Der Drachenkrieg Folge 9 – Das Geheimnis der Armee

Ist es nur ein Traum oder ist es Wirklichkeit? Van hat sich auf einmal völlig verändert. Er scheint auf einmal voller Zorn und Schmerz zu sein, wie damals im Krieg gegen Zaibach. Als ein Drache Farnelia angreift, will er sogar einige Leute aus der Stadt opfern. Als er auch noch den Gefangenen foltern will, überzeugt ihn Merle, dass sie vielleicht mehr erreichen könnte. Tatsächlich verrät er ihr, dass er Drachentrainer ist und dass es noch viele gibt. In der Zwischenzeit will Allen den Leuten helfen. Er ist bereit, sich zu opfern, als Van im letzten Moment doch noch kommt und den Drachen mit Escaflowne bezwingt. Aber warum ist er so voller Hass? Er sagt, ich wäre der Grund...

Wieder einmal stand Hitomi auf dem Balkon und starrte auf die Stadt hinab. Diesmal allerdings nahm sie die Gebäude kaum zur Kenntnis. Sie hatte gerade ein sehr seltsames und unangenehmes Gespräch mit Allen geführt. Dieser hatte ihr mitgeteilt, dass Vans verletzendes Verhalten ihre Schuld sei. Als er sie nach dem Grund gefragt hatte, war sie völlig hilflos gewesen. Sie wusste beim besten Willen nicht, womit sie ihn so sehr hatte verletzen können.

Es konnte doch nicht sein, dass er wegen ihrer Vision während ihres Kusses derart außer sich war. Schließlich war er ja erst seit heute so komisch, also müsste dieser Gemütswechsel letzte Nacht erfolgt sein – und da hatten sie sich gar nicht gesehen. Was also konnte er gesehen oder gehört haben, dass er so voller Schmerz und Zorn war? Konnte es etwa sein, dass er sie gesehen hatte, wie sie mit Allen sprach? Möglich, aber deswegen würde er nicht gleich das Schlimmste annehmen. Allen war ein Ehrenmann, das wusste er und er hätte gesehen, dass ihre Unterredung rein freundschaftlich gewesen war.

Hitomi war verzweifelt. Was konnte sie nur getan haben? Wie sollte sie sich für etwas entschuldigen, von dem sie nicht einmal wusste, was es war? Allen hatte ihr versichert, dass er sich in diese Sache nicht einmischen würde. Wenn sie ihre Beziehung retten wollte, meinte er, dann musste sie das selbst tun. Wenn Van allzu unkooperativ werden würde, wäre er selbstverständlich da, um ihr zu helfen, aber wenn sie Van liebte, musste sie ihn auch zurückhaben wollen. Natürlich liebte sie ihn! Welch eine dumme Bemerkung! Aber sein Blick hatte ihr wirklich Angst gemacht...

Hitomi schloss seufzend die Augen. Wieso musste die Liebe nur so kompliziert sein? Sanfte Schwärze verhüllte diese Welt voller Probleme – und wurde von einem weiß-gelben Strahl weggefegt. Das Drachenfeuer traf ein Haus, setzte es sofort in Brand und die Hitzewelle war auch noch stark genug, um die Nachbardächer anzuzünden. Menschen rannten schreiend aus ihren Häusern, aber sie wurden vom nächsten Flammenstrahl erwischt und verglühten mitten im Schritt.

Entsetzt blickte Hitomi auf das Bild der Zerstörung, das sich ihr darbot. Dies war also die Stadt, die sie zuvor nur immer schon vernichtet erlebt hatte. Hastig sah sie zum Himmel und fand auch, was sie befürchtet hatte. Van schwebte auf seinen Flügeln über der Stadt und sah teilnahmslos der Zerstörung zu. Hinter ihm war die Draconierin, die ihn umarmte und ihren Kopf auf seine Schulter gelegt hatte. Sie starrte voller Gier und Stolz auf den Drachen, der diesmal mit seinen mächtigen Schwingen über die Stadt flog und sie nach und nach völlig in Brand steckte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Stadt völlig verbrannt war.

Jetzt erst kam Hitomi der Gedanke festzustellen, wo sie überhaupt war. Das konnte unvorstellbar wichtig sein. An den Häusern in ihrer Umgebung war nichts festzustellen, da die bereits brannten, aber als sie hastig um sich blickte, fiel ihr Augenschein auf ein Gebäude, das alle anderen überragte: einen Palast, den sie nur zu gut kannte, unversehrt wie brennend. Hitomi riss vor Grauen den Mund auf und erstarrte, als sie erkannte, wo sie war. Die Stadt, die dem Untergang geweiht war, war Farnelia.

„Van!", schrie sie aus Leibeskräften. „Warum tust du nichts? Es ist deine Stadt, die brennt!"

„Ich sagte dir doch, er gehört mir, Seherin!", teilte ihr die Draconierin hämisch mit, während Van weiterhin kalt das pyromanische Werk betrachtete. „Er ist endlich zu seinem Volk zurückgekehrt. Die Menschen interessieren ihn nicht mehr."

„Nein!", schrie Hitomi und hielt sich die Hände an die Ohren. Sie schloss die Augen, während die ersten Tränen darin entstanden. „Das würde Van niemals tun! Niemals!"

„Bist du dir da sicher?"

Sie merkte erst nach einer Sekunde, dass diese Stimme nicht die von Van oder der Frau seines Volkes war. Als sie die Augen öffnete, war die brennende Stadt verschwunden, ebenso wie die beiden. Sie allein war noch da und schwebte in endloser Schwärze. Ängstlich blickte sie sich um.

„Wer ist da?", rief sie.

„Ich bin hier", antwortete eine tiefe Männerstimme und vor ihr wurde eine Gestalt sichtbar, die hell schimmerte. Vermutlich war sie nur deshalb nicht durchsichtig, weil es hier nichts gab, das zu sehen gewesen wäre. „So sehen wir uns also wieder."

Hitomi erstarrte. „Dornkirk", hauchte sie. „Wie...?"

„Ich bin tot", bestätigte der frühere Kaiser der Zaibacher. Er hatte sich nicht verändert seit dem Zeitpunkt, da sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Damals hatte die Schicksalsmaschine, die er gebaut hatte, ihre volle Wirkung erreicht und die Sphäre vollkommenen Glücks erschaffen. Er hatte sich mit ihr gewundert, warum die Menschen anscheinend nur der Wunsch nach Krieg wichtig war und verschwunden, als Van sie gerettet hatte und dabei die Maschine zerstört hatte. „Ich bin nur in deinem Geist, um dich zu warnen."

„Warnen?", fragte Hitomi nach, als sich ihr Entsetzen legte. „Wovor?"

„Vor dem jungen Van", antwortete der Greis. „Er leidet im Moment sehr. Wenn du ihn nicht davon heilst, wird er sich wirklich der Drachenfrau anschließen und Farnelia wird brennen... ebenso wie die anderen Städte auf Gaia."

„Weswegen leidet er?", wollte Hitomi wissen und faltete die Hände. „Bitte sag es mir!"

„Das darf ich nicht", entgegnete Dornkirk bedauernd und schüttelte den Kopf. „Das musst du selbst herausfinden. Aber du musst auf ihn vertrauen, wenn du dieses Schicksal abwenden willst." Er zeigte ein ironisches Lächeln, das unter seinem langen Bart kaum zu sehen war. „So wie ihr damals gemeinsam das Schicksal der Welt geändert habt, als ihr meine Sphäre des vollkommenen Glücks zerstörtet."

„Aber wie kann ich ihm vertrauen, wenn er mich mit diesem kalten Blick ansieht?", rief Hitomi und schüttelte wild den Kopf. „Er... er macht mir angst!"

„Dann ist Gaias Schicksal besiegelt", erwiderte Dornkirk und schloss die Augen. „Du bist die einzige, die es abwenden kann."

„Wieso versucht Ihr mir überhaupt zu helfen, Dornkirk?", fragte Hitomi.

„Wir mögen auf verschiedenen Seiten gestanden sein", erklärte ihr der alte Mann. „Aber ich wollte immer nur das Beste für die Menschen auf Gaia. Und jetzt befinden sie sich in Gefahr. Nur du kannst sie retten, Mädchen. Vergiss nicht: Du musst vertrauen..."

Nach diesen Worten wurde ihr wieder schwarz vor Augen. Schließlich öffnete die richtige Hitomi wieder ihre Augen. Jetzt erst recht, dachte sie. Ich muss mit Van reden. Entschlossen drehte sie sich um und ging aus dem Zimmer.

Als sich Hitomi dem Thronsaal näherte, hörte sie Stimmen. Eine stammte von Van, die andere oder nein, die zwei anderen kamen ihr zwar bekannt vor, aber durch die Steinwände wurden sie verzerrt, sodass sie sie nicht gleich erkennen konnte. Kurz vor der Tür zögerte sie, ob sie hineingehen sollte, aber dann straffte sie die Schultern. Sie musste mit Van reden und das sehr bald. Also sollte sie sofort zu ihm. Entschlossen drückte sie die Klinke hinunter.

Als sie die Tür öffnete und sah, mit wem Van gerade redete, weiteten sich ihre Augen. Von allen ihr vertrauten Personen auf Gaia hatte sie die beiden nicht jetzt und hier erwartet. Ihr Eintreten war natürlich nicht unbemerkt geblieben. Allerdings waren die beiden Besucher von ihr bei weitem nicht so überrascht als sie von ihnen.

„Hitomi!", rief Millerna freudestrahlend aus und rannte sofort auf sie zu. Hitomi war viel zu perplex, um irgendetwas anderes zu tun, als ihre Freundin ebenfalls zu umarmen. Dryden, der sich etwas besser in der Gewalt hatte, war seiner Mitregentin mit etwas Abstand gefolgt und neigte respektvoll den Kopf vor dem Mädchen vom Mond der Illusionen.

Jetzt erst fand Hitomi ihre Stimme wieder. „Millerna! Dryden! Was macht ihr denn hier?"

„Dich besuchen, was denn sonst?", antwortete Dryden auf seine gewohnt lässige Weise. Offenbar hatte er sich nicht großartig verändert. „Du hättest uns ruhig persönlich einladen können, weißt du? Als Höflichkeitsgeste."

„Hör nicht auf ihn, Hitomi", beschwichtigte Millerna ihre Freundin, während sie wieder zurücktrat. Noch immer leuchteten ihre Augen, aber nun besann sie sich auf ihre Erziehung. Immerhin waren sie in einem Thronsaal. „Er will dich nur aufziehen. Wir sind überglücklich, dich endlich wiederzusehen." Sie besah Hitomis Kleid, ein violettes mit goldfarbener Weste darüber. „Du siehst einfach umwerfend aus."

„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben", merkte Hitomi an. „Du hast dich nicht verändert, Millerna." Das stimmte fast. Millerna hatte schon vor fünf Jahren ziemlich erwachsen ausgesehen, auch wenn sie um einige Jahre jünger war als Allen. Jetzt hatte sie sich äußerlich kaum verändert, war auch nur wenig gewachsen, aber sie strahlte nun etwas mehr Sicherheit aus als damals. Offenbar bekam ihr die Herrschaft über Asturia.

„He, und was ist mit mir?", warf Dryden gespielt ärgerlich. „Ich hab mich extra für dich in Schale geworfen und du beachtest mich überhaupt nicht?"

Die beiden Mädchen lachten. Im Gegensatz zu dem, was er sagte, trug Dryden ein weites, bequemes Gewand, ähnlich dem, das er bei ihrem ersten Treffen angehabt hatte. Von in die Schale geworfen konnte auch keine Rede sein, da sich zudem schon wieder Bartstoppeln auf seinem Kinn drängten. Dennoch, so wirkte er zumindest vertraut auf Hitomi. Sie verbeugte sich ebenfalls vor ihm.

„Schön, dass du hier bist, Dryden", bemerkte sie. „Du bist jetzt also König von Asturia?"

„Regent", berichtigte er sie. „Das heißt, dass ich in etwa dieselben Pflichten, aber weniger Privilegien habe." Ein kurzer Blick traf Millerna, aber sie schien es nicht zu bemerken. „Nun, man kann nicht alles haben, nicht? Wie geht es dir, Hitomi?"

„Gut", log Hitomi, ohne rot zu werden, doch ihre Augen suchten wie von selbst Van, der die kleine Gruppe mit ernster Miene musterte. „Ich..."

„Das kannst du uns alles später erzählen, Hitomi", warf Millerna ein. „Dryden und ich werden erst mal unsere Gemächer beziehen, dann müssen wir ohnehin mit euch allen reden. Bis dahin lassen wir euch beiden Turteltäubchen eure Ruhe, in Ordnung?" Sie zwinkerte Van, der noch immer seine düstere Miene aufgesetzt hatte, munter zu. Sie schien nicht zu bemerken, dass zwischen Hitomi und Van etwas vorgefallen war. „Komm, Dryden! Verschwinden wir!"

„Wie Hoheit befehlen", entgegnete Dryden lakonisch, aber da fühlte er sich auch schon an der Hand gepackt und aus der Halle gezogen. Sein halbherziges Gezeter und Millernas glockenhelles Lachen hallte noch eine Weile nach. Dann allerdings standen sich Hitomi und Van in völliger Stimme gegenüber. Frag ihn, flüsterte ihr der Verstand zu... aber der krampfte sich auch nicht zusammen, als er wieder einmal Vans Blick bemerkte.

„Nun? Was ist los?", fragte Farnelias König, als er begriff, dass sie nichts sagen würde. „Wieso bist du hierher gekommen? Ist was nicht in Ordnung?"

„Ob etwas nicht in Ordnung ist?" Nun platzte Hitomi der Kragenknopf. „Van, seit heute morgen benimmst du dich, als wäre deine Welt zusammengebrochen! Du bist aggressiv, gleichgültig gegenüber deinem Volk und scheinst plötzlich Freude daran zu empfinden, anderen wehzutun! Was ist mit dir los?"

„Vielleicht hab ich einfach schlecht geschlafen", teilte er ihr in höhnischem Tonfall mit.

Er brachte sie schön langsam zur Weißglut! Sie stampfte mit dem Fuß auf und schrie: „Verdammt noch mal, Van, ich will dir doch nur helfen! Wieso sträubst du dich gegen jeden, der mit dir reden will?"

„Du mir helfen?", wiederholte er bitter und sah zur Wand. „Du bist die letzte, die mir helfen kann, Hitomi."

„Wer kann es dann?", fragte sie fast verzweifelt. „Van, ich... ich habe Angst vor dir."

„Und du tust gut daran", merkte er an. Er schloss die Augen. „Weil mir nämlich niemand helfen kann. Niemand. Also geh und lass mich allein."

„Warum hasst du mich so sehr, Van?", flüsterte Hitomi. Der Zorn war aus ihr gewichen und hatte dem Wunsch Platz gemacht, einfach loszuheulen. „Was habe ich dir getan?"

„Was du mir angetan hast? Da fragst du noch?" Hitomi schrak zurück, als Van aufsprang und sie anschrie. „Ich war gestern hinter der Terrasse, Hitomi! Ich habe dein kleines Gespräch mit Allen bemerkt!"

Hitomi legte ihre Hand auf den Mund. Entsetzt sah sie den wütenden Mann an, der vor ihr stand und sie mit glühenden Blicken spickte. Also glaubte er doch, dass sie und Allen etwas miteinander hatten. Ihr Gespräch war völlig harmlos gewesen, es konnte also nur so sein, dass er gesehen hatte, wie Allen sie umarmt hatte und sie sich an seiner Schulter ausgeweint hatte. Ja, das musste der Grund sein. Aber es passte gar nicht zu ihm, dass er deswegen so ausrastete. Sicher, er wusste, dass auch Allen in sie verliebt gewesen war, aber dass er gleich so überreagierte...

„Aber Van!", begehrte sie auf. „Das war doch nur..."

„Ich weiß alles, was nötig ist, Hitomi", unterbrach er sie schneidend und machte eine endgültige Handbewegung. „Spar dir deine Erklärungen, ich will sie gar nicht hören! Du darfst natürlich in Farnelia bleiben, bis die Gefahr für dich vorüber ist, aber danach werde ich dich zur Erde zurückbringen. Das ist besser für uns beide."

„Wieso nimmst du diese Sache so ernst, Van?", probierte Hitomi es noch einmal. „Ich..."

Van explodierte. Er trat an sie heran und packte ihr Handgelenk schmerzhaft. „Warum ich das so ernst nehme, fragst du mich? Weißt du, dass ich in den letzten fünf Jahren fast jeden Tag einmal zum Mond der Illusionen gesehen und mir gewünscht habe, dass du zu mir zurückkommst? Ich habe dir vertraut, mit ganzem Herzen. Und du hast nichts besseres zu tun, als mich mit dem erstbesten Kerl zu betrügen..."

„Wie kannst du es WAGEN?", schrie Hitomi auf und riss ihre Hand los. Tränen strömten aus ihren Augen, als sie ausholte und Van eine Ohrfeige gab. Der junge Mann brach überrascht ab und hielt sich die Wange. Solche Kraft hätte er Hitomi gar nicht zugetraut. Im ersten Moment hob sich seine andere Hand zu einem Gegenschlag, verharrte aber, als er Hitomis Blick begegnete. Tränen strömten über das Gesicht des Mädchens und ihr Blick war voll von Vorwurf. „Warum zerstörst du alles, was zwischen uns ist, Van?", fragte sie schluchzend. „Warum bist du so maßlos eifersüchtig? Nicht ich bin es, der nicht vertraut... du bist es. Bis du dich bei mir entschuldigst, will ich dich nicht mehr sehen!" Damit drehte sie sich um, schlug die Hände vor die Augen und lief weinend aus dem Saal.

Da regte sich noch einmal der Zorn in Van. „Ich mich entschuldigen?", rief er ihr nach. „Nicht, bevor du mir alles eingestanden hast! Du hättest niemals zurückkehren sollen!"

Aber Hitomi war bereits in den Gängen des Schlosses verschwunden. Sich die schmerzende Wange reibend drehte Van sich um und setzte sich wieder auf den Thron. Dieses falsche Weibsstück! Ihn einfach zu schlagen, obwohl sie die Schuld an diesem Streit trug! Er sollte sie sofort zum Mond der Illusionen zurückschicken, Gefahr hin oder her! Zu dem, der sie geschwängert hatte, sollte der sie doch beschützen!

Doch wenn er wirklich im Recht war... warum vermischten sich auf seiner Wange dann die Tränen des Zorns mit denen der Trauer wegen eines unvorstellbar großen Verlustes? Wegen ihres lautstarken Streites war keiner der Diener in der Nähe des Saals, sonst hätte er vielleicht gesehen, wie Van Farnel, der Held des Großen Krieges, den Arm vor das Gesicht hielt und mit zusammengebissenen Zähnen zu weinen begann. Obwohl beinahe kein Laut über seine Lippen kam, zuckte sein Körper unkontrolliert, als er seinen Schmerz in sich hineinfraß.

„Hitomi", schluchzte er. „Warum nur?"

Da Millernas und Drydens Besuch offiziell politischer Natur war, sah das Protokoll es vor, dass sie von Van und seinen Beratern empfangen wurden. Das geschah am Nachmittag, obwohl die Zeremonie auf Vans Wunsch ziemlich abgekürzt wurde. Im Grunde hieß er die beiden lediglich in Farnelia willkommen und bekräftigte die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Dryden und Millerna bestätigten dies und dankten ihm für die Gastfreundschaft. Danach unterhielt sich Dryden noch einige Minuten lang mit den Beratern des Königs, was Millerna schnell zu langweilen begann. Offenbar konnte ihr Mitregent seine Vergangenheit noch immer nicht abschütteln, da er anscheinend über Handelskonditionen für seine eigenen Waren verhandelte.

Stattdessen sah sie sich suchend um. Sie hatte eigentlich erwartet, dass Hitomi auch hier sein würde. Schließlich war es kein Geheimnis, wen sich Van seit fünf Jahren sehnlichst als Königin von Farnelia wünschte. Aber das Mädchen war nicht hier und Van wirkte seltsam mürrisch. So kannte sie ihn eigentlich gar nicht. Ernst, ja. Aber nicht so, als wäre ihm alles egal.

Sie beruhigte sich, dass Van wahrscheinlich von den ganzen Zeremonien genug hatte. Und Hitomi würde wahrscheinlich erst nachher zu ihnen stoßen, wenn der offizielle Empfang beendet war. Van hatte vorgeschlagen, dass alle alten Freunde, also vermutlich er, sie beide, Allen, Merle und Hitomi, sich zusammensetzen sollten, um über diese neue Krise ihre Erkenntnisse auszutauschen. Außerdem wäre es schön, einmal wieder mit den alten Freunden ungezwungen plaudern.

Endlich, nachdem Millerna beinahe zu zappeln angefangen hätte (wie konnten Männer nur eine halbe Stunde lang um den Preis von Stoffen streiten?), stand Van auf und gebot Ruhe. Er bemerkte, dass er, Dryden und Millerna die anderen nicht mehr länger warten lassen sollten und die Handelspartner auch später noch Zeit haben würden, um sich gegenseitig übers Ohr zu hauen. Millerna grinste kurz. Für Feinfühligkeit war der König von Farnelia noch nie berühmt gewesen.

Die Berater waren derartige Sprüche aber vermutlich gewohnt, denn sie sagten nichts und zeigten hie und da sogar ein leises Lächeln, bevor sie sich erhoben und nacheinander den Saal verließen. Nachdem auch der letzte von ihnen – ein humpelnder alter Mann, der Van noch kurz etwas zuflüsterte, was dieser aber mit einer ärgerlichen Handbewegung wegwischte – von ihnen auch gegangen war, erhob sich der junge König.

„Endlich", seufzte er. Jetzt sah er wieder fast so aus wie immer. „Ich dachte schon, wir würden nie fertig werden. Erstaunlich, dass die mächtigsten Männer in ihren Reichen meist die wenigste Bewegungsfreiheit haben."

„Und dabei bist du noch gut dran", murmelte Dryden. „Wenn du in Asturia wärst..."

Van deutete zur Tür. „Wollen wir gehen?", fragte er. „Die anderen warten sicher schon und ihr kennt Merle ja. Sie geht hoch, wenn man sie nicht beschäftigt."

Er ging aus dem Saal und Dryden und Millerna folgten ihm. Van führte sie in einen weniger benutzten Seitengang im Schloss, in dem sie vermutlich nicht so bald gestört werden würden. Dort hatte er ein gemütliches Zimmer einrichten lassen, in dem er nur seine Freunde bewirten ließ. Es konnte zwar an Luxus nicht mit Asturia mithalten, aber die vertraute Atmosphäre von Freundschaft glich das aus. Als sie eintraten, befanden sich bereits zwei Personen im Raum. Allen stand wortlos auf und verneigte sich vor den Herrschern seines Landes, während Merle aufsprang und sofort die Hände in die Hüfte stemmte.

„Wo habt ihr die ganze Zeit gesteckt?", schimpfte sie. „Der Tee ist schon wieder fast kalt!"

„Aus den Kannen dampft es noch", merkte Millerna lächelnd an, aber das Katzenmädchen zuckte nur mit den Schultern.

„Na und? Ihr wisst doch, dass ich meinen Tee immer heiß trinke!" Zum Beweis schnappte sie sich die nächste Kanne und goss sich eine Tasse ein. Bevor noch jemand etwas einwenden konnte, lehrte sie sie halb. Einen Moment lang schaffte sie es sogar, die Freunde vorwurfsvoll anzusehen, dann verzog sie jedoch das Gesicht, riss den Mund auf und keuchte, während sie sich den Hals hielt. „Genau richtig", hauchte sie.

Alle lachten, sogar Van ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. Mochte Merle auch noch so erwachsen aussehen – irgendwo in ihr schlummerte noch immer das Kleinkind, das seine Eltern gekauft hatten. Millerna umarmte das Katzenmädchen sofort, als diese wieder ansprechbar war und Dryden küsste ihr die Hand, während er behauptete, sie würde mit jedem Mal, wenn sie sich trafen, verführerischer. Nun, damit hatte er sicherlich recht.

Allen küsste Millerna ebenfalls die Hand, hatte aber eine ernste Miene aufgesetzt und blieb zurückhaltend. Die junge Frau schien zwar etwas enttäuscht zu sein, aber vermutlich hatte sie diese Reaktion erwartet. Dryden gab dem Ritter des Himmels die Hand, nickte ihm zu und setzte sich dann hin. Die beiden würden wohl ewig nur Freunde und nicht gute Freunde bleiben, solange Millerna auf Allen beharrte. Auch die anderen setzten sich und Millerna runzelte die Stirn.

„Sag mal, Van, warum verspätet sich Hitomi so?", fragte sie den Monarchen. „Sie wirkte doch heute gar nicht krank."

Das Gesicht des jungen Mannes verhärtete sich und er schloss die Augen. „Sie wird trotzdem nicht kommen", teilte er den Anwesenden mit. „Sie fühlt sich im Moment nicht sonderlich gut."

„Liegt das vielleicht an dem Streit, den ihr hattet?", fragte Allen bissig. Als Van ihn wütend anfunkelte und die anderen überrascht auf ihn starrten, fuhr er fort: „Ich war in der Nähe des Thronsaals, als ihr euch angeschrieen habt. War ja wirklich nicht zu überhören."

„Ihr habt euch angeschrieen?", fragte Millerna fassungslos und auch Dryden sah ziemlich konfus aus. „Weswegen denn?"

„Ja, Van", mischte sich Merle ein. Nun wirkte die Katzendame sehr ernst. „Warum hat Hitomi geweint, als sie vor ein paar Stunden an mir vorbeigelaufen ist und sich in ihrem Zimmer eingesperrt hat?"

„Geweint?", wiederholte Dryden verblüfft. „Habt ihr euch etwa gestritten? Weswegen denn?"

„Das geht euch gar nichts an", verkündete Van mit einem endgültigen Ton in der Stimme. „Das ist eine Sache zwischen Hitomi und mir. Haltet euch da bitte raus."

„Aber wir sind deine Freunde, Van", warf Millerna ein. Sie schien noch nicht begriffen zu haben, dass das in dieser Situation sinnlos war. „Wir könnten euch doch helfen."

„Nein, das können wir nicht", wandte Allen bedauernd ein und senkte den Kopf. „Van ist heute schon den ganzen Tag so. Er lässt nicht mit sich reden. Also sollten wir dieses Thema wohl begraben." Vorherst, sagte sein Blick, den er dem jungen König zuwarf.

„Aber was wird jetzt aus Hitomi?", protestierte Merle laut und stützte sich mit den Händen am Tisch ab.

„Was soll schon sein?", fragte Van kalt. Als das Katzenmädchen genauer hinsah, merkte sie, dass auch seine Augen gerötet waren, obwohl man es fast nicht mehr sah. Hatte er etwa auch geweint? „Sie wird sich schon wieder beruhigen. Aber jetzt zu anderen Dingen. Den offiziellen Grund eures Besuchs kenne ich bereits. Aber warum seid ihr wirklich gekommen?"

„Na schön", antwortete Dryden zögernd, als fragte er sich, ob ein Themawechsel wirklich sinnvoll war. „Die Wahrheit ist... wir sind aus Pallas geflohen."

„Geflohen?" Allens Kopf ruckte hoch. „Vor wem?"

„Vor einer Verschwörung, denkt Eries", antwortete Millerna und man merkte ihr sofort an, dass sie noch immer nicht davon überzeugt war. „Angeblich sollen einige Kaufleute und Fürsten aus Asturia Morphe angeheuert haben, um Dryden und mich zu ersetzen."

„Morphe?", fragte Van nach und seine Augenbrauen zuckten. „Wenn das stimmt, dann war es bestimmt kein Fehler, Pallas zu verlassen."

„Aber wieso sollten diese Aufwiegler das tun?", wunderte sich Merle. „Morphe zu finden heißt, eine Menge Geld auszugeben."

„Angeblich will dieses Kartell einen weiteren Krieg mit Zaibach vom Zaun brechen", gab Dryden bekannt. „Sie verdienten im Großen Krieg nicht schlecht und in Friedenszeiten müssen sie darben."

„Es wäre dennoch riskant, einen Krieg mit Zaibach zu beginnen", warf Allen nachdenklich ein. „Wir wissen nicht, wie gut sie bereits wieder gerüstet sind. Ein solches Risiko würden doch selbst diese Leute nicht eingehen, oder?"

„Tja, leider rechnen sie damit, dass Asturia Unterstützung erhält", entgegnete Millerna. „Weil vor einigen Tagen ein Mann namens Kayd nach Asturia kam..."

„Kayd?" Van spannte die Muskeln. „Lass mich raten: Er bot euch eine unbesiegbare Armee an, mit der ihr Zaibach mit Leichtigkeit überrennen könntet, nicht?"

„Woher weißt du das?", wollte Dryden wissen.

„Dieser Kerl war auch in Farnelia", ließ Van verlautbaren.

„Und Van hat ihn prompt wieder rausgeschmissen", fügte Merle grinsend hinzu.

„Wir ebenfalls", entgegnete Millerna stolz. „Aber wer ist so versessen darauf, einen Krieg vom Zaun zu brechen.

Van zuckte mit den Schultern. „Mir hat er den Namen seiner Herrin nicht genannt und ich nehme mal an, euch auch nicht. Aber er meinte, diese Armee wäre unbesiegbar."

„Aber von welcher Armee könnte man so etwas schon behaupten?", fragte sich Allen und lehnte sich zurück. „Kein Land auf Gaia hat eine derartig unschlagbare Armee. Um so ein großes Land wie Zaibach mühelos überrennen zu können, bräuchte man ganze Regimenter von Guymelefs. Aber es wäre aufgefallen, wenn ein Land dermaßen viele Bauteile gekauft oder abgebaut hätte."

„Vielleicht weiß der Gefangene ja etwas darüber", überlegte Van. „Wir könnten..."

„Drachen", flüsterte Merle plötzlich. „Die Armee besteht aus Drachen!"

Alle Köpfe ruckten augenblicklich zu dem Katzenmädchen herum, das auf seine Teetasse starrte und sich an das Gespräch erinnerte, welches sie mit Llorin geführt hatte.

„Was hast du gesagt?", fragte Allen sofort. In seinen Augen blitzte es. „Drachen? Eine ganze Armee von Drachen?"

„Woher weißt du das?", wollte Millerna wissen. Auch sie war gespannt.

„Von dem Katzenmann, der Hitomi auf der Erde angegriffen hat", antwortete Merle tonlos, während vor ihrem geistigen Auge Hunderte von Drachen umhertrampelten und Feuer spien. Sie erklärte kurz, wie Allen Hitomi gerettet und den Katzenmann nach Farnelia gebracht hatte. „Gestern habe ich mit ihm gesprochen. Er sagte, er wäre Drachentrainer und es gäbe mehr von ihnen auf Gaia, als wir ahnten. Der Drache von gestern war von ihm trainiert."

„Wie viele von diesen Bestien gibt es?", fragte Van scharf.

„Das weiß ich nicht", wehrte Merle ab. „Mehr hat er mir nicht verraten."

„Eine Armee aus Drachen", murmelte Dryden, ebenfalls in Gedanken versunken. „Natürlich. Ohne mindestens gleich viele Guymelefs wären diese Bestien kaum aufzuhalten. Man bräuchte momentan kaum mehr als ein paar Dutzend, um jedes Land auf Gaia erobern zu können!"

„Aber wo könnte man eine solche Menge an Drachen verstecken?", gab Allen stirnrunzelnd zu bedenken. „Die Biester sind nicht gerade unauffällig."

„In den Wäldern", antwortete Van sofort. „Im großen Wald von Farnelia gab es schon immer vereinzelt Drachen. Bestimmt auch in denen der anderen Länder. Wenn man sie verteilt, fallen sie nicht wirklich auf, solange sie in ihren Höhlen schlafen. Drachen können Jahrzehnte lang ruhen, ohne etwas tun zu müssen. Jemand muss sie zusammengesucht haben." Er lehnte sich zurück. „Deshalb konnte ich keinen mehr finden und musste auf den Mond der Illusionen reisen."

„Ja, das würde alles erklären", stimmte Allen zu. „Aber wo ist diese Armee jetzt?"

„Wir haben jemanden, der das weiß", verkündete Van. „Wir werden den Gefangenen besuchen und diese Antworten aus ihm herausholen." Er kniff die Augen zusammen. „Jetzt geht es um das Wohl meines Landes. Ich kann keine Rücksicht mehr auf ihn nehmen. Ich muss wissen, wo diese Armee liegt."

„Und was willst du dann tun?", fragte Millerna den jungen König.

„Was wohl? Wir werden die anderen Länder informieren. Vor einer Armee von Drachen wird wohl jeder zurückschrecken, weil man sie nicht kontrollieren kann. Damit hätte sich das Problem von selbst erledigt." Er grinste. „Jetzt müssen wir nur noch den Standort der Armee aus dem Katzenmann herauskriegen."

„Ich kann dich nicht begleiten", bedauerte Allen und stand auf. Obwohl du jemanden brauchst, der dich zurückhält, dachte er. „Ich werde nach Asturia zurückkehren. Jemand muss Prinzessin Eries beschützen."

„Aber Allen...", begehrte Millerna auf.

„Lass ihn Millerna", bat Dryden sie. „Allen hat Recht. Eries könnte auch in Gefahr sein, wenn diese Leute von ihren Aktivitäten wissen. Bitte warte doch noch bis morgen, Van. Millerna und ich sind gerade erst angekommen. Ich möchte ebenfalls bei dem Verhör anwesend sein und bin einigermaßen müde. Bis morgen wird das doch noch Zeit haben, oder? Ein Krieg beginnt nicht über Nacht."

„Na schön", willigte Van ein, aber man sah ihm an, dass er am liebsten sofort hinunter gegangen wäre. „Dann bis morgen. Aber vermutlich wird es kein schöner Anblick."

„Wir haben den Großen Krieg ebenfalls miterlebt, Van", erinnerte ihn Millerna. „Wir kennen den Anblick von Wunden. Ich werde auch mitkommen."

„Schön." Allen nickte. „Dann bis morgen. Van, wir haben noch unsere Trainingsstunde, nicht wahr? Danach werde ich Gardes suchen. Und die anderen möchten sich sicher gerne niederlegen, nicht wahr?"

Zustimmende Laute erklangen und alle verließen das Zimmer. Niemand hatte bemerkt, dass Merle seit einiger Zeit sehr schweigsam gewesen war.

Llorin schlief bereits, als die Gefängnistür noch einmal geöffnet wurde. Er war sofort wach und fixierte die Tür mit nachtaktiven Augen. Zu essen bekam er heute mit Sicherheit nichts mehr, wenn das kein Luxusgefängnis war. Befragungen um diese Zeit waren auch eher unwahrscheinlich. Blieb eigentlich nur die Möglichkeit, dass die Wächter ihrem Aberglauben gemäß den ketzerischen Katzenmenschen verprügeln wollten, wenn sie ihn schon nicht töten durften. Instinktiv spannte Llorin sich an. Nun, auch wenn er gefesselt war... die Kerle sollten ihr blaues Wunder erleben!

Allerdings war es nicht die bullige Gestalt eines Wächters, die leichtfüßig in den Raum kam und die Tür hastig wieder zudrückte. Er riss die Augen noch weiter auf und sie leuchteten gelb im spärlichen Licht der Monde, das durch ein kleines Fenster hereinfiel.

„Merle?", fragte er völlig überrascht. „Du?"

„Schhhhh!", machte das Katzenmädchen und hielt den Finger vor den Mund. Erst jetzt fiel ihm auf, dass das Mädchen ziemlich nervös wirkte und immer wieder Blicke zur Tür warf. „Sei still!", zischte sie.

„Was willst du von mir?", wollte er etwas leiser wissen. „Wenn du weitere Informationen aus mir herausholen sollst, dann..."

„Zu Dornkirk mit deinen Informationen!", fluchte das Mädchen und ging rasch an ihn heran. Instinktiv nahm er eine Abwehrhaltung ein, als er Metall in ihren Händen aufblitzen sah, aber sie war gar nicht an ihm interessiert, sondern an der Kette, die seinen Fuß mit der Wand verband. Unter seinen überraschten Blicken begann sie, unschöne Schimpfworte ausstoßend, die man von einem so jungen Mädchen gar nicht erwartete, am Schloss herumzuarbeiten.

„Was soll das?", fragte er misstrauisch. „Will dein König mich exekutieren lassen? Um diese Zeit?"

„Van weiß gar nicht, dass ich hier bin!", entgegnete Merle scharf und mühte sich weiterhin mit dem Schloss ab. Jetzt erst erkannte er, dass die gar keinen Schlüssel dabeihatte, sondern einen Dietrich. „Und er würde viel weniger gnädige Dinge mit dir anstellen lassen, als dich nur umzubringen! Deshalb bin ich ja hier! Ich will dich befreien, verdammt!"

„Befreien?" Seine Augen verengten sich. „Warum? Er ist dein Herr."

„Er ist NICHT mein Herr!", schnappte sie. Sie musste wirklich Angst haben, erkannte er. Bei ihrem letzten Besuch war sie schüchtern gewesen, aber jetzt zeigte sie das Verhalten einer Katze, die in die Ecke getrieben worden war. „Er ist mein Freund! Mein Bruder, wenn du so willst! Aber ich kann nicht zulassen, dass er dich foltert."

„Foltern?", wiederholte er. „Ich verstehe. Aber wieso willst du mir helfen? Er wird es dir mit Sicherheit nicht danken."

„Darauf kannst du deinen Schwanz verwetten!", bekräftigte sie. (Anm. d. Autors: Ich WEISS, was ihr gedacht habt! Schämt euch!) Dann fluchte sie noch einmal, als das Schloss standhielt, unterbrach sich und sah ihn an. „Aber du bist der erste meines Volkes, mit dem ich reden konnte... und auch wenn ich mir Vans Zorn zuziehe, ich will nicht, dass er dich verstümmelt und tötet."

Einen Augenblick lang versank Llorin in diesen großen, braunen Augen, dann riss er sich zusammen und nahm ihr sanft den Dietrich aus der Hand. „Gib her", sagte er leise. „Ich habe mehr Erfahrung in solchen Dingen." Er probierte einige Male herum, dann sprang das Schloss mit einem Klicken auf. Merle zuckte zusammen und sah zur Tür hin, aber sie blieb zu. Die Wächter hatten nichts gehört. Dann fühlte sie auf einmal Llorins Hand auf ihrer und blickte ihn wieder an.

„Und was jetzt?", fragte er, beinahe amüsiert. Seine Augen schienen zu lachen. „Sollen wir einen Tunnel graben? Das dürfte etwas zu lange dauern."

Ärgerlich schürzte sie die Lippen. „Du sollst mich nicht für ein hilfloses Kind halten!", fauchte sie. „Geh hinter die Tür. Ich werde schreien und mich hier auf dem Boden wälzen. Wenn die Wächter hereinkommen, dann schlüpfst du schnell hinaus. Wenn du die Treppe hinaufrennst, bieg oben links ab und folge dem Gang, bis zu auf einen breiteren stößt. Der führt dich zum Ausgang des Palastes. Und jetzt mach schon! Die Wächter werden sich bald wundern, was ich hier drinnen so lange tue!"

Dennoch blieb er sitzen und starrte sie nachdenklich an. Sie befeuchtete nervös die Lippen. Was wollte er denn noch? Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Als er jedoch eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich, fing ihr Herz so laut zu klopfen an, dass sie befürchtete, die Wächter würden es hören. Wie gebannt starrte sie ihn an.

„Niemals wird das Katzenvolk deine mutige Tat vergessen, Merle", verkündete er ernst. „Und ich erst recht nicht." Dann wandte er sich ab und stellte sich hinter die Tür, bereit für die Flucht.

Merle war drauf und dran, das Bewusstsein zu verlieren, aber sie fing sich wieder und legte sich in die dunkle Ecke des Raumes. Dann führte sie die Kette in diese Richtung und atmete tief durch. Sie schrie. Hoch und, so hoffte sie, gerade laut genug, um die beiden Wächter vor der Tür hereinzulocken, ohne noch weitere Leute zu alarmieren. Zum Glück war das restliche Gefängnis so gut wie leer, sodass es nur noch zwei weitere Wachen gab, die aber in einem anderen Teil stationiert waren.

Einen Augenblick später wurde auch schon die Tür aufgestoßen und die zwei Wächter kamen herein. Beide hielten ihre Piken kampfbereit vor sich. Als sie Merle sahen, die sich wie bei einem Kampf auf dem Boden wälzte, liefen sie sofort zu ihr hin. Gleich darauf wurde sie hochgerissen. Eine kurze Pause entstand, als der Wächter erkannte, dass nur sie da war und kein Gefangener. Dann fuhr er herum und stieß ein Knurren aus.

„Er ist weg!", schrie er seinem Kollegen zu. „Getürmt, als das Katzenweib geschrieen hat! Schlag sofort Alarm!"

Während der andere Soldat sofort losrannte, brachte der bullige Mann Merles Gesicht ganz nah an seines. Es sah sehr, sehr bedrohlich aus. Merle bekam Angst. Auch wenn sie die Spielgefährtin des Königs war, hassten die meisten Menschen das Katzenvolk. Was, wenn...?

„Wo ist er?", fragte der Wächter. „Hast du ihn befreit?" Als Merle jedoch beharrlich schwieg und die Lippen aufeinander presste, zuckte er mit den Schultern. „Wie du willst", meinte er. „Dann werde ich dich eben zum König bringen. Mal sehen, was er dazu sagt, dass seine beste Freundin einem Gefangenen zur Flucht verholfen hat. Ich wusste doch, man darf euch nicht trauen."

Merle sank das Herz, als sie das hörte. Zu Van? Noch heute? Aber andererseits war es vermutlich besser, als wenn dieser Wächter seine Vorurteile an ihr abreagieren konnte. Van würde verstehen, warum sie das getan hatte... hoffte sie jedenfalls, als der Soldat sie die Treppe hinauftrug, einem gewaltigen Donnerwetter entgegen.

„So", schloss Van, als der Wächter seinen Bericht beendet hatte. Er war gerade mit einer Hose bekleidet und wirkte äußerst gereizt, was wohl auch zum Teil daran lag, dass er mitten in der Nacht aus dem Bett geholt worden war. Zwischen den beiden Männern saß Merle mit gesenktem Kopf auf dem Boden und wartete auf den Schiedsspruch. „Was sagst du dazu, Merle? Stimmt es, was der Mann sagt? Hast du dem Katzenmenschen zur Flucht verholfen?"

„Ja", antwortete Merle. Mehr war nicht nötig. Ihre niedergeschlagene Stimme sagte alles.

„Warum?" Vans Stimme klang seltsam. Interessiert und gleichzeitig hintergründig brodelnd. Merles Haare stellten sich vor Angst auf.

„Weil... weil ich nicht wollte, dass du ihn verletzt, Van", gestand sie mit leiser Stimme.

„Warum?", wiederholte er. „Der Mann war ein Feind."

„Aber du bist nicht du selbst, Van", brachte Merle hervor und sah zu ihm auf. Sie fröstelte, als sie seinem Blick begegnete. „Du bist... kalt. So wie damals, als du gegen Dilandau gekämpft hast. Ich hatte Angst davor... zu sehen, dass dir die Folter vielleicht gefällt."

„Aha", sagte Van, verschränkte die Arme vor der Brust und sah zur Decke. „Und deswegen hast du den einzigen Mann entkommen lassen, der uns den Standort der Armee sagen kann? Und der jetzt vermutlich zu seiner Herrin laufen und ihr von uns berichten wird?"

Merle wagte nichts zu sagen. Zitternd blieb sie am Boden sitzen, während Van langsam zum Fenster ging und sich hinauslehnte. Einige qualvoll lange Augenblicke hörte sie nichts, dann schien Van plötzlich mit sich selbst zu sprechen. Sie spitzte die Ohren, obwohl sie gar nicht sicher war, ob sie wissen wollte, was er sagte.

„Du hattest Recht", verkündete er bitter. „Ich kann niemandem hier vertrauen. Die Menschen kennen keine ewige Treue. Erst Hitomi, dann Merle... wer wird mich wohl als nächstes verraten?" Er lachte, ein leises, humorloses Lachen. „Allen? Meine Berater? Oder das ganze Volk? Wann werden sie wohl kommen und den verfluchten Drachenmenschen holen?"

Merle war entsetzt, als sie ihn so reden hörte, aber sie brachte nichts hervor. Mit wem hatte Van da gerade gesprochen? Ewige Treue? Von wem hatte er das? Doch sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Van sich umdrehte und sie musterte. Der Blick gefiel ihr ganz und gar nicht.

„Was soll ich mit dir machen, Merle?", fragte er. „Du hast gegen meine Befehle gehandelt. Weißt du noch, was ich mit den letzten gemacht habe, die das getan haben?" Als sie ihre Augen furchtsam aufriss, schnaubte er. „Beruhige dich! Ich würde dich nie an einen Drachen verfüttern, ich wüsste ja nicht einmal, wo ich einen finden sollte – dank dir."

Sie zuckte zusammen, als sie das hörte und die ersten Tränen tropften auf den Boden. Sie musste wahrhaft ein Bild des Jammers bieten, so wie sie dasaß und heulte. Wenn Llorin sie jetzt so sehen könnte, was würde er wohl dazu sagen? Vermutlich, dass sie stolz alles ertragen sollte. Aber sie war mit Van aufgewachsen. Jetzt diese Worte aus seinem Mund zu hören war... grauenhaft.

Einige Momente lang sagte er nichts. Vermutlich sah er sie an. Dann sprach er mit leiser Stimme weiter: „Wegen dir wird möglicherweise ein Krieg ausbrechen, den wir hätten verhindern können, Merle. Und vielleicht wird auch Farnelia davon ergriffen werden. Du hast absolut verantwortungslos gegenüber meinem Volk gehandelt. Deshalb verurteile ich dich dazu, Farnelia zu verlassen."

Geschockte Stille herrschte nach diesem Urteil im Raum. Ungläubig sah Merle zu ihrem Jugendfreund, ihrem Bruder, ihrem König hin. Aber in seiner Miene zeigte sich nur Schmerz und Enttäuschung. Kein Mitleid. Selbst die Wache hinter ihr schien von diesem Urteil überrascht zu sein, denn auch sie hielt den Atem an.

Dann erwachte sie wieder aus ihrer Starre und warf sich vorwärts, um Vans Füße zu umklammern. „Van!", rief sie panikerfüllt und schluchzend. „Bitte schick mich nicht fort! Nein, Van! Ich tue alles, was du willst! Ich suche Llorin und bringe ihn zurück, aber bitte schick mich nicht fort..."

„Wie willst du ihn denn finden?", fragte er verächtlich. „Wache! Bring sie weg! Gib ihr alles mit, was sie verlangt, aber danach bring sie zum Stadttor und sperr sie aus. Geh zu deinem Volk, für das du mich verraten hast, Merle. Ich hoffe, du wirst dort glücklich." Mit diesen Worten drehte er sich um.

„Van!", schrie Merle, während sie von hinten gepackt wurde. „Du bist meine Familie! Bitte tu das nicht! Bitte!"

Aber Van sagte nichts mehr, während die Wehklagen seiner Freundin langsam auf dem Gang verhallten. Van hatte Mühe genug, den Schmerz zu ertragen, den er sich selbst zufügte, indem er mit seinen Fingern den Stein der Balkonmauer so fest umklammerte, dass die Nägel abbrachen. Wieder einmal tropften Tränen der Wut, gemischt mit Tränen des Schmerzes über seine Wangen. Merle. Seine liebste Freundin. Jetzt hatte auch sie ihn verraten.

Armer Van, erklang die Stimme der Frau wieder in seinen Gedanken. Ich habe dich gewarnt. Die Menschen werden dich immer enttäuschen, selbst die Katzenmenschen. Nur dein Volk wird dich immer willkommen heißen.

„Was soll ich nur tun?", brachte er mühsam hervor. Seine Stimme klang rau.

Komm zurück zu deinem Volk, Van, empfahl die Stimme. Verlass die Menschen und lass deinen Schmerz bei ihnen zurück.

Damit verklang sie wieder und ließ Van allein zurück.

In der nächsten Folge...

Hitomi tröstet die am Boden zerstörte Merle... sie sagt ihr, dass auch Van begreifen wird, warum Merle das getan hat, wenn er wieder der Alte ist... Merle geht los, um ihren Liebsten zu suchen... bei den Zaibachern treffen die ersten Drachen ein... Van verschwindet mit Escaflowne aus Farnelia... als Allen in Asturia ankommt, wird Eries vor seinen Augen getötet... er flieht mit Sherezade aus der Stadt, als auch dort die ersten Drachen erscheinen...

Titel: Der heimtückische Mord