Der Drachenkrieg Folge 8 – Das Feuer eines Drachen

Ist es nur ein Traum oder ist es Wirklichkeit? Als wir den Katzenmann verhören, der mich angegriffen hat, verrät er uns, dass seine Herrin die Menschen versklaven will. In Merle sieht er zunächst eine Verräterin ihres Volkes, verrät ihr aber dennoch seinen Namen. Währenddessen melden die beiden Botschafter ihrer Königin ihre Erfolge: Zaibach und Asturia werden den Krieg beginnen, sobald Dryden und Millerna aus dem Weg geräumt sind. Der Hass der Königin scheint von dem Schmerz herzurühren, ihre Schwester verloren zu haben. Zu allem Überfluss glaubt Van nun aufgrund eines Missverständnisses, dass ich schwanger bin und wird von einer Draconierin verführt...

„Merle?" Hitomi lugte zaghaft ins Zimmer des Katzenmädchens. Immerhin war es noch einigermaßen früh am Morgen und das Katzenmädchen war nicht unbedingt ein fanatischer Frühaufsteher. „Bist du da?" Das Zimmer schien leer zu sein. Das kleine Bett war unberührt und auch sonst deutete nichts darauf hin, dass ihre Freundin überhaupt die Nacht im Zimmer verbracht, geschweige denn noch hier war.

Hitomi wollte gerade die Tür wieder schließen, als sie eine verträumte Stimme hörte: „Was ist los?"

Stirnrunzelnd sah Hitomi wieder hinein. Noch immer war nichts zu sehen. Da fiel ihr ein, wie ihr erster Kontakt mit Merle stattgefunden hatte und sie ging zum Balkon. Tatsächlich, wenn man ein bisschen näher herankam, konnte man das Katzenmädchen, welches anscheinend gerade sonnenbadete, auf dem Dach über ihrem Zimmer sehen. Allerdings blickte sie Hitomi mit eher mäßigem Interesse an, was den Kreis derer, an die sie vielleicht dachte, stark einschränkte.

„Ah, Hitomi. Ist was?"

„Ich weiß nicht, wo Van ist, Merle", teilte Hitomi ihr mit. „Er wollte sich heute eigentlich mit mir zum Frühstück treffen, aber er ist nicht gekommen. Im Thronsaal habe ich auch schon nachgesehen, aber da war er auch nicht. Weißt du, wo er sein könnte?"

„Komisch", stimmte Merle zu, setzte sich auf und streckte sich. „Normalerweise würde er niemals eine Verabredung versäumen – schon gar keine mit dir." Ein kurzes Grinsen zeigte sich auf ihren Lippen. „Hat er dir keine Nachricht zukommen lassen?"

„Nicht dass ich wüsste", entgegnete Hitomi, die langsam ungeduldig wurde. „Bitte hilf mir, ihn zu suchen, Merle. Ich kenne mich in Farnelia nicht so gut aus wie du."

„Schon gut", brummte diese und glitt mit einem eleganten Schwung wieder auf den Balkon zurück. „Na schön, wo könnte Majestät um diese Zeit sein?", überlegte sie. „Ich glaube, wir sollten mal zu seinen Beratern schauen, vielleicht ist ja eine dieser Schnarchnasen ja ausnahmsweise da."

Damit ging sie auf alle viere und huschte aus dem Zimmer. Hitomi nahm, so gut es ging, die Verfolgung auf, allerdings behinderte sie das lange Kleid doch erheblich, ansonsten wäre es kein Problem für sie gewesen, Merle einzuholen. Sie nahm sich ganz fest vor, Van um einige Hosen zu bitten... oder um Miniröcke. So schön Serenas Sachen auch waren, so unhandlich waren sie auch, wenn es ums Laufen ging.

Schließlich kamen sie aber bei ihrem Ziel an: einem ziemlich großen Raum, in dem neben einigen Kleinigkeiten auch ein riesiger Tisch und ein gutes Dutzend bequemer Stühle standen. Allerdings war der Raum bis auf einen einzigen Gast leer, einen älteren Mann, der den Eindruck machte, als würde er auf jemanden warten. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen, als Merle hereinschritt.

„Lady Merle", begrüßte er das Katzenmädchen. „Verzeiht bitte, dass ich mich nicht vor Euch verbeuge, aber mein Arzt hat mir geraten, meinen Fuß etwas zu schonen. Kann es sein, dass Ihr in den letzten Tagen erstaunlich oft nicht in der Nähe des Königs wart?"

„Kann es sein, dass Ihr Eure Nase schon wieder zu tief in die Angelegenheiten anderer Personen steckt, Berater Crine?", fragte Merle trocken.

„Verzeiht, aber das bringt mein Beruf mit sich", entschuldigte sich Vans Berater. „Ist diese junge Dame, die da hinter Euch in den Raum kommt, etwa...?"

„Ja, das ist Hitomi, die Seherin vom Mond der Illusionen", antwortete Merle und legte einen Arm um Hitomis Schultern. „Sag schön „Guten Tag", Hitomi!"

„Sehr witzig!", antwortete diese bissig. Sie verbeugte sich vor dem alten Herrn. „Es wäre mir angenehm, wenn Ihr mich mit Hitomi ansprechen würdet, Berater. Der Titel „Seherin" weckt in mir immer unangenehme Erinnerungen."

„Selbstverständlich", meinte er. „Es ist mir eine Ehre, Euch endlich kennen zu lernen, Hitomi. Ihr glaubt nicht, wie sehr uns König Van in den letzten Jahren mit den Geschichten über Euch auf die Nerven gegangen ist." Er zeigte ein ehrliches Grinsen. „Um ehrlich zu sein, wir waren alle froh, als wir hörten, dass Ihr endlich wieder nach Gaia zurückgekommen seid."

„So redet Ihr also über Euren König, wenn er grade nicht da ist, Crine?", fragte Merle gespielt streng. „Schämt Ihr Euch denn gar nicht?"

„Wieso denn? König Van ist doch im Gegenteil recht angetan davon, wenn man ihm sagt, was einem wirklich durch den Kopf geht."

Merle schüttelte den Kopf und sah Hitomi an. „Siehst du jetzt, von welch undankbaren Leuten Van umgeben ist? Es ist furchtbar!"

„Könnt Ihr uns sagen, wo Van momentan ist?", fragte diese schnell, bevor die beiden noch weiter in ihr Streitgespräch versinken konnten. „Wir waren heute morgen zum Frühstück verabredet, aber er ist nicht gekommen."

„Tatsächlich?" Crine wirkte überrascht. „Nun, er wirkte ziemlich zielstrebig, als er heute früh aus dem Palast ging. Ich war selbst verwundert, ihn so früh anzutreffen. Er sagte, er wolle diejenigen, die gestern nicht gegen ihn kämpfen konnten, aufsuchen. Auch ihnen stehe ihre Chance noch frei." Er zögerte kurz. „Er schien wegen irgendetwas... wütend zu sein."

Merle sah Hitomi wiederum an, aber diese zuckte mit den Schultern. Sie wusste es auch nicht.

„Hat er denn keine Nachricht für Hitomi hinterlassen?", fragte Merle. „Das wird ja immer komischer. Los, Hitomi, gehen wir! Wir werden ihre Majestät jetzt aufsuchen!"

Wieder raste das Katzenmädchen los, noch bevor Hitomi eine weitere Verbeugung vor Crine machen konnte. Merle selbst schien solche Dinge für unter ihrer Würde zu halten. Diesmal führte sie Hitomi quer durch den halben Palast, über Stufen, an überraschtem Personal vorbei und schließlich durch das große Eingangstor. Dort war Van tatsächlich zu sehen, mit einigen Jungen, denen gar nicht mehr wohl zu sein schien.

Verständlich, wenn man anmerkte, dass Van gerade mit einem von ihnen kämpfte. Hitomi erschrak, als sie sah, dass in seinen Bewegungen echte Wut lag. Sein Gesicht war zu einer Fratze verzogen, wo normalerweise nur der Ernst tiefer Konzentration sein sollte. Seine Bewegungen waren schnell, seine Schläge hart und er griff ununterbrochen an. Sein Gegner hatte den verzweifelten Ausdruck eines Kämpfers, der schon seit dem ersten Schlag wusste, dass er geschlagen war. Er verteidigte sich lediglich, aber selbst das würde er nicht mehr lange durchhalten können.

Schlag von oben. Parade. Anschließende Drehung. Harter Hieb von der rechten Seite. Schritt zurück. Stich nach vorn. Nachsetzen.

„Er ist toll", rief Merle begeistert. „So gut war er schon lang nicht mehr."

„Er wird ihn umbringen!", fügte Hitomi entsetzt dazu. „Aber wieso?"

Bevor sie allerdings dazu kommen konnte, etwas zu rufen, um den Tobenden aufzuhalten, kam eine Wache in den Hof gerannt. Sie war kalkweiß vor Entsetzen, aber nicht wegen dem Kampf.

„Majestät!", rief der Mann. Als Van innehielt und sich versichert hatte, dass sein Gegner auch nicht weiter angreifen würde – nicht, dass er es gekonnt hätte – sah er den Wächter unwirsch an. „Wir haben eine Warnung von den Wolfmenschen bekommen! Ein... ein Drache ist auf dem Weg nach Farnelia, Majestät!"

„Ein Drache? Was soll der Unsinn?", fragte Van aggressiv. „Hier gibt es schon seit Jahren keine Drachen mehr, die Farnelia auch nur auf einige Meilen nahegekommen wären!"

„Ich weiß, Majestät", entgegnete die Wache. „Aber man kann tatsächlich eine Schneise sehen, die sich durch den Wald zieht. Der Drache wird bald hier sein!"

„Van!", rief Merle angstvoll und lief auf den König zu. „Du musst uns retten! Du hast schon einmal einen Drachen getötet!"

Jetzt erst, als er in ihre Richtung blickte, sah Van das Katzenmädchen – und damit auch Hitomi, die einige Meter weiter hinten stand. Sein Blick versetzte dem Mädchen einen Schock. Die Vision!, schoss es ihr durch den Kopf. Genau wie in der Vision! Sein Blick war kalt und distanziert. Einige Sekunden, in denen Hitomi richtige Angst vor ihm hatte, sah er sie an, dann wandte er sich an Merle.

„Keine Angst", sagte er und streichelte das Katzenmädchen, das sich wie früher an seine Beine gehängt hatte, abwesend am Kopf. „Hier gibt es doch einige Leute, die unbedingt ihre Stärke im Kampf beweisen wollten." Sein Blick wanderte zu den jungen Leuten, die ihn mit mehr als nur ängstlichen Gesichtern ansahen. „Nun, jetzt habt ihr die Gelegenheit dazu, oder? Geht und besiegt den Drachen, dann könnt ihr euch echte Helden schimpfen."

„Äh, Majestät", wandte einer der Junge ein. „Wir..."

„Was?" Vans Stimme war so schneidend wie eine Säge. „Habt ihr Angst?" Er lachte böse. „Aber ihr hattet keine Angst, als ihr meine Berater und mich angreifen wolltet, oder? Wächter!", befahl er dem Mann, der seinen König mit erstaunter Miene musterte. „Bring diesen Männern alle Waffen, die sie haben wollen – und dann bring sie vor die Stadtmauer! Sie sollen gegen den Drachen kämpfen und Farnelia retten!"

„Aber Van!", schrie Merle protestierend. Nun leuchtete auch in ihren großen Augen die Angst. „Sie haben nie gegen einen Drachen gekämpft – wahrscheinlich nicht einmal gegen einen guten menschlichen Gegner! Sie werden sterben!"

„Sie hat Recht, Van!", wandte auch Hitomi ein. Die Endgültigkeit von Vans Befehl hatte ihre Angst zurückgedrängt. „Du schickst sie in den sicheren Tod! Willst du Schuld daran sein?"

Wieder traf sie sein kalter Blick, aber diesmal entdeckte sie auch eine Spur von Wut darin. Aber warum? „Sie haben gegen ihren König rebelliert! Jetzt sollen sie diese Tat sühnen! Das ist mein königlicher Befehl!" Er warf den Männern, die den Ereignishorizont der Panik schon weit überflogen hatten und nur noch von Vans Gegenwart zurückgehalten wurden, einen verächtlichen Blick zu. „Und jene, die nicht kämpfen wollen – nun, die dürfen gerne gegen mich antreten. In einem Duell auf Leben und Tod."

„Majestät?", wandte sich nun die Wache an den König. „Dieser Drache scheint sehr groß zu sein. Größer als die früheren Ungeheuer. Ich weiß nicht, ob diese Kinder ihn besiegen können. Mit Verlaub, ich glaube, Ihr solltet Escaflowne wiederbeleben."

„Ich habe dich aber nicht um Rat gefragt!", entgegnete Van. „Bring unsere Kämpfer jetzt zur Waffenkammer."

„Van!", schrie Merle und umklammerte sein Bein so fest sie konnte. „Was tust du?"

„Lass mich los, Merle. Ich gehe jetzt in den Palast. Und ich will erst wieder gestört werden, wenn der Drache entweder besiegt ist oder die Kämpfer geschlagen sind." Damit befreite er sich aus Merles Umklammerung und schritt auf den Palast zu. Sein Blick traf Hitomi ein weiteres Mal – und sie floh davor.

Allen, schoss es ihr durch den Kopf. Sie musste Allen finden! Vielleicht konnte er Van wieder zur Vernunft bringen. Sie rannte so schnell sie konnte über die Treppen und Korridore in die Zimmerflut, in der Allen wohnte. Ihr war egal, dass sie einige Male beinahe stolperte und hinfiel.

„Allen!", schrie sie aus vollem Hals. „Allen! Wach auf! Ein Drache kommt auf Farnelia zu!"

Sie sah, wie einige Bedienstete, die das gehört hatten, die Dinge fallen ließen, die sie gerade trugen und ihr betroffen nachsahen, aber sie kümmerte sich darum. Schnurstracks hielt sie auf Allens Tür zu. Bevor sie allerdings mit den Fäusten daran hämmern konnte, wurde diese auch schon aufgerissen. Allen stand halb angezogen im Türrahmen und sah sie mit einem Ausdruck der Verwunderung an.

„Hitomi? Was ist los? Was hast du denn?"

„Allen", rief sie und ließ sich in seine helfenden Hände fallen. Sie war tatsächlich etwas außer Atem. „Ein Drache! Ein Drache ist auf dem Weg nach Farnelia! Und Van hat die Jungen, die ihn beleidigt haben, ausgeschickt, um ihn zu töten!"

„Diese Kinder?" Allens Gesicht wirkte bestürzt. „Die sind doch kaum Manns genug, um gegen ihn auch nur fünf Minuten zu bestehen. Bist du dir sicher, Hitomi?"

„Ja, ich habe es selbst gehört!" Sie packte seine Arme. „Allen, du musst ihn zur Vernunft bringen! Die Wache hat gesagt, dass dieser Drache noch größer ist als die normalen! Vermutlich kann ihn nur ein Guymelef besiegen!"

„Hitomi, geh sofort auf dein Zimmer!", trug ihr der Ritter ernst auf. „Du brauchst jetzt unbedingt Ruhe. Ich werde sofort mit Van reden. Geh!"

Er ließ die aufgelöste Hitomi draußen stehen, schloss die Tür und fuhr fort damit, sich anzuziehen. Als er die Weste anlegte, fragte er sich, was Van wohl geritten hatte, diese Befehle zu geben. Er sorgte sich um sein Volk wie kaum ein anderer Monarch. Wieso sollte er nun halbe Kinder in den sicheren Tod schicken? Hastig zog er die weißen Stiefel an und öffnete die Tür. Hitomi stand noch immer dort und wirkte verängstigt.

„Komm, ich bringe dich zu deinem Zimmer", schlug er vor und legte den Arm um sie. „Und dabei erzählst du mir noch einmal ganz genau, was eigentlich passiert ist."

Merle war verwirrt. So hatte sich Van noch nie verhalten, nicht mal dann, wenn er jemanden verurteilen musste. Diese kalte, distanzierte Art passte nicht zu ihm, der sonst eigentlich immer nahe am Volk war, wie man so schön sagte. Es hatte sich angehört, als wäre es ihm völlig egal, ob die Männer überlebten oder nicht... aber das konnte doch nicht sein! Oder?

Sie stellte fest, dass sie Angst vor dem Mann hatte, mit dem sie fast ihre gesamte Kindheit geteilt hatte. Das war nicht mehr der Van, der ihr damals seine Flügel gezeigt hatte. Auch nicht der, der nachts zum Mond der Illusionen hochsah. Das war der Van, der voller Hass gegen Dilandau gekämpft hatte. Aber diesmal schien sich sein Hass gegen sein eigenes Volk zu richten. Nein, das war kein Hass gewesen. Gleichgültigkeit, ja, das war es. Er hatte so geklungen, als wäre ihm völlig egal, was passierte. Aber was konnte dazu geführt haben.

„Majestät?", fragte sie schüchtern, während sie hinter ihm herging. Beinahe erwartete sie, dass er sie angriff. All ihre Sinne waren bis zum Zerreißen angespannt.

„Was ist?" Grauenvolle Teilnahmslosigkeit lag in der Stimme. Er drehte sich noch nicht einmal zu ihr um.

„Was... was wirst du jetzt tun?"

„Was wohl? Ich werde abwarten, wie sich diese Schafsköpfe schlagen."

„Aber sie werden sterben!" Merle schrie beinahe. Sie war fassungslos. „Bedeutet dir das denn gar nichts?"

„Sie bekommen, was sie verdient haben", behauptete Van und betrat den Thronsaal. Mit ein paar Schritten hatte er ihn durchquert und setzte sich auf seinen Thron. Seine Miene war düster, als er Merle musterte. „Ich darf Rebellion nicht durchgehen lassen."

„Sie sind dumme Kinder, Van!" Merle hatte Tränen in den Augen. Was war mit ihrem liebsten Freund passiert? „Nur wegen ihrer Sturheit darfst du sie doch nicht zum Tode verurteilen!"

„Ach, darf ich nicht?" Seine Stimme hatte nun etwas Schneidendes und jetzt sah er Merle direkt an. Unterdrückte Wut lag darin, aber nicht auf sie. Wer hatte ihn nur so sehr gereizt? Hitomi? Nein, das war undenkbar. Das würde sie nicht tun. Allen? Unsinn! Van verstand sich prächtig mit dem Ritter, schon deshalb, weil er keinen anderen würdigen Trainingspartner hatte. „Ich bin der König, Merle! Ich darf sehr wohl über sie richten!"

Merle ging langsam auf den Thron zu und setzte sich vor ihm hin. Die ganze Zeit behielt sie Vans Gesicht dabei im Auge. Darauf regte sich nichts. Ihre Augen begannen wieder zu tränen. „Wer hat dich verletzt, Van?", fragte sie, so sanft sie konnte. „Was macht dir so zu schaffen, dass du versuchst es zu überspielen, indem du anderen wehtust?"

„Wie kommst du darauf, dass mir jemand wehgetan hat?", fragte Van arrogant, aber dem Katzenmädchen war sein gehetzter Blick natürlich nicht entgangen.

„Ich bin mit dir zusammen aufgewachsen, Van", erinnerte sie ihn. „Ich weiß, was du fühlst. Und momentan leidest du große Schmerzen."

Einige Momente lang schien es, als wollte er widersprechen, aber dann sah er lediglich weg. „Du hast Recht", gab er zu. „Ich bin verletzt. Aber diese Verletzung wird nie wieder heilen. Also muss ich mich ablenken." Er überlegte ein paar Sekunden, dann sah er Merle mit einem unheilverkündenden Blick an. „Was würdest du davon halten, wenn wir hinuntergehen und ein wenig mit unserem Gefangenen plaudern, Merle?", fragte er. „Ich glaube, in dieser Stimmung kann ich ihm alles entlocken, was ich will. Dann wäre sie wenigstens zu etwas nütze."

Merle riss vor Schreck die Augen auf. Van wollte... Llorin foltern? Das konnte er doch nicht ernst meinen! Aber ein Blick in seine Augen überzeugte sie vom Gegenteil. Was auch immer ihrem Seelenbruder zugestoßen war... im Moment würde er ohne zu zögern wieder in Zaibach einfallen, wenn ihm diese Armee zum zweiten Mal angeboten würde, einfach um des Krieges willen.

„Nein!", rief sie und umklammerte sein linkes Bein. Sie sah mit flehenden Augen zu ihm hoch. „Bitte, Van, tu das nicht!"

„Warum denn nicht?", fragte er misstrauisch. „Dir scheint sehr viel an diesem Typen zu liegen. Ist dir klar, dass er unser Feind ist?"

Ja, warum lag ihr eigentlich so viel daran, jemandem das Leben zu retten, der Hitomi hatte töten wollen? Jemandem, der sie eine Verräterin geschimpft hatte? Und dem es anscheinend gleichgültig war, ob seine Herrin Länder unterjochte und Menschen tötete? Aber ganz deutlich sah sie seinen Blick vor sich, als er sie im Kerker noch einmal zurückgerufen hatte. Sie hatte geglaubt, beginnendes Verständnis darin lesen zu können. Verständnis dafür, dass Merle von Menschen aufgezogen worden war.

„Er ist der einzige meines Volkes, mit dem ich reden könnte, Van", erklärte sie, obwohl sie tief im Herzen wusste, dass das nicht der wichtigste Grund war. „Ich würde gerne mehr über die Katzenmenschen erfahren, auch wenn ich gerne in Farnelia lebe. Würdest du nicht genau so handeln, wenn du bei meinem Volk als einziger Mensch leben würdest?"

Van sah sie misstrauisch an, aber er widersprach ihr nicht, also argumentierte sie weiter: „Außerdem scheint dieser Mann ein Krieger zu sein, Van. Wie du. Würdest du jemandem Geheimnisse verraten, selbst unter Folter? Natürlich nicht, nicht wahr? Vermutlich kann auch er widerstehen."

„Das kommt darauf an, wie effektiv die Methode ist", entgegnete Van kalt, aber er lächelte ohne Humor. „Aber nehmen wir mal an, ich folge deinem Rat. Wie sollen wir dann aus diesem Sturschädel herauskriegen, was wir wissen wollen?"

Diese Frage hatte Merle gefürchtet. Sie biss sich auf die Lippen. Aber sie hatte keine Wahl. Sie ließ Vans Fuß los und stand auf. Das Katzenmädchen versucht, selbstsicher zu erscheinen. Das Leben Llorins mochte davon abhängen.

„Lass es mich versuchen, Van", bat sie. „Ich möchte mit ihm sprechen. Allein."

Vans Augenbraue zuckte hoch. „Und wieso glaubst du, dass er dir etwas anvertraut? Er schien mir das letzte Mal nicht sehr gut auf dich zu sprechen zu sein, Merle."

„Ich glaube, dass deine und Allens Worte Eindruck auf ihn gemacht haben", behauptete Merle, obwohl sie sich dessen gar nicht so sicher war. „Und ich denke, dass er einem Angehörigen seiner Rasse mehr anvertrauen wird als anderen Leuten. Bitte, Van, lass es mich versuchen!"

Einige Augenblicke musterte Van sie, dann sah er betont uninteressiert zur Wand, während sie angespannt vor ihm stehen blieb. Bitte, betete sie zu allen Göttern, lasst ihn zustimmen, bevor er sich unglücklich macht.

„Mach doch, was du willst", gab Van bekannt. „Ich sollte ohnehin hier bleiben, falls man mich da draußen noch braucht. Aber ich denke nicht, dass du Erfolg haben wirst."

Da war sich Merle auch ganz und gar nicht sicher, doch das hätte sie um nichts auf Gaia zugegeben. Stattdessen wandte sie sich auf der Stelle um und rannte aus dem Raum in Richtung Kerker. Deswegen bekam sie auch nicht mit, dass Allen ziemlich aufgebracht den Thronsaal betrat.

„Van!", rief er mit klarer Stimme. „Ist es wahr, was man mir erzählt hat? Dass du diese Halbstarken gegen einen ausgewachsenen Drachen ausgeschickt hast?"

„Ja", entgegnete dieser betont gleichmütig. „Hast du was dagegen?"

„Ob ich was dagegen habe?", schnappte der Ritter, marschierte auf den Thron zu und rammte seine Faust gegen die Lehne, direkt neben Vans Kopf. Der junge Mann ließ sich jedoch nichts anmerken. „Das ist Mord, Van! Diese Bengel haben vom Kampf wahrscheinlich so viel Ahnung, dass sie gerade das spitze Ende ihres Schwertes finden!"

„Dann sollen sie es benutzen!", rief Van aufgebracht. „Haltet mir nicht ständig vor, was ich zu tun habe! Ich bin der König von Farnelia und ich entscheide hier!"

Van richtete sich auf und musterte Van mit einem Blick, der die pure Verachtung ausdrückte. „Und wegen einer Laune von dir sollen sie sterben, wie?", fragte er mit tödlicher Ruhe. „Ich hätte wirklich gedacht, dass aus dir mal ein guter Herrscher werden würde, aber ich habe mich wohl geirrt. Ich gehe jetzt und helfen diesen armen Narren. Und wenn du dich noch einmal vor deinem Volk zeigen willst, würde ich dir raten, dasselbe zu tun!"

Mit diesen Worten wandte sich der Ritter ab und verließ im Eilschritt den Raum. Van starrte ihm hinterher und die Worte seines Freundes kreisten ihm im Kopf herum, obwohl er sie mit aller Macht zu verdrängen suchte. Guter Herrscher... habe mich geirrt... nach einigen Sekunden knirschte er mit den Zähnen. Er musste wohl oder übel eingestehen, dass Allen Recht hatte, ebenso wie Merle. Sein Zorn auf Hitomi durfte ihn nicht dazu bringen, sein Volk zu tyrannisieren.

Seufzend erhob sich Van Farnel aus dem Thron und machte sich auf den Weg in den Tempel von Farnelia. Zum Glück hatte er gestern in weiser Voraussicht Escaflowne dort hingebracht, nicht zum Grabhügel. Jetzt wurde der Schutzgott von Farnelia gebraucht.

Llorin wollte lediglich einen kurzen Blick auf die Tür werfen, die sich langsam öffnete. Jedoch hob er die Augenbrauen, als er erkannte, wer ihn da besuchen wollte. Das Katzenmädchen, welches bei den Menschen hier lebte, ging herein und schloss die Tür wieder. Sie wirkte ziemlich unsicher. Nun, wer wäre das nicht? Immerhin war er ihr Feind, auch wenn sie demselben Volk angehörten.

Sie wirkte bei diesem zweiten Besuch etwas älter auf ihn. Beim ersten hatte sie sich anfangs zurückgehalten und dann von der Seherin trösten lassen wie ein kleines Kind. Nun aber sah er, dass sie das Stadium der Frau bereits erreicht hatte, wenn auch erst seit kurzem. Dennoch wirkte sie in seiner Nähe scheu wie ein Reh. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Soll das ein Verhör oder eine Schweigestunde werden?", fragte er spöttisch. Er runzelte die Stirn, als sie zusammenzuckte. Selbst dieser milde Spott schien sie zu verletzen. Warum? „Was ist? Hast du etwa noch nie ein Mitglied deiner Rasse gesehen?"

„Doch", gab sie zögernd zur Antwort und ließ sich auf dem Boden nieder, die schlanken Glieder eng angezogen. Ihre großen Augen waren auf ihn gerichtet. Etwas an ihrem Blick irritierte ihn, aber er wusste nicht, was. „Zwei. Aber sie kämpften auf der Seite der Zaibacher im Großen Krieg."

„Tatsächlich?" Llorin war etwas überrascht, ließ es sich aber nicht anmerken. „Sie müssen auch Waisenkinder gewesen sein. Keiner von uns würde sich sonst der Gnade der Menschen anvertrauen."

„Ihre Eltern wurden getötet, so weit ich weiß", teilte Merle ihm mit. „Der Bruder von König Van rettete sie vor einem wütenden Mob. Zum Dank dienten sie ihm bis in den Tod. Ihre Namen waren Narya und Eriya."

„Ich kenne sie nicht", entgegnete er. Er betrachtete das junge Mädchen, das mit so großem Ernst sprach, mit undeutbarem Blick. „Wurdest du auch gerettet?"

„Ja", gab sie zu und senkte den Kopf. Sie schloss die Augen, als die Bilder sie übermannten, die sie auch heute noch manchmal in ihren Träumen heimsuchten. Die hasserfüllten Gesichter der Menschen, die ihre Eltern töteten. Ihre Mutter, die sie, noch ein kleines Kind, in den Wald schickte. Die Wolfsmenschen, die sie fanden und nach Farnelia brachten. Weitere wütende Gesichter, die verlangten, die Bestie zu töten. Vans Eltern, die sie entdeckten und freikauften. Und schließlich Van, ein kleiner Junge, der kaum Freunde hatte, weil er die Bürde eines Königssohnes trug. Und der ihr Herz entflammte. „König Gaou und Königin Vari haben mich Wolfsmenschen abgekauft. Dann brachten sie mich mit Van zusammen. Sie waren die ersten, die nach dem Mord an meinen Eltern um mich besorgt waren."

„Nun, Lady Vari war auch eine Draconierin", wies Llorin hin und drehte den Kopf zur Wand. Etwas an diesem jungen Mädchen zog ihn an, und das war nicht nur das Mitleid? Ob es ihre Unerfahrenheit war? Ihre Verletzlichkeit? Vielleicht. Aber er war Krieger. Mit solchen Gefühlen durfte er sich im Moment nicht belasten. „Sie kannte den Wert anderer Wesen als der Menschen."

Sie sah aus, als wollte sie noch etwas einwerfen, aber dann ließ sie es bleiben. „Weißt du eigentlich, dass ein Drache auf dem Weg nach Farnelia ist?", fragte sie ihn.

„Nein. Ich bin irgendwie nicht in der richtigen Position, um wichtige Infos zu bekommen", antwortete er. Dennoch wirkte er interessiert. „Welcher Drache?"

Merle legte den Kopf schief. „Welcher?", vergewisserte sie sich. „Heißt das etwa, es gibt mehrere?"

Llorin fluchte. Dann schien er zu überlegen. „Ja. Nun, da du mich schon dazu gebracht hast, das zuzugeben: Es gibt noch viele Drachen auf Gaia. Und ich habe einige von ihnen trainiert."

„Könnte dieser vielleicht einer von deinen sein?", fragte Merle. „Vielleicht sucht er dich ja."

„Ein Drache ist kein Hund!", stellte Llorin schmunzelnd fest. „Aber es könnte Il-jesh sein... unser Band ist stark genug, dass er mich vielleicht finden könnte."

„Euer Band?", fragte Merle nach und stützte mit den Händen ihren Kopf. „Heißt das, ihr seid verschmolzen wie Van mit Escaflowne?"

Wieder fluchte er und diesmal warf er Merle einen bösen Blick zu. „Sprich nie wieder von diesen Maschinen!", befahl er. „Sie sind schuld, dass die wahren Götter untergingen! Die Herrin wird dafür sorgen, dass jede einzelne von ihnen zerstört wird!"

„Das haben die Zaibacher auch von ihren Feinden gesagt", antwortete Merle trocken. „Und Van ist ihnen doch immer wieder entwischt."

„Du bist ganz schön frech dafür, dass du mir Informationen entlocken sollst", meinte Llorin. Allerdings war seine Stimme sanfter als vorhin. „Egal. Meine Herrin wird siegen, du wirst es miterleben. Und dann wirst du vor die Wahl gestellt werden, Mädchen: Entweder du wechselst auf unsere Seite... oder du gehst mit deinen Menschenfreunden unter."

„Wenn es tatsächlich so weit kommen sollte, was ich nicht glaube, dann muss ich eben sterben", verkündete Merle und stand auf. „Ich werde Van nicht verlassen und er wird Farnelia nicht noch einmal aufgeben. Er ist die einzige Familie, die ich noch habe. Wenn es nötig wird, dann werde ich ihn sogar gegen mein eigenes Volk schützen!" Ihre Augen funkelten im matten Licht der Gefängniszelle und ihr Gesicht war eine Maske der Entschlossenheit.

„Ich wäre enttäuscht, wenn du das nicht tun würdest", gab Llorin zu – und er lächelte sogar. „Und ich hoffe, dass nicht ich es sein muss, der euch töten muss. Ich glaube, es würde mir sehr schwer fallen."

Merle wusste nicht, ob sie verlegen oder zornig werden sollte. Darum entschied sie sich für die dritte Möglichkeit: Sie schnaubte. „Für meinen Geschmack redest du etwas zu viel vom Tod", sagte sie abfällig. „Hast du noch nie was davon gehört, dass eine solche Angst auf Gaia durchaus Wirklichkeit werden kann? Immerhin ist es der Planet der Wünsche."

„Ich habe keine Angst!", begehrte Llorin auf.

Merle sah ihn prüfend an. „Doch, die hast du. Jeder Mensch hat Angst. Früher dachte ich, Männer wie Van und Allen würden vor nichts Angst haben, aber ich habe mich geirrt. Van ist über dem Gedanken, Hitomi zu verlieren, fast zusammengebrochen und Allen fürchtet sich, sich noch einmal unglücklich zu verlieben. Und du", fuhr sie fort und betrachtete ihn von oben bis unten. „Ich glaube, du hast Angst davor, dass deine Herrin verlieren könnte."

„Sie wird, nein, sie kann nicht verlieren!", rief Llorin wütend aus, aber eben dieser Verlust seiner Selbstbeherrschung zeigte Merle, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Sie lächelte nur und er schien zu begreifen, dass er sich verraten hatte, denn er starrte demonstrativ an die Wand. Merle wartete noch eine Minute, ob er noch etwas sagen wollte, aber als nichts mehr kam, wandte sie sich wieder der Tür zu.

„Wenn du über etwas reden willst", empfahl sie ihm, „dann schick nach mir. König Van ist im Moment etwas zu gereizt für eine sinnvolle Diskussion." Sie öffnete die schwere Tür und wollte gerade hinaustreten, als er sie ein weiteres Mal zurückhielt.

„Merle!"

Ihr stockte der Atem, als er sie das erste Mal bei ihrem Namen nannte. Sie fühlte leichtes Herzklopfen, als sie sich zu ihm umdrehte, aber er sah sie wie fast immer mit einem Blick an, der nichts verriet. Einige Sekunden lang blickten sie sich nur an.

„Wer hat dir deinen Namen gegeben?", fragte er.

„Meine Eltern", antwortete Merle etwas verwirrt. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Bevor sie gestorben sind."

„Es ist ein... schöner Name", gab er zu. „Weißt du, dass er im Atlantischen „Anmut" bedeutet? Ich finde, er passt."

Während sich die Tür schloss, starrte Merle noch immer in diese Richtung. Erst, als eine der Wachen mit ihrem Handschuh vor ihrem Gesicht fuchtelte, kam sie wieder zu sich und ging langsam die Treppe hinauf. Ihre Knie waren etwas wackelig. Vom langen Sitzen, beruhigte sie sich.

Allen stockte der Atem, als er auf der Mauer ankam, die Farnelia vor den Gefahren dieser Welt schützen sollte. Für DIESEN Schrecken war sie entschieden zu klein, registrierte er, während er das Ungeheuer betrachtete, welches nun schon beinahe bei den Mauern angekommen war. Es hatte braune Schuppen und war mindestens anderthalb mal so groß wie der Drache, den er selbst auf der Erde erlegt hatte. Er musste schon voll ausgewachsen sein. Hoffte Allen jedenfalls.

Zumindest schien es kein Flügeldrache zu sein, ansonsten wäre er wohl schon längst in Farnelia gelandet. Dennoch würden weder die Mauer noch die zitternden Gestalten, die vor ihr standen und ihrem Verderben entgegenstarrten, ihn sehr lange aufhalten können. Sie mussten sofort seinen Schwachpunkt finden, oder sie alle waren verloren! Sein eigener Guymelef, Sherezade, war in Asturia zurückgeblieben und Farnelia besaß außer Escaflowne nur die noch nicht reparierten Schrotthaufen, die nach der Zerstörung der Stadt übriggeblieben waren. Bisher hatte sich noch niemand die Mühe gemacht, Hand an sie zu legen. Vermutlich konnte man das Monster ohne Guymelef gar nicht besiegen, da seine Haut schon zu dick war, selbst an der ungepanzerten Bauchseite.

Dennoch mussten sie es versuchen. Allen zog sein Schwert und sprang in den Hof hinunter.

„Öffnet das Tor!", befahl er den Wächtern, denen auf ihrem Posten ebenfalls nicht wohl zu sein schien. „Ich werde den Männern draußen helfen."

„Aber König Van hat..."

„Van kann nicht über mich befehlen!", stellte Allen fest. „Außerdem hat er nichts davon gesagt, dass man ihnen nicht helfen darf, oder? Öffnet das Tor!"

„Aber das ist Selbstmord, Ritter Allen!", versuchte ihn der andere Wächter noch einmal umzustimmen. „Ohne Guymelef habt ihr so gut wie keine Chance."

„Dann betet zu den Göttern, dass euer König vernünftig wird, bevor wir getötet werden", entgegnete Allen mit finsterer Miene. „Ansonsten erzählt ihm, dass ich im Kampf gefallen bin – und dass er es hätte verhindern können. Und jetzt lasst mich hinaus!"

Die Männer widersprachen nicht mehr. Stattdessen packten sie die Griffe der Winden, welche das schmiedeeiserne Gittertor von Farnelia bewegen konnten und zogen mit aller Kraft. Langsam hob sich das Tor und Allen trat hinaus. Einige der Männer bemerkten ihn nicht einmal, weil sie so voller Angst vor dem Drachen waren. Andere schon.

„Ritter Allen!", rief einer von ihnen überrascht aus. „Was macht Ihr hier?"

„Ich möchte Euch helfen", entgegnete dieser, ohne den Blick von dem Ungeheuer zu nehmen, das nun schon Bäume in Sichtweite entwurzelte.

„Danke", entgegnete der Bursche nach einigem Zögern. Dann erklang wieder ein Donnern, als ein weiterer Baum fiel. „Auch wenn es wahrscheinlich nicht sehr klug war."

„Wenn der Drache nach Farnelia gelangt, tötet er jeden, der sich ihm im Weg befindet", meinte Allen und machte sich kampfbereit. „Lieber versuche ich, ihn vorher aufzuhalten."

„Aber wie?", jammerte der Junge und versuchte, Allens Kampfstellung nachzumachen. „Dieses Monster ist zu groß! Unsere Pfeile und Bolzen werden kaum durch seine Haut dringen können."

„Dann müssen wir es eben mit den Schwertern angreifen", teilte Allen ihm mit. Aber auch er wusste, dass ihre Chancen so ziemlich gering waren. Wenn der Drache nicht anhielt, dann würde er sie einfach überrennen, bevor sie ihm genügend große Wunden zufügen konnten, um ihn zu töten. „Auf der Bauchseite ist er verwundbar. Versucht, seinen Hals zu erreichen."

Der Junge schluckte. „Wir werden sterben, nicht?", fragte er leise.

Allen gab keine Antwort.

„Nun, geschieht mir eigentlich ganz recht", murmelte der Junge. „Immerhin habe ich gegen meinen König gehandelt. Aber Ihr seid unschuldig, Ritter Allen."

„Niemand ist unschuldig", widersprach dieser leise und schloss kurz die Augen. Als ein Baum ganz in der Nähe umstürzte, öffnete er sie allerdings wieder. Gleich. „Jeder hat Sünden begangen, auch ich." Als er seine Muskeln anspannte und seinen Griff um das Schwert festigt, dachte er noch einmal an diejenigen, die er zurückließ. Serena, die vermutlich lange brauchen würde, um über seinen Tod hinwegzukommen. Hitomi, die Van dafür hassen würde. Millerna, die ihn noch immer heimlich liebte. Es ist Irrsinn, schoss es ihm durch den Kopf. Aber es gab kein Zurück mehr.

In diesem Augenblick hörte er ein seltsames Geräusch über sich. Gleichzeitig schrieen einige Bewohner in der Stadt auf, allerdings freudig. Der Ritter riskierte einen Blick in die Höhe. Da schwebte ein weißes, metallenes Ungetüm auf sie zu, verwandelte sich mitten im Sturzflug in einen Guymelef und walzte bei seinem Aufprall die wenigen Bäume nieder, die den Drachen noch von Farnelia trennten. Allen durchfuhr ein Gefühl der Erleichterung. Escaflowne! Van war doch noch zur Vernunft gekommen!

„Zurück in die Stadt!", ordnete er sofort an. Als die Männer, die immer noch überrascht waren, nicht gleich reagierten, ließ er sein Schwert durch die Luft zischen. „Beeilung! Wir behindern Van hier nur! Rein mit euch!"

Das brachte die Männer sofort wieder zur Besinnung. Überstürzt verließen sie ihren sicheren Todesposten und rannten durch das sich öffnende Tor nach Farnelia hinein. Allen folgte ihnen als letzter. Er war froh, und das nicht nur, weil er vermutlich weiterleben würde. Aber dass Van hier war, bedeutete, dass ihm sein Volk doch nicht egal war. Was ihn wohl derart verbittert hatte, dass er es überhaupt so weit hatte kommen lassen? Das würde Allen später herausfinden müssen. Jetzt eilte er aber wieder auf die Stadtmauer, um sich den Kampf anzusehen. Man konnte bereits hören, wie der Drache brüllte, allerdings noch nicht vor Schmerz.

Dann war er oben und sah sofort nach draußen. Van fegte mit dem Schwert gerade eine Klaue beiseite, die auf seinen Energisten gezielt hatte. Auch die zweite wehrte er ab, ließ das Schwert am Arm der Bestie entlang gleiten und verletzte es so an der Schulter. Der Drache fauchte und zog sich einen Schritt weit zurück. Gleich darauf stieß er vor, um Escaflowne mit dem reißzahnbewehrten Maul anzugreifen, aber Van hielt ihm den metallenen Arm des Guymelef vor die Nase und nutzte den Schwertarm, um dem Untier die meterlange Klinge ins Bauchfleisch zu bohren. Wo andere Schwerter gerade mal pieksen würden, schlug dieses eine große Wunde, die allerdings nicht tödlich war, weil der Drache durch den Schmerz die Kraft bekam, den Guymelef von sich wegzustoßen.

Als Van das Gleichgewicht wiederfand, hatte der Drache offenbar bemerkt, dass er sterben würde. Dennoch gab er sich dank der seiner Rasse angeborenen Sturheit nicht geschlagen. Tief holte er Luft und Allen biss sich auf die Lippe. Escaflowne war ein Wunder ispanischer Handwerkskunst, aber ob er auch Drachenfeuer widerstehen würde? Aber für weitere Überlegungen blieb ihm keine Zeit, weil die Bestie bereits Feuer spie. Van, der keine Möglichkeit mehr hatte auszuweichen, hielt die Arme von Escaflowne vor das Visier und schützte sich so notdürftig. Dennoch verschwand er eine Sekunde lang in den Flammen.

Als man wieder sehen konnte, wo er stand, schien Escaflowne nichts abbekommen zu haben, auch wenn er überall dampfte. Jedenfalls hob er das Schwert sofort wieder vor sich und rannte auf den Drachen zu. Dieser schien mit dem Angriff seine letzte Kraft verbraucht zu haben, denn er leistete kaum noch Gegenwehr, als Van ihn mit dem Schwert köpfte. Es donnerte gewaltig, als der mächtige Leib des Untiers auf den Boden prallte und weitere Bäume fällte.

Allen hörte Jubelgeschrei hinter sich, als Van das Schwert wieder zurücksteckte und sich seiner Stadt zuwandte. Er achtete jedoch nicht darauf. Stattdessen versuchte er, versteckte Beschädigungen an Escaflowne festzustellen, als Van den Guymelef zur Stadtmauer lenkte und darüber sprang. Es war jedoch nichts zu sehen. Dann senkte Van die Maschine auf die Knie und bot Allen die Hand als Transportmittel an. Der Ritter nahm an und stieg darauf. Sofort erhob sich Escaflowne wieder und Van hob die Hand vor das Visier. Dann öffnete es sich und zeigte einen an einige Stellen geröteten jungen Mann.

„Nun, Allen, bist du nun zufrieden?", fragte Van. „Ich habe diese Nichtsnutze gerettet. Aber dieser Kampf war erfrischend. Ich wünschte fast, es kämen noch mehr Drachen."

„Wieso bist du auf einmal wieder so blutrünstig, Van?", fragte Allen seinen Freund. „Bisher wolltest du Farnelia doch keiner Gefahr mehr aussetzen."

Vans Gesicht verhärtete sich. „Frag das Hitomi", teilte er dem Ritter mit. „Sie ist der Grund. Und teil ihr folgendes mit: Sobald wir diese neue Krise überstanden haben, werde ich sie wieder zurück zur Erde bringen!"

Damit schloss ich das Visier wieder, bevor Allen etwas sagen konnte. Es wäre auch nicht möglich gewesen, weil sich Escaflowne unter den Jubelrufen der Menge wieder in Bewegung setzte und Allen alle Kräfte brauchte, um sich festzuhalten. Dennoch hatte er viel erfahren. Wenn er wieder im Palast war, würde er sofort mit Hitomi reden. Er hatte sich das Wiedersehen der beiden wahrlich anders vorgestellt.

In der nächsten Folge...

Hitomi träumt abermals von Van und der Draconierin... sie stellt Van zur Rede und sie streiten sich... Millerna und Dryden treffen ein und Allen reist nach Pallas, um Eries zu beschützen... sie stellen fest, dass es sich bei der mysteriösen Armee um eine Horde Drachen handeln muss... Van erklärt, dem Gefangenen um jeden Preis mehr Informationen entlocken zu wollen... Merle verhilft diesem nachts zur Flucht...

Titel: Das Geheimnis der Armee