder zurück!" versicherte er den beiden und ließ die erstaunten Frauen stehen.

Magda sah verdutzt zu Sarah als der Graf eilig verschwand. Sie konnte sehen, dass die andere Frau sich auch große Sorgen machte. "Was könnte geschehen sein?" überlegte sie laut "Meinst du es ist etwas ... mit ... Herbert?" Sie wagte nicht daran zu denken, was geschehen mochte, wenn der Sohn des Grafen den örtlichen Bauern zum Opfer gefallen sein sollte. Sarah zuckte mit den Schultern "Ich weiß es nicht, ich hoffe nicht." Gemeinsam wanderten die beiden in die Bibliothek, um auf die Rückkehr des Grafen zu warten. Magda hatte ein schlechtes Gewissen wegen ihres Streits mit Herbert. Sie beschloß, die Vorbereitungen auch ohne eine förmliche Entschuldigung wieder aufzunehmen. Das würde ihre Gedanken wenigsten ablenken. Außerdem konnte sie so die Befürchtung, dass Herbert ein Unglück geschehen war verdrängen.

Als der Graf kurz vor Sonnenaufgang gestärkt zurückkehrte fand er die beiden Frauen angeregt plaudernd und planend in der Bibliothek vor, wo das Feuer beinahe vollständig herunter gebrannt war. Erschöpft von den ereignissen der Nacht suchten alle Vampire ihre Särge auf. Alle? Nein, fast alle! Ein einzelner dicker Vampir wurde vom Nahen der Sonne auf der Lauer im Zimmer des Schneiders überrascht. Hastig wich er in den großen Kleiderschrank zurück und schloß die Tür. Er versteckte sich hinter einigen Mänteln und hoffte, dass er am nächsten Abend wieder unverletzt erwachen würde.