5. Kapitel
Am nächsten Tag hatte sich Galadriel immer noch nicht entschieden was sie tun sollte. Wenn diese Unentschlossenheit nicht bald ein Ende fand, würde Celeborn langsam aber sicher Verdacht schöpfen, darüber war sie sich im Klaren.
Wie ihre Entscheidung auch ausfallen würde, das Risiko Celeborn für immer zu verlieren bestand jedes Mal. Und das war es, was sie so fürchtete.
Es zog sie wieder an den Teich. Jetzt am späten Vormittag beschien die Sonne noch die gesamte Lichtung. Sie legte sich ins weiche Gras um ein wenig den Frieden, der hier herrschte, zu genießen.
Während sie dem Gesang der Vögel in den umliegenden Bäumen und Büschen lauschte, fiel ihr etwas ein, dass ihr ihre Mutter einmal gesagt hatte.
síla an cen
anna le estel.
ae alcenich
e si uireb.
In der vergangenen Nacht hatte sie wieder nur wenig geschlafen, deshalb fielen ihr die Augen zu, noch bevor sie sich daran erinnerte, bei welcher Gelegenheit ihre Mutter das gesagt hatte. Dass ein kleiner orangefarbener Käfer über ihren Arm kroch, merkte sie nicht mehr.
Leise, wie aus weiter Ferne, drang das Weinen eines kleinen Kindes an ihre Ohren. Ruckartig schlug sie die Augen auf, woraufhin das Geräusch an Stärke gewann.
Es dauerte einige Augenblicke bis sie begriff, dass sie sich in ihrem Bett befand. Nur wie war sie dorthin gelangt?
Das Wimmern des Kindes war jetzt ganz nah. Direkt neben ihr. Irritiert blickte sie in die entsprechende Richtung und erkannte ein Kinderbettchen.
Sie fühlte sich erschöpft, doch das andauernde Weinen veranlasste sie dazu etwas schwerfällig aufzustehen und zu der Wiege hinüber zu gehen. Als sie schließlich einen Blick hinein warf, erschrak sie heftig. Dieses Kind konnte nicht älter als wenige Stunden sein. Und es hatte dunkles Haar.
Am liebsten hätte sie sich umgedreht und den Raum so schnell wie möglich verlassen. Doch sie brachte es einfach nicht fertig. Das Neugeborene wimmerte immer noch erbärmlich. Also nahm sie es auf den Arm. Es verstummte augenblicklich, als es die Wärme ihres Körpers spürte.
Da wurde die Tür geöffnet und herein trat Celeborn. Er schenkte ihr ein liebevolles Lächeln, als er sich ihr näherte. Schließlich blickte er auf das Kind in ihren Armen herab. Sein Miene änderte sich mit einem Mal zu überrascht und dann schockiert.
Er sah Galadriel vorwurfsvoll an. Während er sprach wechselte sein Gesichtsausdruck ein weiteres Mal. Er wurde wütend, begann sie anzuschreien. Doch sie konnte seine Stimme nicht hören. Sein Mund bewegte sich zwar, aber es drang kein Laut heraus. Anhand seiner Mimik und Gestik bestand jedoch kein Zweifel an seiner momentanen Stimmung.
Das Kind in ihren Armen fing wieder an zu weinen, aufgeschreckt vom stummen Toben Celeborns. Er schien das jedoch gar nicht wahr zu nehmen, schrie sie weiterhin an. An seinen Lippen konnte sie erkennen, dass mehrmals das Wort Bastard fiel, auch wenn sie es nicht hörte.
In dem Moment, in dem sie glaubte, er würde sie schlagen, drehte er sich um und verließ eilig den Raum. Hinter ihm fiel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss.
Mit einem kurzen Aufschrei fuhr Galadriel in die Höhe. Sie lag nach wie vor im Gras am Ufer des Teichs. Es war nur ein Traum gewesen. Ein schlimmer Traum. Aber die Bilder, die sie in ihrem Geist immer noch deutlich sah, übermittelten eine eindeutige Botschaft.
Angst stieg in ihr auf. Sie würde Celeborn verlieren, wenn dieses Kind zur Welt kam.
Plötzlich vernahm sie eine Stimme. Sie erkannte sie auch sofort als Silmariels. Vermutlich suchte ihre Freundin nach ihr. Doch sie fühlte sich nicht in der Lage jetzt mit ihr zu sprechen. Der Traum hatte sie vollkommen aufgelöst.
So schnell sie ihre Beine trugen rannte sie weiter in den Wald hinein. Tränen verschleierten ihren Blick. Hin und wieder streiften sie Zweige, manche hinterließen Kratzer auf ihrer Haut.
Unvermittelt spürte sie einen Widerstand. Eine dicke aus dem Boden ragende Wurzel brachte sie zu Fall. Sie schaffte es gerade noch den Sturz mit den Händen aufzufangen. Als sie wieder aufstehen wollte, gaben ihre Knie nach.
Ihr Blick fiel zufällig auf einen Brombeerstrauch, der sich in ihrer greifbaren Nähe befand. Aber nicht die kleinen blauschwarzen Früchte waren es, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen, sondern die einige dunkelgrüne Blätter dort wo der Busch aus der Erde kam. Erst bei genauerem Hinsehen, war zu erkennen, dass diese kein Teil des Strauches waren, sondern ein eigenen Gewächs.
gwathsalab.
Wie von selbst griff Galadriel nach einem kleinen Zweig mit einigen dunklen Blättern. Dass die Dornen des Brombeerbusches ihre Hand zerkratzten, schien sie nicht zu bemerken.
Langsam drehte sie das gwathsalab zwischen ihren Fingern. Nur eines der schwarzgrünen Blätter vermochte ihr Problem zu lösen.
Die Übersetzung des Spruches:
Denke dir einen Stern.
Er leuchtet für dich,
gibt dir Hoffnung.
Auch wenn du ihn nicht siehst,
ist er immer da.
gwathsalab = Schattenkraut
