Titel: Rape me
Teil: 1-20
Autor: Shinigami und Koryu
E-Mail: Louis_Angel@gmx.net und koryu@gmx.at
Warnung: violence, language, confusion (nicht unbedingt alles in diesem Teil)
Fandom: Reality
Rating: PG-16
Inhalt: Chris entdeckt auf dem Weg zur Uni Otoko, der bewusstlos am Boden liegt, und hilft ihm. Und genau das stellt sich als großer Fehler heraus, wie er später lernen muss.

1.

Es war ein verschneiter Mittwoch Morgen, als Christos Neeson mal wieder zu spät zur Psychologie-Vorlesung kam. Dank seinem Wecker, der aus unerfindlichen Gründen nicht geklingelt hatte, war die Straßenbahn vor seiner Nase abgefahren und jetzt musste er durch die Massen von nassem grauen Schnee rennen, um wenigstens noch ein paar Fetzten von dem Vortag aufzuschnappen. Natürlich hatte der Wecker geklingelt. Und wäre Chris nicht bis in die frühen Morgenstunden mit seiner Clique durch die Straßen von New York gewandert, hätte er ihn auch gehört. Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Er musste sich beeilen.

Chris rannte gerade um eine Ecke, als er über etwas stolperte und zu Boden fiel. "Scheiße!", fluchte er ungehalten und richtete sich wieder auf. Über was war er da geflogen? Als er sich umdrehte, entdeckte Chris keinen Müllsack, wie zuerst vermutet, sondern einen eingeschneiten Körper, der zusammengerollt im Dreck lag. Zuerst überlegte er, ob er einfach weitergehen sollte. Was kümmerte ihn schon ein Penner? Chris sah auf die Uhr. Sie zeigte an, dass seine Vorlesung in 5 Minuten zu Ende sein würde. Er konnte es also gar nicht mehr rechtzeitig schaffen. Seufzend kniete er sich neben dem schmächtigen Körper hin und strich den Schnee von dem verschrammten Gesicht. Erst jetzt erkannte er, dass die Gestalt im Schnee ein Junge war. "Hey, Kleiner... "

Jammernd drehtet der Junge sein Gesicht zur Seite. Seine Lippen waren schon ganz blau und er begann sofort, nachdem ihn Chris berührt hatte, zu zittern. Ein leichtes Husten drang aus dem bebenden Mund, doch die Augen blieben fest geschlossen.

/Was kümmert er mich? Es ist nur ein Penner.../ Trotz dieser Gedanken brachte es Chris nicht übers Herz, den Jungen liegen zu lassen. Also nahm er ihn in die Arme und trug ihn aus der Gasse zurück in die Gegend, wo er wohnte. /Ich kann ihn doch nicht mit nach Hause nehmen, er ist vollkommen dreckig.../ Da ihm aber keine andere Möglichkeit einfiel, blieb Chris nichts anderes übrig, als genau das zu tun.

Auf einmal stöhnte der Junge auf. Er zuckte in Chris' Armen zusammen und schnappte nach Luft. Als Chris nach unten sah, starrte ihn ein eisblaues Augenpaar an.

Chris grinste dümmlich und als er sich dessen bewusst wurde, änderte sich sein Gesichtsausdruck und wurde wieder kühl, so wie man es von ihm gewohnt war. "Na, endlich wach?", fragte er, während er den Jungen im Bad auf einem Handtuch ablud. Er hatte das Bad ausgewählt, weil es von allen Räumen im Haus am leichtesten zu reinigen war... Und der Junge, dreckig wie er war, würde schon dafür sorgen, dass er heute mindestens eine Stunde mit Putzen verbringen dürfte, dessen war er sich sicher.

Der Junge zog seine Beine an. "W...wer bist du?", fragte er mit heiserer Stimme. Er hatte den Jungen vor sich noch nie gesehen. Flüchtig hastete sein Blick durch den Raum. "Wo bin ich h-?" Hustend brach er den Satz ab.

"Bei mir, im Bad." Chris hantierte an der Badewanne herum und ließ Wasser ein. "Und jetzt sieh zu, dass du die Sachen ausziehst.", fügte er schroff hinzu und legte alles für das Bad zurecht.

Zitternd verzog sich der Junge in die Ecke des Bades. "Lass mich in Ruhe!", presste er fast ängstlich hervor. Nervös huschten seine Hände in die Taschen des langen schwarzen Mantels.

"Jetzt stell dich nicht so an!" Chris drehte sich zu dem Jungen um und mit wenigen Handgriffen hatte er seine Kleidung gänzlich entfernt. Er hob den sich wehrenden Jungen hoch und setzte ihn in die Badewanne, als wäre er ein kleines Kind, das nicht gebadet werden wollte. Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck und auf seinen Lippen erschien ein fast warmes Lächeln. "Na also, war doch gar nicht so schlimm..."

"Fass mich nicht an! Was tust du da eigentlich?! Lass mich hier raus!!" Der Junge starrte Chris wütend an. "Sieh mich nicht so an!", schrie er und versuchte staksig aufzustehen, doch er hatte seine Rechnung nicht mit dem rutschigen Boden der Badewanne gemacht und prompt lag er wieder in der Wanne. Natürlich war jetzt aber nur noch die Hälfte des Wassers darin.

Sofort wich das Lächeln aus Chris' Gesicht, als er von oben bis unten mit Wasser bespritzt war und seine schulterlangen dunklen Haare ihm strähnig ins Gesicht hingen. "Was bildest du dir eigentlich ein?", murmelte er, während er auf den Jungen zu ging. Er packte und drückte ihn mit dem Kopf in das restliche Wasser, strubbelte ihm durch die Haare, um den gröbsten Dreck heraus zu bekommen, und zog ihn wieder nach oben. Dann nahm er eine Flasche Shampoo, drückte sich davon eine großzügige Menge in die Hand und wusch grob die Haare des Jungen. Erst nachdem er damit fertig war, ließ er ihn wieder los. "So, wäscht du dich jetzt selbst oder muss ich das auch noch machen?"

Erbost schlug der blonde Junge die Flasche Duschgel vom Badewannenrand. "Wer hat dir gesagt, dass ich mich waschen will?! Lass mich einfach in Ruhe!! Ich brauche dich nicht!"

"Man sollte dich in eine Zwangsjacke stecken." Wieder etwas gelassener begann Chris damit, den Jungen jetzt von Kopf bis Fuß zu waschen, ungeachtet der Schläge, die dieser ihm verpasste. Nachdem das Wasser nur noch eine graue Brühe war und man sogar die helle Haut des Jungen erkennen konnte, hob er ihn aus der Wanne und wickelte ihn in ein Handtuch. "Du tust so, als würdest du an dem Dreck hängen..." Kopfschüttelnd ließ Chris das Wasser ab.

Zitternd schlang der frisch gewaschene Junge die Arme um seinen Körper. "W-wieso tust du das? Lass mich einfach in Ruhe, verdammtnochmal... du bist doch krank!" Er sank wimmernd zu Boden. "...K-k.... kuso..." Steif robbte er zu seinem Mantel und keuchte. Mit zitternden Händen wühlte er in seinen Manteltaschen herum.

"Ich frage mich, wer von uns beiden krank ist..." Mit einem abschätzenden Lächeln lehnte Chris sich gegen die geschlossene Tür. "Ich weiß, was du suchst... Du wirst es nicht finden."

Ruckartig fuhr der Junge zu Chris herum. Seine eisblauen Augen ließen selbst seinem Gegenüber das Blut in den Adern gefrieren. "Gib es gefälligst zurück!! Du Dreckskerl!!" Wieder keuchte er, als ein neuer, noch heftigeren Krampf seine Beinmuskeln zusammenzucken ließen.

"Armer Irrer..." Chris sah auf den Jungen, der sich am Boden krümmte, herab, rührte sich aber nicht von der Stelle. "Weißt du, du solltest mir eigentlich dankbar sein. Aber so etwas kennst du wohl gar nicht, wie?" Natürlich erwartete er keine Antwort. Chris fragte sich, was er jetzt mit dem Jungen anstellen sollte. Darüber hatte er sich noch gar keine Gedanken gemacht. Nun ja, die Drogen würde er ihm auf keinen Fall zurückgeben... Was er damit anfangen wollte, wusste er noch nicht, aber das war jetzt erst einmal unwichtig. Erst einmal musste er den kleinen Quälgeist beruhigen.

Die sonst so fragilen Hände des Jungen schlangen sich hart um Chris' Bein. "Gib sie mir zurück!!!", schrie er erneut und seine Stimme überschlug sich. "Sie gehören mir!! Hörst du?! Mir!! Ich habe sie gekauft!! Ich habe ein Recht auf sie!!" Erneutes Keuchen. Seine Finger bohrten sich unterdessen richtiggehend in Chris' Beine. "....Bitte...", japste der Junge und schnappte abermals nach Luft.

Chris löste die Hände des Jungen mit ein wenig Anstrengung von seinem Bein, schnappte sich den Gürtel des Bademantels und band seine Handgelenke fest zusammen. "Jetzt reicht es! Hör endlich auf, dich hier wie irgendein Psycho aufzuführen!" Da ihm der Junge nun nicht mehr gefährlich werden konnte, machte er sich daran, die Unordnung im Badezimmer etwas aufzuräumen. /Alles total verdreckt. Warum habe ich ihn nur mitgenommen?/

Wie ein Häufchen Elend lag der Junge am Boden und flüsterte leise: "N-nur einen Schuss... bitte... Ich halte das nicht aus... Sie kommen zurück... Ich will sie nicht..." Er lallte noch einige andere Dinge vor sich hin, die man aber nicht verstehen konnte, da er sie wohl selbst nicht verstand. Wimmernd presste er die Augen zusammen.

Nach einer Weile hatte Chris das Chaos im Bad halbwegs besiegt und wandte sich wieder dem Jungen auf dem Boden zu. Er sah ihn nachdenklich an, überlegte, ob er ihn einfach rausschmeißen oder sich weiter um ihn kümmern sollte. Er entschloss sich für die zweite Möglichkeit, auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, warum. Also nahm Chris das zitternde Bündel Mensch und legte ihn, immer noch in ein Handtuch gewickelt und mit dem Bademantelgürtel gefesselt, auf sein Bett. Gott sei Dank war seine Mutter beim Einkaufen und sein Bruder Neal in der Schule. Sein Vater war, wie so oft, auf Geschäftsreise. Behutsam strich er einige Strähnen aus der Stirn des Jungen, der jetzt mehr als mitleiderregend aussah.

Blitzschnell griff der Junge nach Chris' Hand. Seine blassen Lippen bewegten sich kaum, als seine heisere Stimme leise durch die Stille drang. "...I-ich brauche... sie... bitte... ich... bitte... ich tue alles..."

"Du bekommst sie nicht.", antwortete Chris unnachgiebig. Er schaute auf die Uhr. Es war gerade mal 10 Uhr und er hatte also noch Zeit, bis seine Mutter oder Neal nach Hause kommen würden. Chris packte sein Lunchpaket aus und hielt es dem Jungen hin. "Magst du?"

Missbilligend drehte der Junge den Kopf zu Seite. "...St-stopf dir das Z-zeug sonst wo hin...", keuchte er mit aller Mühe. Erneute Krämpfe hinderten ihn am Weitersprechen und er krümmte sich heulend zusammen. Zu allem Überfluß gesellte sich zu den Krämpfen auf noch der Husten, den er sich in der Eiseskälte aufgeschnappt hatte. Panisch zerrte er an dem Bademantelgürtel, jedoch ohne Erfolg. Er war zu entkräftet.

Chris seufzte. Dann holte er seinen Rucksack, den er mit in die Uni nehmen wollte, hervor und setzte sich an seinen Schreibtisch, um ein paar Aufgaben zu machen, bis der Junge sich wieder soweit beruhigt hatte, so dass man mit ihm normal reden konnte. Er hatte nicht die Absicht, ihn die Nacht über hier zu behalten, das wäre ihm viel zu riskant gewesen. Trotzdem wollte er ihn nicht einfach gehen lassen.

Der Junge flehte und bettelte Chris um seine Drogen an. Wenn er von Krämpfen geschüttelt wurde, schrie er seinen Gastgeber an und beschimpfte ihn, doch all das half ihm gänzlich wenig. Nach einer Weile begann er auch zu frieren und zitterte leicht, doch das war ihm egal. Das einzige, was er wollte, war sein Stoff.

Bald wurde es Chris zu blöd. Er warf eine Decke über den frierenden Jungen und verließ sein Zimmer, um im Wohnzimmer weiterzulernen. Gegen Mittag bekam er solchen Hunger, dass er sich nicht mehr konzentrieren konnte und machte sich etwas zu Essen. Erst dann fiel ihm sein 'Besuch' wieder ein und er beschloss, dass es besser wäre, nach ihm zu sehen.

Als er den Kopf in sein Zimmer streckte, musste er erst einen Augenblick nach dem Jungen suchen, bevor er ihn fand. Denn der hatte sich, wie schon im Bad, in die hinterste Ecke verkrochen. Die blauen Augen starrten unbeweglich vor sich hin.

Chris kniete sich vor den Jungen und hob sein Kinn hoch, damit dieser ihn ansah. "Hey, jetzt mach nicht so ein Theater wegen dem bisschen Stoff. Es war sowieso kaum etwas." Dann hörte er, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. "Mach keinen Mucks!", zischte er dem Jungen zu, ging aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Warum verheimlichte er seiner Mutter überhaupt, dass der Kleine in seinem Zimmer war? Sonst konnte er ihr doch auch immer vertrauen... Aber es gab auch Sachen, die seine Mutter lieber nicht erfahren sollte und der Junge gehörte wohl dazu.

Ein kleines Lächeln umspielte die Lippen des Jungen. "...doch nicht....", wisperte er und sein Lächeln verzog sich zu einer grinsenden Grimasse.

Innerhalb der nächsten fünf Minuten versuchte er seiner Mutter zu erklären, warum er nicht in der Universität war, obwohl sie ihn doch extra darauf aufmerksam gemacht hatte, dass dieser Vortrag sehr wichtig für ihn war. Dann kam plötzlich aus Chris' Zimmer ein dumpfes Poltern.

"Ist noch jemand hier?", fragte Juliette, seine Mutter.

"Ähm... nein. Ich habe wohl den CD-Player angelassen...", redete sich Chris raus und war im nächsten Augenblick die Treppe nach oben gesaust. Wütend betrat er sein Zimmer, um dem kleinen Kerl mal gehörig seine Meinung zu sagen.

Wie ein verängstigtes Kind stand dieser mitten im Zimmer mit der kaputten Schreibtischlampe in den Händen und starrte Chris an. "...I-ich...", krächzte er, aber das war auch schon alles, was er herausbekam. Als ob er Angst vor Chris hätte, wich er einige Schritte zurück und stieß sogleich eine von Chris' Topfpflanzen um. Eilig stopfte er die herausgefallene Erde wieder in den Behälter.

Chris' Gesicht nahm einen noch wütenderen Ausdruck an, als es sowieso schon hatte. Mit einem beinahe hasserfüllten Blick sah er den Jungen an und schloss die Tür hinter sich, ohne ihn aus den Augen zu lassen. "Du legst es also wirklich auf Ärger mit mir an..." Erst sah es so aus, als ob Chris seine Wut wirklich an dem Jungen auslassen wollte, doch dann beruhigte er sich ein wenig und fing an, die Unordnung in seinem Zimmer aufzuräumen. Dabei murmelte er leise Worte, welche das Ganze fast wie eine Beschwörung wirken ließen. Beinahe liebevoll betrachtete er sein Zimmer, als es wieder ordentlich wie sonst war und wandte sich dann zu dem Jungen, der zitternd in der Ecke stand, um. "Wieso tust du das alles? Ich helfe dir und was tust du? Du zerstörst mein Zimmer, dass es so aussieht, als ob ein Blitz eingeschlagen hätte."

Nun zitterte der Junge nur noch mehr und wandte den Blick ab, um Chris nicht in die Augen sehen zu müssen. "...D-das... ich habe... nicht... es war ein... Unglück... i-ich habe nur... mei-meine Sachen gesucht... wirklich... ich wollte nichts stehlen..."

"Nun hör mal, Kleiner. Ich habe dir gesagt, dass du deinen Stoff nicht mehr zurückbekommst und dabei bleibt es. Und jetzt hör damit auf, hier alles in eine Müllhalde zu verwandeln, sonst kann es sein, dass ich wirklich noch ausraste." Chris strich sich seine mittlerweile wieder trockenen Haare hinter die Ohren und setzte sich auf sein Bett. "Geht es dir wieder soweit gut, dass man mit dir normal reden kann?"

Wütend guckte der Junge Chris an. "I-ich hab dir gesagt, dass ich es nicht mit A-absicht gemacht habe!! Ich will nicht mir dir reden!...", keifte er und drehte sich zu der Türe. Er griff nach der Türklinke und wollte sie öffnen, aber so weit kam es nicht.Chris hatte den Arm des Jungen gepackt und hielt ihn fest. "Jetzt kannst du nicht gehen. Einmal, weil meine Mutter dich sehen wird und ich ihr deinen Anblick ersparen möchte und außerdem hast du nichts außer einem Handtuch an, falls dir das noch nicht aufgefallen ist." Mit einem Ruck lag der Junge neben Chris auf seinem Bett. "Ich lasse dich gehen, aber nicht jetzt, ok?"

Der Blick des Jungen war nun erschrocken und wütend zugleich. "Ich gehe, wann ich will! Ich bin nicht dein Sklave!......" Plötzlich erschauderte der Junge und seine Augen verloren jegliche Emotionen. Glasig richteten sie sich wieder auf Chris' Gesicht.

Der war etwas erschrocken, als der Junge ihn so anschaute. "Warum siehst du mich so an?"

"...Wen stört es, wie ich dich ansehe?...", fragte er leise und tonlos. Immer noch war keine Regung in den Augen zu sehen. Sie schienen wie tot.

"Du bist wirklich ein seltsamer Kerl...", meinte Chris und stand auf, um die Sachen des Jungen aus seinem Bad zu holen. Als er wieder kam, hatte der sich scheinbar um keinen Millimeter bewegt. /Der ist ja noch schlimmer als Neal.../ Er reichte dem Jungen seine Sachen und löste den Bademantelgürtel von seinem Handgelenk. "Hier, zieh dich an!"

Der Junge setzte sich sogleich auf und griff nach seinen Kleidern. Ohne jede Scham zog er das Handtuch von sich und begann, die immer noch feuchten Kleider an zuziehen. Die Augen waren dabei starr auf den Boden gerichtet und schienen gar nichts richtig wahrzunehmen.

Angewidert verzog Chris das Gesicht. Wieso hatte er dem Kleinen seine dreckigen Sachen nicht im Bad anziehen lassen? Das musste er sowieso noch putzen. Aber jetzt beschmutzte er auch noch sein Zimmer. Der Körper des Jungen war in dem selben Zustand, wie seine Kleider, nur, dass er nicht mehr dreckig und nass war. Er war von Schrammen übersät und sah seinem zerfetzten Mantel erschreckend ähnlich. Mitleid überkam Chris, doch er mahnte sich selbst zu Vernunft. Er hatte diesem was auch immer er war schon mehr als genug geholfen.

Als der Junge fertig angezogen war, stellte er sich vor Chris. Seine Haltung war eher gebückt, als etwas anderes. Die Augen, die denen von Huskys glichen, sahen Chris tot aber doch irgendwie durchdringend an. "...Willst du mich nicht bestrafen?... Habe ich dir nicht genug angetan?"

/Bestrafen? Habe ich ihm etwa so viel Angst eingejagt?/ "Ich will dich doch nicht bestrafen, Kleiner." Chris ging leise aus dem Zimmer, sah nach, wo seine Mutter sich aufhielt und kam wieder zurück. "Sie ist gerade im Schlafzimmer. Wenn du dich beeilst, können wir es schaffen, ohne dass sie dich sieht." Ohne eine Antwort abzuwarten nahm er den Jungen am Arm und zog ihn aus dem Zimmer den Flur entlang.

Der ließ sich leicht mit sich ziehen und sträubte sich nicht gegen Chris. Als sie an der Türe angekommen waren, drehte er sich allerdings mit einem kranken Lächeln um und schrie: "Leben sie wohl, Miss! Danke für ihre Gastfreundschaft..." Dann drehte er sich Chris zu und verbeugte sich.

Chris sah ihn nur wütend an und schlug die Haustüre vor der Nase des Jungen zu. "So ein Arsch...", murmelte er böse, während er wieder durch den Flur ging, seine Mutter, die fragte, wer das eben war, ignorierte und sich daran machte, das Bad zu putzen.

2.

Am nächsten Tag stand eine durch und durch nasse Person vor der Türe der Neesons. Erst wartete der Fremde eine Weile einfach nur, bevor er sich endlich dazu durchringen konnte, zu klingeln.

Etwa fünf Minuten lang passierte gar nichts. Dann hörte man Schritte die Treppe hinunterpoltern. Wenige Sekunden danach wurde die Tür schwungvoll geöffnet und etwa 170 cm großer Junge mit drei Millimeter langen dunkelblonden Haaren in einem schlabberigen und viel zu großen T-Shirt, das aussah, als wäre aus dem Haufen für Schmutzwäsche herausgekramt worden, stand in der Tür. Der Junge selbst blickte den Fremden äußerst genervt an. Anscheinend war er gerade bei etwas sehr wichtigem gestört worden, denn er hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, sich eine Hose anzuziehen. "Was ist?", fragte er lahm.

Müde wurde er von dem Fremden beäugt. "Und? Bist du gekommen?..." Ein kurzes kratziges Lachen war zu vernehmen. "Dein Bruder hat mir etwas weggenommen und das will ich mir nun zurückholen."

Neal betrachtete den Fremden misstrauisch. /Was ist denn das für ein Idiot? Na ja, wenn er auf dieses Niveau herunter gehen will, bitte./ "Wenn du deine Unschuld zurück willst, dann muss ich dich enttäuschen. Das ist leider unmöglich.", meinte er grinsend.

"So?" Der Fremde trat einen Schritt näher. "Und wenn ich mir einfach deine nehme?" Blitzschnell packte er Neals Arm. "Jetzt lass mich rein oder ich werde sie dir gleich hier nehmen, Süßer!", fauchte er und seine Augen blitzten den Jüngeren gefährlich an.

Erst sah Neal den Fremden seltsam an, überlegte, wie ernst die Worte gemeint waren, dann fing er an zu lachen. "Du bist einer von Chris' kranken Freunden... Hör zu, du kannst rein, wenn er da ist, aber vorher nicht."

"Ich will aber jetzt rein!", knurrte der Fremde. "Er hat es mir einfach so weggenommen, ich will ihn nicht noch anbetteln müssen, um es zurück zu bekommen!"

"Da hast du eben Pech gehabt...", presste Neal heraus, als sich der Griff um seinen Arm verstärkte. Er trat dem Fremden, der augenblicklich losließ, in den Bauch und schlug die Haustür zu. "Wenn du Ärger mit Chris hast, dann kläre das mit ihm persönlich!", schrie er durch die geschlossene Tür.

Sich den Bauch haltend saß der durchnässte auf dem Boden vor dem Haus. Er hatte schon längere Zeit nichts mehr gegessen und dieser Tritt brachte nun ein noch unangenehmeres Gefühl mich sich, als er es ohnehin hatte. Wütend rappelte er sich wieder auf und setzte sich dicht unter die Tür, um wenigstens nicht noch nasser zu werden.

"Verschwinde, du Penner, sonst rufe ich die Polizei!!", rief Neal, als er merkte, dass der Fremde jetzt vor der Haustüre saß. Wütend riss er sie wieder auf. "Hau endlich ab!", fauchte er.

Gleichgültig blickte der Fremde auf. "Du hast gesagt, ich kann zu ihm, sobald er da ist... Ich warte hier nur auf ihn..."

"Er kommt erst heute Abend zurück. So lange kannst du nicht hier bleiben!"

Schweigend starrte er Neal an. Er rührte sich keinen Zentimeter, schien, wie eingefroren zu sein.

"Ich rufe die Polizei und die steckt dich ins Gefängnis.", drohte der nicht gerade schmächtige Fünfzehnjährige.

Mit einem Seufzen erhob sich der Störenfried und putzte sich ein wenig Schmutz vom Mantel. "Schenke ihm das von mir...", sagte er und beugte sich zu Neal runter. Seine Lippen berührten nur flüchtig dessen Wangen, dann drehte sich der Fremde um und verließ das Grundstück.

Angewidert wischte sich Neal mit dem Handrücken über die Wange. /Ekelhaft.../ "Pff, ich küsse meinen Bruder doch nicht..." Er drehte sich um und trat die Tür mit dem Fuß zu. /Wie kann man nur so jemanden zum Freund haben?/

Der Fremde schlurfte einige Straßen weiter und setzte sich dann in ein geheiztes Warteräumchen einer Busstation.
Es war gegen Mitternacht, als Chris aus der Straßenbahn stieg. Nach der Uni war er noch mit seiner Clique etwas trinken gegangen und hätte er morgen nicht eine Vorlesung, dann würde er sich jetzt immer noch in der Bar sitzen. In dem kleinen Wartehäuschen saß eine schlafende Person und Chris erkannte sofort den Jungen von dem gestrigen Tag wieder. /Verfolgt er mich etwa?/

Zusammengekauert schlotterte der Junge vor sich hin, denn obwohl das Wartehäuschen geheizt war, wurde das kleine bisschen Wärme von der Kälte des Winters zu Nichte gemacht.

/Ich habe kein Mitleid!!!/ Mühsam riss sich Chris von dem Anblick los. Der Junge hatte ihm schon genug Ärger gemacht, davon hatte er genug. Also ging er wieder aus dem Wartehäuschen heraus und trottete mit den Händen in den Hosentaschen nach Hause. Als er die Haustüre aufgeschlossen hatte und hereinkam, entdeckte er seinen Bruder auf der Treppe, der anscheinend auf ihn wartete. "Was ist?", fragte er und zog in der Garderobe seine Jacke und seine Schuhe aus.

"Da war so ein Penner, der sagte, dass er etwas von dir zurück haben will... Und ich soll dich von ihm küssen, aber das mache ich nicht."

/Küssen? Warum denn küssen?/ "Danke...", gab Chris müde von sich und torkelte leicht betrunken ins Bad und später ins Bett, wo er erschöpft einschlief.
Etwa gegen zwei Uhr wurde er allerdings von der Haustürklingel wieder geweckt. Irgend jemand schien mit dem Geklingel gleich die ganze Nachbarschaft wecken zu wollen, denn der Klingelton brach nicht einmal ab, bis die Türe offen war.

Chris packte den Störenfried, den er sofort erkannte, am Hals und zog ihn von der Klingel weg. "Hast du sie nicht mehr alle?", zischte er leise.

Der Junge lächelte Chris an. "I-ich wollte eigentlich schon früher kommen, aber ich bin eingeschlafen. Sorry..."

Mit einem genervten Gesichtsausdruck zerrte Chris den Jungen herein und schloss die Tür hinter ihm. "Sei bloß leise! Normale Menschen schlafen um diese Zeit." Sein Griff lockerte sich nicht, während er sprach. "Wenn du deinen Stoff willst, den habe ich nicht mehr."

Das Gesicht des Jungen verzerrte sich wütend und seine Hände schossen sich um Chris Handgelenke. "Schwein!", zischte er. "Dann schuldest du mir fünfzig Dollar!"

"Und du schuldest mir dein Leben, also sind wir quitt. Da du das jetzt weißt, kannst du ja wieder gehen." Damit drängte Chris den Jungen wieder in Richtung Tür.

Verbissen krallte der sich an die Wand. "Wer sagt dir, dass ich noch leben will?!", keifte der Fremde und sah Chris wütend an.

Um den Jungen daran zu hindern, weiter so laut im Haus herum zu schreien, presste Chris seine Hand auf dessen Mund. "Wenn du nicht leben willst, dann bring' dich doch um, Idiot!"

Kurzerhand zog der Junge die Ärmel seines armseligen Mantels nach hinten und zeigte Chris die mit tiefen Narben übersäten Arme. Flüchtig biss er Chris in die Hand, damit der ihn wieder zu Wort kommen ließ. "Hab ich es nicht schon genug versucht?!"

Chris war allerdings mehr mit seiner Hand beschäftigt, als mit dem Jungen. "Dann probier es eben noch einmal...", meinte er abwesend und betrachtete den Gebissabdruck des Fremden auf seiner Hand. /Gott sei Dank hat es nicht angefangen zu bluten. Aber desinfizieren sollte ich es trotzdem.../

"Dann hilf mir dabei!" Die Augen des Jungen hatte wieder jegliches Leben verloren und blickten Chris starr an.

Hatte Chris sich verhört oder hatte der Fremde ihn tatsächlich darum gebeten, ihn umzubringen? "Du spinnst doch. Such dir dafür jemand anderen, ich bin kein Auftragskiller."

"Du bist derjenige, der mir mein Leben gerettet hat. Es gehört dir... Bitte nimm es."

Chris machte einen verächtlichen Laut. "Ich will es nicht. Geh und verreck' in der Gosse, aber lass mich damit in Ruhe. Außerdem möchte ich wieder ins Bett, also wärst du so gütig und würdest bitte verschwinden?"

Der Junge krallte sich augenblicklich an Chris. "Nein! Bitte schick mich jetzt nicht weg! Ich weiß, dass ich nichts wert bin, aber du hast mir das Leben gerettet! Bitte hilf mir!"

"Nein!", fauchte Chris. "Du hast recht, du bist nichts wert, also gehörst du hier nicht hin. Verschwinde endlich!"

Der Junge zuckte unter Chris' Wörtern zusammen. Dann hob er langsam den Kopf. "Ich werde nicht aufgeben, bis ich das habe, was ich wollte... Ich verdiene den Tod noch nicht..."

"Blöder Psycho..." Mit diesen Worten öffnete Chris die Haustür und stieß den Jungen, dessen Namen er nicht kannte, hinaus. /Idiot. Soll er sich doch jemand anderen suchen, der ihn umbringt.../

Kaum hatte Chris den Junge rausgeschmissen, stand der auch schon wieder auf den Beinen und klemmte die Hand zwischen die Tür und den Rahmen. "Warte!", schrie er und presste die Augen zusammen, als die Haustüre zuschwang.

"Was ist denn noch?", fragte Chris genervt. Er wollte endlich wieder schlafen und sehnte sich nach seinem warmen Bett.

"...Willst du mich wirklich vor deiner Haustüre erfrieren lassen?", fragte der Junge unschuldig.

"Nein. Ich rufe die Polizei, wenn du nicht abhaust. Erfrier' woanders, wenn du es unbedingt willst."

Endlich ließ der Junge die Hand sinken. "Die Polizei rufen? Ist das alles was ihr könnt?", fragte er bitter.

Ein unangenehmer Stich ins Herz ließ Chris zusammenzucken. "Ich kann dich nicht hier schlafen lassen, verdammt. Versteht das doch."

"Wieso nicht? Rufen dann deine Eltern die Polizei? Oder ruft etwa die dämlich pingelige Ordnung in deinem Zimmer die Polizei?"

"Was verstehst du schon? Um dich hier schlafen zu lassen müsste ich dir vertrauen und du müsstest selbst wissen, dass du nicht sehr vertrauenserregend bist."

Der Junge senkte den Kopf. "Sicher... Ich könnte dich ja umbringen, so schwach wie ich bin..."

Einen Moment lang überlegte Chris, dann öffnete er die Tür wieder. "Unter zwei Bedingungen. Erstens, du ziehst das dreckige Zeug aus und zweitens, ich werde dich wieder fesseln. Glaub nicht, dass ich ohne Vorkehrungen neben einem Psycho wie dir schlafen werde."

Der Kiefer des Fremden begann zu zittern. "W-wirklich? I-ist das dein Ernst?"

/Nein, ich habe einfach zu viel getrunken./ "Ja und jetzt sei endlich still." Chris zog den Jungen herein, schloss die Tür hinter ihm und verriegelte sie. Dann nahm er den Arm des Fremden und zog ihn die Treppe nach oben. "Wie heißt du eigentlich?"

"O-otoko.", stammelte der Junge fast ein wenig überrumpelt. /Wieso tut er das für mich?/

Als sie im Zimmer angekommen waren, schloss Chris die Tür ab und hängte sich den Schlüssel an einer Kette um den Hals. Dann warf er Otoko ein T-Shirt hin, setzte sich mit einem Gürtel in der Hand auf sein Bett und wartete.

Otoko zog erst seinen Mantel aus, dann sein dünnes, verlöchertes Shirt und die zerrissenen Jeans. Leicht zittrig griff er nach dem T-Shirt und zog es sich über. Natürlich ging er fast darin unter, weil es ihm zu groß war, aber Chris war ja auch größer als er. Mit einem Nicken signalisierte er Chris, dass er fertig war.

Der stand auf und schloss den Gürtel eng um die Handgelenke des Jungen. Dann stellte er seinen Wecker auf 8 Uhr, denn um 11 Uhr hatte er eine Vorlesung und legte sich ins Bett.

"G-gute Nacht...", stammelte Otoko und lehnte sich an die große Kommode.

Chris murmelte etwas Unverständliches, griff nach Otokos Arm und zog ihn zu sich ins Bett. Eng an den schmächtigen Körper gekuschelt schlief er kurz darauf ein.

Otoko aber konnte nicht schlafen. Er war völlig aufgewühlt von Chris' Verhalten und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er starrte den anderen Jungen verwirrt an, bis ihm um sechs Uhr die Augen zu fielen.
Zwei Stunden später klingelte der Wecker laut und nervtötend. Dazu kam das Klopfen und die Stimme seines Bruders, der schrie, dass Chris endlich den verdammten Wecker ausschalten solle.

Chris wachte trotzdem nicht auf.

Konfus starrte Otoko um sich. /Wo bin ich hier?/ Dann erkannte er Chris' Gesicht vor sich und erschrak noch mehr. Er wäre sogar aus dem Bett gefallen, wenn er sich nicht in letzter Sekunde an Chris geklammert hätte

Der schlief seelenruhig in seinem Bett und ließ sich von dem Krach, der im ganzen Haus herrschte, nicht stören.

"Du verdammter Idiot, mach das blöde Teil aus!", schrie Neal durch die geschlossene Tür. "Mama, sag Chris, er soll seinen Wecker ausschalten!", hörte man ihn von weiter weg noch maulen.

"Chris, hörst du? Mach deinen Wecker aus und steh auf, mein Schatz, ja?", rief seine Mutter von unten.

/Chris?.../ Otoko griff so gut es ging nach Chris Kopf und holte tief Luft. "Chriiiiiiiiiiiis!!!!", schrie er laut.

Augenblicklich riss Chris die Augen auf und sah Otoko verwirrt an. "Was... was machst du hier?", fragte er schockiert.

"Maaaaaaaaammmmmmmmmmmmaaaaaaaaaaaaaaa, Chris hat einen Perversen in seinem Zimmer!", rief Neal, der Otoko natürlich gehört hatte, doch seine Mutter achtete nicht darauf und tadelte ihn, nicht so über Chris' Freunde zu sprechen.

Otoko verzog sich schleunigst aus Chris' Bett, als er seinen Blick sah. Seine Handgelenke waren immer noch eng zusammengebunden und schmerzten, als er sich festhalten musste, um nicht umzufallen. Die blaugrauen Ringe unter seinen Augen stachen jetzt förmlich aus dem sonst so blassen Gesicht. "D-du hast mich bei dir schlafen lassen. Weißt du das nicht mehr?", fragte er schüchtern.

Chris gab nur ein Grummeln von sich und schlug genervt auf den immer noch klingelnden Wecker, der sofort verstummte. Er streckte sich ausgiebig und gähnte, erst dann beachtete er Otoko wieder. "Konntest du nicht schlafen?", fragte er auf dessen Augenringe deutend.

"Uhm.... ja...", gab Otoko stotternd von sich. Er verzog sein Gesicht, als er die Hände hob, um seine langen fast weißen Haare hinter seinen Rücken zu befördern. Es hatte sich schon ein tiefroter Abdruck von dem Gürtel auf seiner Haut gebildet.

Seufzend öffnete Chris den Gürtel und räumte ihn in den Schrank. Dann holte er einige Kleidungsstücke heraus und zog sich um. "So, du durftest hier schlafen und jetzt kannst du wieder verschwinden, klar?"

Schweigend starrte der Junge auf seine geröteten Handgelenke. "Gar nicht so schlecht... Aber noch lange nicht das, was ich will....", murmelte er und schien Chris gar nicht mehr so recht wahrzunehmen. Dann fing er an, sich seine Sachen anzuziehen.

Doch Chris hörte ihm dafür, dass er gerade erst aufgewacht war, unnormal gut zu. Was meinte der Junge damit? Verdammt, wieso hatte er diesen Psycho überhaupt hier schlafen lassen? /Das war dein beschissenes Mitleid, du Idiot./, zeterte eine leise Stimme in seinem Kopf. "Was willst du?"

/Ich will, dass er mich quält, damit ich endlich sterben kann!/ Otokos nackte Füße tapsten über den Boden. Dicht vor Chris ging er in die Knie und blickte emotionslos zu Chris herauf. "Bitte, lass mich dein Sklave sein."

Für einen Moment sah Chris Otoko verwirrt an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. "Mein Liebessklave, hm?" Grinsend wand er sich ab. "Du hast einen schrägen Humor, Kleiner."

Verwirrt legte Otoko den Kopf schräg. "S-so hab ich das n-nicht gemeint... Nütze mich aus, schlage mich, wenn du willst, aber schick mich nicht weg."

"Genau das werde ich tun. Ich brauche keinen Psycho hier im Haus. Mir reicht mein Bruder." Chris öffnete die Kette um seinen Hals, an der der Zimmerschlüssel hing, und schloss auf. Dann packte er Otokos Hand und zog ihn mit ins Bad, wo er die Tür wieder abschloß. "Wir werden zusammen rausgehen und dann möchte ich dich nie wieder sehen. Wenn du jemand willst, der dich verletzt, dann such dir einen anderen. Es gibt viele, die das mit Freuden tun würden."

"Nein! Chris, bitte! Du bist der einzige Mensch, der mir etwas Gutes getan hat! Du darfst das nicht! Du muss mich hassen, wie die anderen auch!" Flehend ging Otoko erneut vor Chris in die Knie.

"Ich hasse dich. Gut so?" Mit einem abwertenden Geräusch fing Chris an, sich zu waschen, während er Otoko die ganze Zeit im Auge behielt. /Der ist doch echt verrückt.../

Verständnislos starrte Otoko Chris an. "Wieso verstehst du mich nicht?", fragte er ihn bitter, dann hielt er ihm seine Handgelenke hin. "Hier! Sieh hin! Das hast du getan! Aber das reicht noch lange nicht! Beende immer, was du angefangen hast!"

"Du solltest zu einem Arzt gehen, denn du scheinst nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben. Hör endlich auf mit dem Schwachsinn, ich werde dich nicht windelweich prügeln, auch wenn du mich noch so sehr darum bittest."

Seufzend ließ Otoko die Schultern hängen. "Du weißt ja gar nicht, zu was du mich zwingen wirst...", meinte er leise.

"Ach ja, zu was denn?", fragte Chris abwesend, während er sich mit einem Waschlappen über das Gesicht wischte.

"...Ich werde dir weh tun müssen...", flüsterte der blonde Junge tonlos und starrte vor sich hin.

Ein leichtes Grinsen erschien auf Chris' Lippen. "Jetzt machst du mir wirklich Angst..."

Otokos Gesicht verdunkelte sich augenblicklich und er starrte Chris kalt an. "Du solltest ein wenig mehr Respekt vor mir haben.", fauchte er und seine Stimme schien um einige Lagen tiefer zu sein als sonst.

"Einerseits möchtest du, dass ich dich schlage und andererseits möchtest du, dass ich Respekt vor dir habe. Das passt irgendwie nicht zusammen, findest du nicht?"

Schweigend stand Otoko auf. Seine Augen funkelten Chris zornig an. "Wenigstens ein wenig hätte ich verdient, oder?" Er schnappte sich Chris' Hände und drückte ihn ohne jegliche Mühe an die Wand.

Das Grinsen, das Chris' Gesicht zierte, verschwand nicht, sondern wurde nur noch breiter. "Nein, ich denke nicht..."

Otoko knurrte böse und schlug Chris im nächsten Augenblick auch schon ins Gesicht. Dann wandte er sich von ihm ab und ging zu dem Spiegelschrank, wo er ausholte und den Spiegel mit der bloßen Hand zertrümmerte.

"Hör auf, du Penner.", schrie Chris und fegte Otoko mit einem einzigen Schlag von den Füßen. "Scheiße...", fluchte er, während er sich den Spiegel ansah. Das Blut, das über Otokos Hand lief, beachtete er nicht.

Benommen lächelte der Chris an. "Na bitte, es geht doch...", sagte er heiser und verlor sich in der schwachen Bewußtlosigkeit, die ihn überkam.

"Arsch..." Chris räumte die Reste des Spiegels weg und verband Otokos Hand notdürftig. Dann nahm er seine Tasche und verließ ohne Frühstück das Haus, während er den bewußtlosen Otoko im Arm hielt.

Plötzlich keuchte der Junge in Chris Arme auf. "...Ni-nicht... lass mich... los...", stöhnte er und drehte den Kopf von der einen Seite zur anderen.

"Wie du willst..." Augenblicklich ließ Chris den Jungen in einen Schneehaufen fallen. "Einen angenehmen Tag wünsche ich noch..." Mit diesen Worten verschwand Chris und stieg an der nächsten Ecke in die Straßenbahn ein.

Otoko krümmte sich zusammen und verkrampfte sich. "F-fass mich nicht an... ich werde.... nicht.....", wimmerte er. Mit einem Schrei riss er die Augen auf und starrte verwirrt um sich. "...Chri-Chris?" Fast panisch sah er sich um. Wo war er hier überhaupt? Ängstlich rutschte er an der kalten Steinmauer herunter und kauerte sich in seinen Mantel.

3.

Chris schaute auf seine Uhr und seufzte erleichtert. Er musste Professor Ludman noch genau eine Minute und zweiunddreißig Sekunden lang zuhören, dann war er erlöst, gerettet vor dem Tod durch Langeweile. Wie konnte jemand einen Vortrag über solch ein interessantes Fach wie Psychologie so herunterleiern, dass selbst seine begeistertsten Anhänger alles für eine Schachtel Oropax gegeben hätten? Noch eine Minute... Chris betrachtete seine Kommilitonen, die eher auf den Stühlen lagen als saßen. Keinem erschien es besser zu gehen, als ihm selbst. Noch eine halbe Minute. Endspurt. Chris seufzte und fing an, leise seine Sachen zusammenzupacken.

Dann, nach schier endlosen Sekunden der Qual, schlug der Professor seine Mappe zu und entließ sie in die Freiheit. Chris nahm seine Tasche und stand auf, um den Raum mit seinen Freunden zu verlassen.

"Ich glaube, der Ludman will uns nur zeigen, wie die modernen Foltermethoden mittels Psychologiekenntnissen funktionieren.", meinte Michael grinsend.

Janine lehnte sich neben dem Getränkeautomaten an die Wand. "Meinst du? Ist so etwas überhaupt erlaubt?"

"Kannst ihn ja anzeigen und schauen, was passiert, Dummchen." Gut gelaunt zupfte er an Janines Haaren.

Chris holte sich eine Pepsi aus dem Automaten, sagte aber nichts zu dem Treiben der beiden. Er war mehr damit beschäftigt, sein Kopfweh zu ignorieren, das ihn seit einer Stunde hartnäckig plagte.

Plötzlich kam, schwer keuchend, eine zerlumpte Gestalt um die Ecke und sah sich suchend um. Der Blick der Gestalt blieb an Chris hängen und das bleiche Gesicht wurde von einem Lächeln geziert. "Chris...", keuchte Otoko und stolperte auf diesen zu.

Chris' Gesichtsausdruck änderte sofort von leicht geplagt zu sehr wütend. Er sah Otoko herablassend an. "Was willst du jetzt schon wieder?", fragte er kalt.

"Wer ist denn das? Ein Freund von dir?" Janine betrachtete Otoko neugierig. /Sieht aber ziemlich heruntergekommen aus./

Otoko lächelte Janine an. "Nein, nicht wirklich. Ich habe nur gestern in seinem Bett geschlafen.", sagte er und wandte sich wieder Chris zu. "Ich habe mir gedacht, dass du zur Uni gehst, bei all den Büchern in deinem Zimmer, deshalb bin ich hierher gekommen. Ich wollte nicht schon wieder bei dir klingeln, wenn du nicht da bist. Dein Bruder kann ganz schön aggressiv werden, wenn man ihn beim Wichsen stört."

Leicht angeekelt verzog Janine das Gesicht. "Tut mir leid, aber ich habe noch etwas zu tun." Damit verschwand sie mit Michael, den sie am Arm hinter sich herzog.

Chris hingegen sah Otoko wütend an. "Das findest du wohl lustig, wie? Hör zu, noch einmal so eine Aktion und wirst dir wünschen, du hättest mich nie kennengelernt, verstanden?"

"Aber ich hab doch nur die Wahrheit gesagt, oder?", fragte Otoko und sah den beiden nach. "Ich kann doch nichts dafür, wenn sie die nicht hören wollen."

"Ich sagte doch bereits, dass ich deinen Stoff nicht mehr habe und ich dich auch nicht umbringen werde. Warum lässt du mich nicht in Ruhe, verdammt?!"

Der zerlumpte Junge drehte sich zu Chris um. "...Ich kann nicht... Du wirst es sein... Du musst es sein... Ich kann doch nicht ewig darauf warten!"

"Weißt du, du bist ein hervorragendes Opfer für meinen Psychologieprofessor. Geh einfach mal zu ihm, er ist in diesem Raum." Chris deutete auf den Vorlesungssaal, aus dem er vor fünf Minuten gekommen war. "Und warten kannst du meinetwegen bis du schwarz wirst." Mit diesen Worten packte sich Chris seine Tasche und ging in dieselbe Richtung, in der auch Janine und Michael verschwunden waren.

Otoko starrte ihm nach. "A-aber.... Aber du bist doch selbst schuld!... Warte bitte! Ich hab sonst niemanden außer dir..." Er ließ die Schultern hängen und trottete Chris nach. "... Na ja, wenn ich aus Schnulzenromenen zitiere, wird es wohl nichts bringen....", murmelte er und begann plötzlich so stark zu husten, dass er gegen die Wand taumelte und sich dort festhielt.

Eine andere Studentin kam gerade den Gang entlang gelaufen und blieb bei Otoko stehen. "Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte sie besorgt.

"Ch...Ch-chris...", keuchte der Junge und schnappte nach Luft. "..E-er darf... nicht gehen."

"Chris.", rief die Studentin laut. "Komm mal her."

Doch Chris blieb nicht einmal stehen. "Kein Interesse..."

"Chris!", rief Otoko laut und schnaufte angestrengt, beruhigte sich allerdings langsam wieder. "Warte!" Mit wackeligen Beinen nahm er die Verfolgung erneut auf.

Der Größere war inzwischen draußen auf dem Hof und knöpfte sich seine Jacke zu. Mit schnellen Schritten stapfte er durch den Schnee. /Dieser Psycho geht mir langsam wirklich auf die Nerven./

"Chris! Verdammt, warte!!", schrie der Blonde heiser und schnappte sich ein wenig Schnee, den er nach Chris schmiss.

Der wurde auch prompt im Nacken getroffen. Wütend drehte Chris sich um. "Du willst wohl unbedingt mit mir Ärger haben, wie?!", fauchte er.

"Du weißt doch schon längst, was ich von dir will!"

Chris schüttelte den Kopf. So ein kranker Idiot. "Geh zu 'nem Nervenarzt und lass mich in Ruhe. Wie oft soll ich dir das noch sagen?"

Nun wurde Otoko wütend. "Wieso kannst DU mir nicht helfen?! Du hast es schon einmal getan!"

Langsam hatte Chris Mühe sich zurückzuhalten. Es war ein großer Fehler gewesen, diesem Jungen zu helfen. Ein sehr großer. Er überlegte, wie er ihn wieder loswerden konnte, aber ihm fiel nichts ein. Chris sah auf die Uhr. Es war gerade kurz nach 15 Uhr. Also hatte er noch genügend Zeit um sein Mittagessen nachzuholen und sich eine Lösung für sein Problem auszudenken, bis er zu der Bar musste, in der er als Barkeeper jobbte. Aber vorher musste er den Kleinen abhängen. Der Bus war eine gute Möglichkeit. Sicher hatte der andere kein Geld, um sich ein Busfahrschein kaufen zu können. Chris lächelte. "Na dann komm doch einfach mal mit."

Verwirrt starrte ihn Otoko an, aber seine Augen begannen plötzlich zu leuchten und er stolperte auf Chris zu. "Danke....", sagte er aus vollem Herzen und lächelte Chris an.

Der ging mit Otoko zur Bushaltestelle, wo der Bus schon stand. Schnell kaufte er sich einen Fahrschein. "So, tut mir leid, aber ich habe keine Zeit mehr. Ich bring dich ein andermal um, ja? Bye.", rief Chris übertrieben freundlich und sprang in den Bus. /Spinner./

Mit großen Augen sah Otoko Chris an und stieg neben ihm in den Bus, allerdings ohne sich einen Fahrschein zu kaufen. "Wie meinst du das?"

"Du musst dir einen Fahrschein kaufen, wenn du mitfahren willst."

"Ich habe kein Geld."

"Dann musst du leider gehen." Damit stieß Chris den Jungen aus dem Bus. /Und bleib gefälligst da draußen./

Otoko schlug hart auf den kalten Boden auf und jammerte leicht. Er hob sein Gesicht und starrte Chris verstört an. "A-aber Chris!", rief er.

"Du wolltest doch Schmerzen, nicht wahr? Das war ein kleines Geschenk von mir.", meinte Chris übertrieben lächelnd und kümmerte sich nicht um die Blicke der anderen Insassen des Busses.

Ungläubig schüttelte der Blonde den Kopf. "...Nein... Nein!!! Chris!! Du verdammter Idiot!!!! Ich werde bekommen, was ich will!!!! Hörst du?!?", schrie er dem Bus nach und fuchtelte rasend vor Wut mit den Armen herum.

Erleichtert lächelnd lehnte sich Chris in seinem Sitz zurück. /Endlich ist er weg. Was für eine kranke Nervensäge.../
Otoko schleppte sich mehr schlecht als recht durch die Straße auf der Suche nach etwas Essbarem und wühlte in einer Mülltonne. "Mist... Dieser verdammte Arsch... Ich werde es ihm schon noch zeigen... Ich werde bekommen, was ich will....", murmelte er und merkte, nicht, das er nicht mehr alleine war.

Eine hochgewachsene Gestalt trat vor Otoko aus dem Schatten und grinste ihn an. "Wem willst du es schon noch zeigen?"

Der Streuner zuckte zusammen und starrte die Gestalt vor sich an. "...D-das geht dich nichts an!", keifte er kleinlaut.

Das Grinsen des anderen wurde nur noch breiter. "So? Und wenn ich dir das hier gebe, erzählst du es dann?" Er deutete auf ein Stück Brot in seiner linken Hand.

Mit knurrendem Magen starrte Otoko auf das Stück Brot. "S-steck dir das sonst wohin..."

"Wenn du meinst..." Damit begann der andere genüsslich zu essen.

Otoko rieb sich schniefend über die Nase. "H-hast du für mich nicht... etwas anderes?...", fragte er und sah den anderen bittend an.

"Du hast dir deine Ration ja gar nicht gut eingeteilt.", meinte sein Gegenüber grinsend. "Ich habe schon etwas, aber es kommt ganz auf dich an, ob du es auch bekommst."

"H-hör zu... Jemand hat es mir gestohlen, ich kann nicht dafür... Dieser Idiot hat es ins Klo geworfen. W-was willst du?"

"Oh, ich nehme vieles. Was hast du denn anzubieten?"

Otoko kramte in seinen Taschen. "I-ich habe nichts.... Komm schon... Nur einmal. Ich besorge dir das Geld oder ich mache, was du willst, aber bitte.....", flehte er.

"Dann komm mal mit. Für dich wird sich schon eine Arbeit finden lassen.", meinte der andere mit einem fiesen Grinsen und legte Otoko den Arm um die Schultern.

Der Kleinere lächelte gezwungen. "D-danke... I-ich drehe sonst wirklich noch ganz durch..." Er hustete wieder ein paarmal. "W-was... soll ich denn machen? Hast du schon eine Idee? Wie viel bekomme ich?"

"Alles zu seiner Zeit..." Damit verschwanden die beiden Gestalten in der Dunkelheit.
Viel später humpelte Otoko keuchend aus einer Seitenstraße. "D-d-dieses v-verdammte..." Er zitterte am ganzen Leib und hustete ab und zu. "...S-schwein. I-ich dachte, er meinte andere A-arbeit...." Er hielt das kleine Säckchen mit dem weißen Pulver darin hoch und betrachtete es.. "N-na wenigstens hab ich mal ne richtige Portion bekommen..." Otoko schleifte sich in eine Ecke und machte sich sofort daran, sich einen Schuss zu setzen. Im absoluten Rauschzustand blieb er sitzen, doch er bemerkte die gefährliche Kälte nicht. Nach einer Weile raffte er sich aber auf, torkelte durch die Straßen und ehe er sich versah, stand er wieder vor Chris' Haus. "...Ich werde hier a-auf dich warten... Verlass dich drauf...", murmelte er und ließ sich erschöpft vor der Türe niedersinken.

Bald darauf kamen zwei Personen die Straße entlang, die offenbar eine größere Menge Alkohol konsumiert hatten und lauthals lachten.

"Und hast du sein Gesicht gesehen?", meinte die größere von den beiden. "Er sah genauso aus wie mein Bruder, wenn er wütend ist."

Die zweite Gestalt kicherte nur zustimmend, jedoch in einem höheren Tonfall.

Neal zog einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche, doch bevor er die Haustüre erreicht hatte, fiel er über irgend etwas, was im Schatten gelegen hatte.

"Was ist denn los?", fragte Diana, seine Freundin.

Otoko zuckte sofort zusammen und wimmerte, was von einem erneuten Hustenanfall überschattet wurde. Leise fluchend versuchte er auf die Beine zu kommen und wischte sich den neuen Schnee vom Mantel.

"Hey, du bist doch Chris' perverser Freund. Was machst du denn hier?", fragte Neal und grinste Otoko an.

"A-ach halt die Klappe!... Ich bin nicht pervers, wenn das hier jemand ist, dann ja wohl du, hast schon ne Freundin zum Ficken und wichst doch die ganz Zeit.", keifte der Blonde und stütze sich an der Mauer ab.

Neal schienen Otokos Worte nicht zu stören und er lachte lediglich als Antwort, während er etwas mühsam wieder auf die Beine kam.

"Schließ endlich auf, mir ist kalt.", jammerte Diana und rieb sich ihre Arme.

"Gleich..." Doch Neal hatte einige Probleme damit, das Schlüsselloch zu finden. "Macht doch mal einer hier das Licht an. Ich sehe ja gar nichts."

"G-gib her, du Idiot!", keuchte Otoko und griff nach dem Schlüssel.

Doch Neal drehte sich weg. "Du bekommst ihn nicht!"

"Was ist hier los?", ertönte eine wütende Stimme hinter ihnen.

Neal fuhr herum. "Chris, der Kerl will mir den Schlüssel wegnehmen.", jammerte er.

Chris' traute seinen Augen nicht. Da war der Junge ja schon wieder. Er sollte wirklich die Polizei rufen.

Otoko starrte Chris perplex an. "N-n-nein! D-das stimmt nicht! Ehrlich! I-ich wollte ihm nur helfen, d-die Türe aufzuschließen!... E-er ist ja total besoffen!", versuchte er sich zu rechtfertigen.

"Verschwinde!", zischte Chris drohend.

"N-nein! I-ich bin nicht sch-schuld! I-ich wollte ihn nicht b-bestehlen!", versuchte er es erneut und stotterte immer mehr.

Chris' Blick verfinsterte sich noch mehr. "Ich habe gesagt, du sollst verschwinden! Sofort!"

Diana zuckte aufgrund des Tonfalls zusammen, obwohl sie gar nicht gemeint war.

Otoko drängte sich an die Hauswand und begann zu zittern und zu wimmern. "...I-i-ich h-hab d-d-doch gar n-nichts gemacht...."

Nun wurde es Chris zu bunt. Er packte den Jungen am Kragen und zog ihn gewaltsam zur Straße hin, wo er ihn zu Boden schleuderte. "Lass mich endlich in Ruhe, verdammt!", fauchte er.

Ein leiser Schrei löste sich von Otokos Munde, als er zu Boden prallte und er sah Chris wie ein verstörtes Kleinkind an. "...W-w-wieso.... i-ich... Wieso hasst du mich so?", fragte er leise und begann zu weinen.

"Idiot! Lass mich einfach in Ruhe!" Chris ging wieder zu seinem Bruder und packte ihn am Arm, schloss die Haustür und zog den leicht verwirrten Neal hinein. Nachdem Diana auch im Haus war, fiel die Tür mit einem lauten Knall zu.

Die Trauer und das Leid des blonden Jungen sammelte sich und entlud sich in einem, die Stille zerreißenden, lauten Schrei nach Chris.

"Ab in dein Zimmer, Neal. Du bekommst morgen noch Ärger, das verspreche ich dir."

Neal und auch Diana gingen leicht niedergeschlagen in eben genanntes Zimmer.

Chris hingegen rannte in seines und warf die Tür zu. Zitternd lehnte er sich dagegen. /Dieser Arsch macht mich echt fertig.../

Mit kläglicher Stimme rief der allein gelassene noch ein paar Mal nach Chris, ehe er sich schluchzend vor die Tür setzte und sich seine Droge spritzte.

4.

Am nächsten Tag, genauer gesagt am Samstag um punkt sieben Uhr klingelte Chris' Wecker. Verschlafen drehte er sich auf die andere Seite, um weiterzuträumen, doch das nervende Piepsen brachte ihn schließlich doch dazu, aufzustehen. Müde torkelte er ins Bad, putze sich die Zähne und wusch sich. Dann holte er seinen Trainingsanzug aus dem Schrank und zog ihn sich über. Die Geräusche aus der Küche ließen vermuten, dass seine Mutter schon wach war. Ohne zu frühstücken oder auch nur zu sagen, dass er ging, verließ er das Haus. Beinahe wäre er über die schlafende Gestalt gestolpert, die zusammengerollt im Eingang lag. /Na toll. Der ist immer noch da.../

Total weggetreten lag Otoko auf dem Boden. Er hatte sich richtiggehend zugespitzt, damit er schlafen konnte und der Rausch war noch nicht verschwunden.

/Du blöder Kerl. Warum lässt du mich nicht endlich zufrieden?/ Kurz entschlossen hob Chris die dünne Gestalt hoch und nahm ihn mit auf seinem Weg in den Park. /Da kannst du meinetwegen erfrieren, aber nicht vor meiner Haustüre./

Doch während Chris ihn auf den Händen trug, wachte Otoko auf und blinzelte seinen Träger verwirrt, aber seelenruhig an.

Der hingegen sah stur geradeaus und versuchte so schnell wie möglich in den Park zu kommen, um seine Last bei der erstbesten Gelegenheit loszuwerden.

Leise krächzte er den Namen des großen Jungen und krallte sich an dessen Trainingssachen fest, wie um sich zu versichern, dass er echt war. Ein erleichtertes Lächeln zauberte sich auf sein Gesicht und seine Augen sahen Chris erwartungsvoll an.

Der schaute Otoko nun doch an, aber sein Blick war kühl und gelassen. "Was auch immer du von mir erwartest, ich werde es nicht tun."

"W-wieso nicht....?", krächzte er fragend und krallte sich noch fester an Chris.

"Ich bin kein Mörder."

Otoko begann zu strampeln, so dass er absichtlich am Boden landete und rappelte sich mit einiger Mühe wieder hoch. "Wieso hast du mir dann geholfen?!? Das ist doch wohl dasselbe!!"

"Für einen wie dich vielleicht. Für normale Menschen nicht."

Wimmernd schlang Otoko die Arme um seinen Körper, um sich vor der Kälte zu schützen."...Wenn du mich doch nur verstehen könntest..."

Chris sah den Jungen herablassend an. "Wie wäre es, wenn du versuchst, mich zu verstehen? Denk nicht, dass ich deinetwegen zum Verbrecher werde. Ich verderbe mir mein Leben wegen dir ganz sicher nicht."

"Aber ich will es doch so!!", schrie Otoko verzweifelt und sein Blick war so bittend wie noch nie. "Ich k-kann es dir sogar schriftlich geben!"

"Du willst, dass ich mein Leben ruiniere?", fragte Chris, nicht sicher, ob er es richtig verstanden hatte.

"Nein! Ich will das du Meines endlich beendest! Bitte! Ich schreibe alles auf! Ich sage das jedem, wenn du es willst!! Aber bitte tu es!"

"Nein.", erwiderte Chris ruhig.

"...Ich bitte dich....", sagte Otoko leise, und man hatte das erste Mal das Gefühl, mit einem normalen Menschen zu reden.

Einen kleinen Moment überlegte Chris, ob er nicht einfach dem Flehen des Jungen nachgeben sollte, aber er entschied sich sofort dagegen. Das war undenkbar. "Das kannst du nicht von mir verlangen."

"...Wieso nicht?", fragte er mit einer Unschuld, die darauf schließen ließ, dass er wirklich nicht wusste.

Chris schüttelte den Kopf. "Das geht nicht, verdammt. Ich kann nicht einfach jemanden töten! Du hast doch 'nen Knall!" Damit drehte er sich um und lief weiter in der Hoffnung, der Kleinere würde ihm nicht folgen.

"Chris warte!! Geh nicht wieder!!! ICH LIEBE DICH!!", schrie der blonde Junge und kam zitternd auf die Beine.

Einen Moment stockte Chris, lief dann aber weiter. /Verrückt, einfach verrückt... Nichts weiter./ Ein paar Anwesende sahen die beiden Jungen belustigt oder verwirrt an.

"Ich werde jeden einzelnen töten, den du liebst!! Bist du nur noch an mich denkst!! Ich werde kriegen, was ich will!! Chris!! Von dir!!"

Der Angesprochene blieb stehen, drehte sich aber nicht um. "Wie wäre es, wenn ich dich einfach bei der psychiatrischen Anstalt abgebe. Da kannst du dann herumschreien, bis du stirbst."

"Das würdest du nicht tun.", sagte sein Verfolger und stand ein paar Augenblicke später keuchend neben ihm.

Mit einem kalten Lächeln drehte Chris sich um. "Ach ja, und wieso nicht?"

"Versuch es doch."

"Das habe ich nicht nötig, Psycho."

"Traust du dich nicht?"

"Vergiss es. Du kannst mich nicht provozieren, Kleiner."

"Das sehe ich aber anders."

"Deine Meinung interessiert mich nicht. Und jetzt entschuldige mich, ich muss trainieren." Chris drehte sich um und fing an, seine Muskeln zu dehnen.

"E-es stört dich hoffentlich nicht, wenn ich zusehe, oder?", fragte Otoko leise und setzte sich vor Chris in den Schnee, der seine Hose sofort zu durchnässen begann.

"Was wäre wenn ja?", fragte Chris, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.

"Ich würde mitmachen."

"Ich glaube nicht, dass du das schaffst. Du hast eine wahnsinnig schlechte Kondition, soweit ich das gesehen habe."

"I-ich werde es schaffen...", meinte Otoko bestimmt und stützte seinen Kopf auf die Hände. Er lächelte Chris mit geschlossenen Augen an.

Der drehte sich nun doch zu dem Jungen und sah ihn verwundert an. /Er kann ja richtig normal sein.../

Die blassblauen Augen sahen Chris nun wieder an. "Was ist jetzt?", fragte er unsicher.

"Du wolltest doch mitmachen. Dann steh auf.", antwortete Chris in einem sanfteren Ton, als er beabsichtigt hatte.

Der blonde Junge begann sofort wieder zu strahlen und stand auf.

/Hoffentlich ist das kein Fehler./
Keuchend versuchte Otoko doch noch mit Chris Schritt zu halten, aber er fiel immer weiter hinter dem großen Jungen zurück. Er hatte schon lange den eisigen Geschmack von Blut in seinem Mund und seine Kehle fühlte sich an, als ob sie mit kleinen Schnitten überseht wäre. Als er dann auch noch zu husten begann, musste er stehen bleiben und hob den Kopf, um Chris zu bitten anzuhalten, doch ein heiseres Röcheln war das Einzige, das er über seine Lippen brachte, bevor ihm schwarz vor Augen wurde und er auf den Boden fiel.

Chris blieb stehen, als er das Röcheln hörte und war nicht überrascht, dass Otoko halb bewusstlos im Schnee lag. "Ich habe doch gesagt, dass du das nicht schaffst." Kopfschüttelnd wollte er dem Jungen aufhelfen, doch da erinnerte er sich daran, dass seine Hilfsbereitschaft ihm die ganzen Probleme eingebracht hatte. /Vielleicht sollte ich ihn einfach liegen lassen.../

Chris sah sich um, es war niemand in der Nähe, also würde er keine Probleme bekommen, wenn er einfach davonging.

Hustend spuckte der am Boden Liegende ein wenig Blut aus und versuchte sich mit schwachen Bewegungen wieder aufzurappeln. "T-tut... mir... leid.... I-ich... bin... so was nicht.... gewöhnt...", versuchte Otoko röchelnd zu erklären. Er war mehr als glücklich, dass Chris zurückgekommen war.

Unschlüssig, was er tun sollte, rührte Chris sich nicht. Einerseits wollte er den Jungen nicht im Schnee liegen lassen, doch andererseits fürchtete er, dass dieser ihn dann gar nicht mehr in Ruhe lassen würde.

Hilfesuchend griff Otoko nach Chris' Hand und versuchte sich, daran wieder auf die Beine zu ziehen, dabei fiel ihm ein Päckchen mit weißem Pulver aus der Tasche. Überrascht riss er die Augen auf und schnappte sich das Päckchen, um es rasch wieder in seiner schmutzigen Manteltasche verschwinden zu lassen.

Der Größere sah Otoko skeptisch an. "Du hast ja schon wieder Nachschub. Dann kann der Verlust von dem anderen Zeug ja gar nicht so geschmerzt haben."

Sofort funkelten die eisblauen Augen auf. "D-du w-weißt ja gar nicht, w-was ich dafür machen m-musste!", keifte er und stand nun auf wackeligen Beinen.

"Nein. Und ich will es auch gar nicht wissen.", gab Chris zurück. /Ich kann es mir denken, so wie du aussiehst./

"D-dann s-sag auch nicht solche Sachen...."

"Ich sage, was ich will."

"E-es ist a-aber nicht f-fair, was du sagst...", stammelt Otoko.

"Es ist auch nicht fair, dass du mich so nervst, nur weil ich dir geholfen habe!" Nun war Chris wirklich wütend. Wie konnte dieser Idiot von Fairness sprechen?

"A-aber.... aber...", stotterte er und begann zu zittern. "I-ich.... ich k-kann n-nichts d-dafür... w-wirklich...."

"Nein, natürlich kannst du nichts dafür. Wie denn auch?!" Genervt und sauer zugleich drehte Chris sich um. "Ich muss mit dem Training weitermachen. Komm jetzt oder bleib' hier, ist mir egal."

"W-warte!" Otoko putzte sich kurz den Schnee von den Kleidern und sah Chris scheu an. "O-ok... I-ich bin fertig..."

Ohne den Jungen eines weiteren Blickes zu würdigen lief Chris wieder los. Was er da tat, war idiotisch. Er sollte ihn endlich loswerden anstatt mit ihm zu trainieren. Doch würde das überhaupt etwas nützen?

Otoko konnte nicht lange mit Chris mithalten und fiel erneut zurück. Traurig und schwer keuchend blieb er stehen und sah Chris nach.

Der lief einige Meter weiter, blieb dann aber stehen. /Verdammt, ich bin so ein Idiot!/, schalt er sich selbst. Doch trotz aller Bedenken ging er nicht weiter. "Komm endlich..."

"I-ich kann nicht mehr...", röchelte der blonde Junge und sah zu Chris. "Geh... s-schon..."

"Wie du meinst..." Einen Moment zögerte Chris noch, doch dann setzte er seinen Weg durch den Park fort.

Stockend ging Otoko zum Eingang des Parks zurück, in der Hoffnung, dass Chris auf diesen Weg zurück kommen würde. Seufzend ließ er sich neben den Parkmauern nieder und wartete.
Chris kam tatsächlich nach über einer Stunde verschwitzt und leicht rot im Gesicht zurück. Erschöpft, aber wieder in guter Laune bemerkte er Otoko gar nicht, bis dieser ihm in den Weg lief.

Ein schüchternes Lächeln lag auf dessen Lippen. "Ich dachte, ich warte hier auf dich, weil ich dir ja sowieso nicht nachlaufen konnte..."

"Und ich dachte, ich hätte endlich meine Ruhe."

"Ich habe dir gesagt, dass ich nicht locker lassen werde. Wieso glaubst du mir nicht?"

"Du bist eine Nervensäge, hat dir das schon einmal jemand gesagt?" Müde lehnte sich Chris an die Steinmauer.

"Bis jetzt noch nicht, sofern ich mich erinnern kann."

/Wenn der so weiter macht, raste ich wirklich noch aus. Aber das ist genau das, was er will und das wird er nicht bekommen. Irgendwie werde ich ihn schon los.../ Seufzend schloss Chris die Augen und ignorierte Otoko. /Nur nicht provozieren lassen./

"Hey, willst du jetzt etwa wieder nach Hause?", fragte Otoko und ging neben dem verschwitzen Jungen her.

Doch der tat so, als hätte er Otoko nicht gehört und ging einfach weiter.

Nachdem er dann auch eine Weile auf Chris Antwort gewartet hatte, fragte er erneut: "Hey, gehst du jetzt nach Hause, Chris?"

/Vielleicht sollte ich ihn irgendwo einsperren? Dann hätte ich wenigstens für eine Weile Ruhe.../, überlegte Chris weiter und ignorierte den Jungen noch immer.

"Chris?... Wieso antwortest du denn nicht? Ist dir etwas passiert?"

"Ja, ich habe meine Zunge verschluckt, du Idiot!", fauchte Chris und ärgerte sich im nächsten Moment wieder über sich selbst, dass er überhaupt mit Otoko gesprochen hatte.

"Ach, sie an, du kannst ja doch noch sprechen... Wäre schade um deine Stimme gewesen...", meinte der Blonde grinsend.

"Idiot."

"Baka."

"Pff. Ich habe es nicht nötig mit dir zu streiten." Mittlerweile waren sie schon wieder in der Wohngegend, in der Chris lebte.

"Hast du denn überhaupt verstanden, was ich gesagt habe?"

"Nein."

"Woher willst du dann wissen, dass ich mit dir streite?"

"Deine Besserwisserei nervt mich."

"Du bist doch sonst immer der, der besserwisserisch drauf ist."

Da packte Chris Otoko am Kragen. "Sei still, ok?!"

"W-was denn? Ich sag doch nur die Wahrheit, oder?" Die blassblauen Augen sahen Chris ängstlich an.

"Pah. Geh und predige woanders." Chris ließ den Jungen auf den Boden fallen und ging weiter.

"Ich glaube nicht an Gott.... Du etwa?"

/Trottel./ Doch diesmal blieb Chris nicht stehen.

Sofort rappelte sich Otoko auf und rannte dem wütenden Jungen nach. "Bist du jetzt echt sauer deswegen?"

Chris ignorierte Otoko weiter, bis er an seinem Haus ankam und aufschloss. Gerade wollte er hineingehen, als ihn eine Hand am Arm packte. "Lass mich los!"

Unschuldig hob Otoko die Hände und sah auf Chris Bruder, der neben ihm stand und den verlumpten Jungen böse anfunkelte.

"Was will der Kerl hier, Chris?", fragte Neal und betrachtete Otoko angewidert.

"Er wollte dir 'guten Tag' sagen, was auch sonst? Geh zur Seite." Damit drückte Chris Neal weg und ging hinein.

Unschlüssig, was er jetzt tun sollte, blieb Otoko draußen stehen und sah Chris nach, dann lächelte er Neal zu und frage: "Na? Hast du Kopfschmerzen?"

Als Antwort knallte Neal die Haustüre zu.

Otoko lächelte weiter. "Was für ein netter Junge...." Doch sein Blick verfinsterte sich gleich wieder. "Er wird der Erste sein, wenn es so kommen muss..."

5.

Otoko hatte sich von Chris' Wohnung entfernt und merkte langsam, wie müde er war. /Ich will nicht wieder draußen schlafen.../ Also schleppte er sich in das Stadtzentrum und erbettelte dort ein wenig Geld, um dann mit knurrendem Magen bei einer Schlafstelle anzuklopfen.

Eine leicht krank aussehende Frau mit hochgesteckten blondgrauen Haaren öffnete ihm. "Ja?"

"H-hallo... I-ist noch ein Bett f-frei?", fragte er und lächelte leicht.

Die junge Frau nickte und ließ ihn herein. "Du hast Glück. Heute sind noch nicht so viele gekommen."

"D-danke..." Er streckte ihr das bisschen Kleingeld hin, das er erbettelt hatte, und hoffte, dass es reichen würde.

Sie nickte abermals. "Den Gang weiter ganz hinten links.", meinte die Sozialarbeiterin und ging zurück in eine Art kläglich eingerichtetes Büro.

"Ok... Danke nochmals..." So schlurfte er den Gang hinunter in das besagte Zimmer, wo er sich völlig übermüdet auf das Bett warf.

Im Raum waren noch drei weitere Betten, die allesamt belegt waren. Auf dem einen lag Giovanni, der Otoko angrinste. "Hi. Dich hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen."

"Hnn....", war alles, was dieser rausbrachte.

"Schlechte Laune?", fragte der gebürtige Italiener weiter.

"Hnn.... nein... oder doch... I-ich weiß e-es nicht.."

Das Grinsen des anderen wurde breiter. "Hast du keinen Stoff mehr?"

"...Ich hab noch... jede Menge....", maulte Otoko und drehte sich um.

"Echt? Gibst du mir etwas ab?"

"...Wieso sollte ich?", murrte er weiter.

"Bitte...", bettelte Giovanni.

"Seid endlich still, ich will schlafen.", kam es von einem anderen Bett.

"Geh selbst zu diesem Schwein und blas ihm einen!", schrie Otoko wütend.

"Seid endlich still!"

"Ruhe, verdammt!!", fauchte nun auch die vierte Person im Zimmer.

Giovanni zog grinsend den Kopf ein und kuschelte sich in seine Decke. /Deinen Stoff bekomme ich schon noch. Wie dumm von dir zu sagen, dass du welchen hast./

Hustend zog sich Otoko die Decke über den Kopf und grummelte noch ein paar Mal über die Gemeinheiten der letzten Tage, bevor er die Augen schloss.
Er rannte auf ein großes schwarzes Objekt in der Ferne zu, ohne sich ihm wirklich zu nähern. Ein typisches Kennzeichen eines Traumes. Und obwohl er das wusste, hatte er keine Möglichkeit, ihm zu entfliehen. Also rannte er weiter. Der Nebel um ihn herum wurde immer dichter und alles wurde zu einem verwaschenen Grau, in dem er keine klaren Konturen mehr erkennen konnte. Doch plötzlich tauchte von hinten eine Hand auf und hielt ihm eine kalte Klinge an den Hals.

Panisch japste er auf und versuchte die Hand wegzurücken, doch dazu war er zu schwach und es schien, als wäre jegliche Energie aus ihm gewichen. Seine Nackenhaare stellten sich auf, als er den warmen Atem an seinem Hals spürte und kalter Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er öffnete den Mund, um nach Hilfe zu schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen, es schien, als ob der Nebel seinen Hilferuf förmlich verschlucken würde

Er spürte, wie der Angreifer hinter ihm etwas sagte, aber alles was er hörte waren seine Atemgeräusche. Doch er musste ihn nicht verstehen. Alles hatte sich schon einmal so abgespielt, er wusste genau, was der andere von ihm verlangte. Aber wie konnte er ihm klarmachen, dass er kein Geld hatte, wenn er nicht reden konnte? Es schien, als wäre die Klinge schon stundenlang an seiner Haut, als wären die wenigen Sekunden zu Stunden geworden, in denen er nach einem anderen Ausgang für diese Szenerie suchte.

Er fühlte, wie ihm heiße Tränen in die Augen traten. So etwas Schreckliches wollte er nicht noch einmal erleben. Jedenfalls nicht so. Er begann sich, auch wenn er keine Kraft in den Gliedern hatte, heftig zu wehren, doch das machte alles nur noch schlimmer, denn das Messer drückte stärker an seinen Hals und schnitt sich ein wenig in das blasse Fleisch, was seine Panik nur noch verstärkte.

Was dann geschah, ging so schnell, dass er keine Möglichkeit mehr hatte, es zu stoppen. Der Druck verschwand für einen Moment von seinem Hals und er nutzte die Gelegenheit, um sich zu befreien. Das alles war schlimmer als die Wirklichkeit. In diesem Traum war er wie schon einmal Opfer und konnte doch nichts tun, als wäre er nur Zuschauer. Hilflos musste er zusehen, wie er selbst dem Angreifer das Messer aus der Hand riss und es ihm ohne Nachzudenken in die Brust stieß. Wimmernd brach er auf dem Boden zusammen und hielt sich die blutverschmierten Hände vor das Gesicht.

Er hatte es getan, er hatte es tatsächlich getan. Verstört zog er das Messer wieder aus der Brust des Angreifers, hoffte, ihn so nicht ganz zu töten. Doch es war schon zu spät, ein letztes Röcheln war zu vernehmen, bevor eine unheimliche und erdrückende Stille zu herrschen begann. Sein Körper erzitterte. Er wollte dieses Blut nicht an seinen Händen haben, es war nicht sein Blut. Etwas so Unnützes wie er hatte es nicht verdient zu leben und nun hatte dieses wertlose Leben ein anderes genommen.
Mit einem erstickten Aufschrei wachte Otoko auf. Zitternd sah er sich um, nur um festzustellen, dass er inmitten eines dunklen Raumes in einem alten rostigen Bett lag, das quietschte, sobald er sich bewegte. Er war immer noch in dieser Schlafstelle, in einem Raum mit drei anderen, die wahrscheinlich genauso erbärmlich lebten wie er selbst. Aber das beruhigte ihn keineswegs.

Zitternd zog er sich zusammen und begann zu wimmern. /Ich muss bestraft werden... Ich hätte so etwas nie tun dürfen... Ich muss sterben.../, hallte es durch seinen Kopf und er dachte wieder an Chris, der ihm geholfen hatte. Das war doch ein Zeichen. Chris hatte ihn damals nicht sterben lassen, denn er würde derjenige sein, der ihn bestrafen würde.

Im Bett daneben biss Giovanni frustriert in seine Bettdecke. Eben wollte er aufstehen, um sich Otokos Stoff zu holen, doch dann war dieser einfach aufgewacht. Verdammt. Er hatte zu lange gewartet, jetzt konnte er nur noch hoffen, dass der andere bald wieder einschlief, sonst konnte er es vergessen. Bald würde die Sonne aufgehen und dann wäre es zu spät.

Otoko bekam nicht mit, dass sein Gegenüber wach war. Er dachte die ganze Zeit an Chris. Er musste es einfach sein, kein Mensch hatte ihm sonst jemals einfach so geholfen. Aber wieso sträubte er sich nur so dagegen? War das denn auch Teil seiner Bestrafung?

/Schlaf endlich ein. Bitte.../, flehte Giovanni in Gedanken. Es war eine einmalige Gelegenheit, so leicht an Stoff zu kommen, die dürfte ihm einfach nicht durch die Lappen gehen.

Der blonde Junge war nach diesem Traum aber viel zu aufgewühlt, um gleich wieder einschlafen zu können, deshalb stand er ächzend auf und torkelte aus dem Raum.

/Scheiße!/ Nun hatte er keine Chance mehr, an den Stoff zu kommen. Und alles nur weil er zu lange gewartet hatte. Giovanni verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Es hätte so ein guter Tag werden können.

Nach einigen Minuten kehrte Otoko zurück. Wie es aussah war er nur mal auf dem Klo gewesen, um sich einen Schuss zu setzen, denn er hatte die quälenden Gedanken nicht mehr ausgehalten. Murrend verkroch er sich wieder in seinem Bett.

Der Italiener betrachtete die nun entspannt wirkende Gestalt und seufzte leise. Nun brachte es auch nichts mehr. Es hatte schon zu dämmern angefangen und er glaubte nicht, dass Otoko bis zum Aufstehen noch einmal tief schlafen würde. Aber man konnte ja noch hoffen.

Was Giovanni nicht wusste war, dass sich Otoko eine viel zu hohe Dosis verabreicht hatte und nun rein gar nichts mehr von seiner Umgebung wahrnahm.

Doch anstatt weiter zu warten, dass der Junge wieder ins Land der Träume wanderte, schlief Giovanni selbst nach einer Weile ein. So ging die Nacht vorüber, ohne dass er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte.
Ein paar Stunden später, genauer gesagt um kurz nach acht Uhr morgens weckte eine andere Sozialarbeiterin alle vier. Doch sie verschwand gleich darauf wieder, um weiter durch die Zimmer zu gehen.

Otoko war immer noch in einem Rauschzustand und nahm die Stimme der Arbeiterin gar nicht war. Murrend drehte er sich auf dem Bett um.

Giovanni hingegen war schon hellwach. "Hey, Otoko. Hast du nicht gehört? Wir müssen raus."

Doch der reagierte gar nicht und blieb in Bett liegen.

"Hm..." /Anscheinend ist er noch völlig weg. Vielleicht.../ Giovanni dachte den Gedanken gar nicht zu ende, sondern griff in die Taschen von Otokos Mantel und tatsächlich fand er da ein halbvolles Päckchen Stoff. Triumphierend grinsend steckte er es ein, nahm seine Sachen und verließ den Raum.

Otoko bekam das gar nicht mit, obwohl er den Kopf zu dem Italiener gedreht hatte und ihm mit verschleiertem Blick nachstarrte.
Als Otoko wieder anfing, etwas wahrzunehmen, bemerkte er als erstes die große Übelkeit, die seinen Körper fast auszufüllen schien. Er öffnete die Augen, doch außer einem weißen Blickfeld sah er nichts und sein ganzer Körper war schwer wie Blei. Verwirrt und grün vor Übelkeit drehte er den Kopf, der sich immer noch wie Watte anfühlte, zur Seite, in der Hoffnung, dort eine Antwort auf die Frage zu bekommen, wo er überhaupt war.

Eine weiß gekleidete Frau saß neben ihm auf einem Stuhl, doch sie hatte anscheinend noch nicht gemerkt, dass Otoko wieder wach war und war in eine Zeitung vertieft.

Wo war er nur gelandet? Seine Sicht hatte sich nun ein wenig verbessert und er blickte langsam um sich. Weiß... alles war weiß, fast wie in einem.... Krankenzimmer! Otoko stöhnte auf, als plötzliche Kopfschmerzen ihn zusammenzucken ließen. Das half der Übelkeit natürlich nur noch nach und er musste nach Luft schnappen, um sich nicht zu übergeben.

Die Krankenschwester schaute auf. "Na endlich bist du wach. Ich hatte schon befürchtet, dass wir einen Arzt rufen müssen, aber den hättest du ja sowieso nicht bezahlen können." Sie stand auf und reichte Otoko ein Glas Wasser.

Dieser starrte die Krankenschwester mit verschleiertem Blick an. Er konnte seinen Körper immer noch nicht bewegen.

Seufzend stand die Frau in der Mitte der Fünfziger auf. "Du müsstest doch wissen, was eine Überdosis Drogen anstellt." Sie stellte das Glas auf ein Schränkchen neben dem Tisch. "Ich muss mal eben weg. Wenn du dich übergeben musst, da ist eine Tüte.", fügte sie hinzu und deutete auf eine Plastiktüte auf dem Nachkästchen. Dann verließ sie den Raum.

/Ich kann doch nichts dafür..... Ich wollte doch nur schlafen.../, dachte Otoko und musste gleich darauf würgen. Wie er es schaffte, sich die Tüte zu schnappen, wusste er nicht. Wie er sich überhaupt übergeben konnte, wusste er auch nicht, schließlich hatte er schon eine Weile nichts mehr gegessen gehabt. Sich mehr als elend fühlend hing er halb über das Bett und jammerte leise.

Ein paar Minuten später kam die Krankenschwester wieder und hielt ihm ein Lunchpaket hin. "Sei froh, dass ich keinen Hunger habe. Das gehört normalerweise nicht zum Service.", meinte sie lächelnd und legte das in eine Tüte verpackte Brot neben das Glas Wasser.

"D-d-danke....", stotterte der Junge und versuchte sich aufzurichten.

Die Krankenschwester stütze ihn etwas, damit er nicht wieder zurückfiel und essen konnte. "Meine Schicht fängt gleich an. Eigentlich dürftest du gar nicht hier sein, das weißt du. Versuch etwas zu essen und zu trinken, damit du wieder zu Kräften kommst."

Otoko sah die Frau an. "...W-wieso... helfen sie mir...?", fragte er und fühlte gleich wieder die Schmerzen in seinem Kopf. /Der Stoff... Wo ist mein Stoff?/

"Weil wir dich nicht in der Schlafstelle liegen lassen konnten und in den Schnee werfen ging auch schlecht.", meinte die Frau leicht grinsend. Anscheinend war es ein Scherz.

"...Schlafstelle? Ach so..... Und wieso geben sie mir ihr Essen? Ich hab doch nur Ärger gemacht...", fragte er leise und sah auf das Brot.

"Ich sagte doch bereits, ich habe keinen Hunger. Hier sieht man so viele Dinge, die einem den Appetit verderben."

"Und wieso gerade mir....? Haben sie nicht jemanden, der wichtiger ist?"

"Kleiner. Iss und hör auf darüber nachzudenken, ja?"

"J-ja...", gab er von sich und biss zögerlich in das Brot, dabei sah er die Krankenschwester aus dem Augenwinkel an.

Die packte ein paar Sachen in die Taschen ihres Kittels und stand wieder auf. Dann sah die Frau auf die Uhr. "Ich komme zu spät...", murmelte sie.

Nachdem Otoko den letzten Bissen gegessen hatte, sah er die Frau erneut fragend an. "Werden Sie mich bestrafen?"

"Man hat bei dir keine Drogen gefunden. Keine Drogen, keine Strafe. So einfach ist das. Komm, ich muss jetzt wirklich gehen."

"K-keine Drogen? Wer- wo sind sie denn hin?" Sofort wurde ihm klar, wieso er keine mehr hatte. "G-giovanni! Verdammt! Er hat mir schon wieder alles geklaut!", verzweifelt sah er die Krankenschwester an und stand auf.

"Sei froh, dass er das getan hat. Sonst wärest du jetzt in Untersuchungshaft." Zügig verließ die Frau den Raum, hielt die Tür auf bis Otoko ebenfalls draußen war und schloss dann ab. "Und lass dir das eine Lehre sein, Kleiner."

Verwirrt starrte er sie an. "W-was Lehre? Dass ich ihn lieber das nächste Mal schon bevor er mich bestiehlt kalt mache?", fragte er hysterisch.

"Dass du keine Drogen mehr nimmst, meinte ich. Hoffentlich sehe ich dich so schnell nicht wieder, zwei Mal hintereinander kann ich dir diesen Gefallen nicht tun." Damit verließ sie den Gang durch das Treppenhaus.

"...D-danke noch mal....." Er sah ihr nach und suchte dann nach dem Ausgang.

6.

Chris saß seine Cornflakes kauend am Frühstückstisch und war damit beschäftigt, seinen kleinen Bruder zu ignorieren, da der schon wieder den ganzen Morgen Radau gemacht hatte. Genervt ließ er seinen Löffel sinken, als Neal lautstark verkündete, dass er auch an diesem Tag am Abend wieder weg sein würde. "Du wirst nicht gehen, Neal."

"Ach ja? Und wieso nicht? Willst du mit deinem Perversling ausgehen?", fragte der.

"Du hast morgen Schule und außerdem hast du dir Freitagabend schon genug geleistet. Ich habe dir ja Ärger versprochen und möchte dich nicht um den Genuss bringen.", gab Chris mit einem leicht sadistischen Grinsen zurück.

"Ach lass ihn doch gehen, wenn er unbedingt möchte.", mischte sich seine Mutter ein.

"Du bist viel zu weich. Er wird nie lernen, sich zu benehmen, wenn du ihm alles durchgehen lässt."

Doch seine Mutter schien seine Worte gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, denn sie streichelte Neal kurz über den Kopf. "Du kannst ja auf ihn aufpassen, wenn du dir Sorgen machst."

Frech streckte Neal seinem Bruder die Zunge raus.

"Ich spiele für den sicher nicht den Babysitter. Wenn ich sage, dass er hier bleibt, dann bleibt er auch hier." Um seine Aussage zu unterstreichen verschränkte Chris die Arme.

"Du kommst mir manchmal vor wie dein Vater.", meinte seine Mutter lächelnd und verschwand wieder in der Küche, um weiter abzuwaschen.

"Und im Übrigen ist dieser Perverse nicht mein Freund.", zischte Chris Neal leise zu.

"Ach ja? Und wieso ist er dann immer bei dir? Er war sogar bei dir in der Schule hab ich gehört."

"Woher weißt du das?"

"Man hat so seine Quellen.", sagte Neal und lehnte sich zurück.

Chris packte seinen Bruder am Kragen. "Sag. Es. Mir."

Grinsend sah ihn sein kleiner Bruder an. "Leck. Mich."

"Pass bloß auf, sonst mache ich das wirklich, Idiot!" Damit ließ Chris den anderen los und aß weiter. /Irgend etwas ist bei seiner Erziehung gründlich schief gelaufen./

"Ha, sicher... Du bist doch fromm wie ein Lamm." /Der masturbiert doch nicht mal.../ Ein Grinsen zierte sein Gesicht.

Doch Chris las lieber die Zeitung, anstatt mit seinem Bruder zu streiten. /Er benimmt sich, als wäre er der Ältere. Wieso hat er keinen Respekt vor mir?/, wunderte er sich in Gedanken.

"Ach ja, sag mal Chrisilein, wieso hat er eigentlich in deinem Bett geschlafen, wenn ihr nicht befreundet seid? Ist er etwa 'ne Hure?"

"Noch ein Wort und ich prügle dir ein bisschen Anstand ein.", meinte Chris, ohne von der Zeitung aufzusehen.

"Ich hab doch nur eine Frage gestellt, Brüderchen."

Mit einem äußerst wütendem Gesichtsausdruck stand Chris auf und ging um den Tisch herum. "Du hast es nicht anders gewollt..."

"Chris, Süßer, setz dich wieder hin und iss auf, ja?" Gerade war seine Mutter wieder für einen Moment aus der Küche gekommen.

"Sonst hast du keine Kraft, wenn du wieder mal standhaft sein musst."

"Und du hörst auf ihn zu ärgern, Neal-Schätzchen, sonst bleibst du zu Hause."

Nun war es Chris, der seinem Bruder die Zunge herausstreckte.

"Aber Mama, was kann ich denn dafür, wenn er immer gleich so wütend wird?", fragte dieser unschuldig.

"Sei einfach nett zu ihm.", kam es aus der Küche.

Chris stand auf. "Mir wird das Theater hier zu blöd."

"Du hast aber noch nicht aufgegessen, Chris-Schätzchen.", äffte Neal die Stimme seiner Mutter nach.

"Das macht nichts. Im Gegensatz zu dir trainiere ich nämlich nicht nur meinen Schließmuskel." Den letzten Satz hatte Chris leise ausgesprochen, damit seine Mutter ihn nicht hörte. Ein leises 'Idiot.' war noch zu hören, bevor er die Treppe hochging.

"Wenigstens habe ich Spaß im Vergleich zu dir, Mister Impotenz!"

In seinem Zimmer angekommen warf sich Chris auf das Bett und schloss die Augen. Seit er diesem Jungen geholfen hatte, lief alles schief. Mit Janine und Michael hatte er inzwischen telephoniert, aber trotzdem nervte ihn dieser Otoko. Hoffentlich kam er nicht wieder. Es reichte ihm jetzt schon, was diese Nervensäge namens Neal sagte. Aber wenigstens heute am Sonntag wollte er nicht an seine Probleme denken und einfach nur ausspannen. Und wo konnte man das besser als im eigenen Zimmer? Also blieb Chris einfach so liegen, bis er einschlief.
Immer noch schwankend und in der Hoffnung Giovanni zu finden ging Otoko die verschiedenen Orte ab, an denen dieser sich am meisten aufhielt.

Und tatsächlich stand der Italiener an eine Mauer in der Nähe eines kleinen Bahnhofs gelehnt und unterhielt sich mit einem anderen.

Sofort spürte Otoko Wut in sich aufsteigen. Er ging zielstrebig auf ihn zu und packte ihn am Kragen. "W-wo hast du meinen Stoff du Arsch?!"

Mit Leichtigkeit befreite sich Giovanni aus Otokos Griff. "Welchen Stoff?", fragte er grinsend.

"D-den, den du mir geklaut hast!!"

"Woher willst du wissen, dass ich es war, hm?"

"Weil du das einzige Arschloch dort drin warst!!", keifte Otoko.

"Falsch.", erwiderte Giovanni grinsend. "Es waren noch zwei weitere da und die Tür war nicht abgeschlossen."

"A-aber das waren keine Idioten wie du!! Gib mir meinen Stoff zurück!"

"Ich hab ihn nicht mehr."

"W-was?! Was hast du damit gemacht?!", schrie Otoko nun, aber seine Stimme war heiser.

"Ganz ruhig. Hier... Das ist noch übrig." Giovanni hielt Otoko den winzigen Rest des weißen Pulvers hin, zog ihn aber weg, als der danach greifen wollte. "Nur schade, dass ich ihn selbst brauche."

"Er gehört mir!", knurrte der blonde Junge und funkelte ihn mit den eisblauen Augen kalt an.

"Das Leben ist hart, ich weiß. Und hier geht es nun mal um das *Überleben*, genauer gesagt um meines." Er gab dem anderen, der die ganze Zeit wortlos neben ihm gestanden hatte, das Päckchen und nahm dafür ein paar Scheine, die er sofort einsteckte. "So ist es eben."

Otoko ging sofort auf den anderen los und versuchte, diesem den Rest des Pulvers wegzunehmen. Und das mit Erfolg.

Der Bestohlene rannte Otoko und vor allem seinem Stoff hinter, doch dieser war zu geschickt und flüchtete in eine Menschenmenge.

/Scheiße. Jetzt wird er seine Geld zurückhaben wollen./ Bevor das geschehen konnte, verdrückte sich Giovanni lieber.

Mehr als froh hielt Otoko den Stoff in seinen Händen. "...Dieser Arsch..." Aber er hatte wenigstens einen Teil seiner Drogen wieder.

7.

Etwa eine Stunde später verließ Neal eingepackt in eine dicke Winterjacke das Haus. Fröstelnd steckte er die Hände in die Hosentaschen und suchte nach seinem Geld, während er zur Bushaltestelle ging.

Die zusammengesunkene Gestalt sah auf, als sie Neal entdeckte und erhob sich sofort. So geschickt wie möglich folgte sie dem kleinen Bruder von Chris.

Der Plan an der Haltestelle zeigte an, dass der nächste Bus erst in zwanzig Minuten kommen würde. "Scheiße...", fluchte Neal und setzte sich in das kleine, schlecht geheizte Bushäuschen.

Das kam Otoko, dem Verfolger, gerade recht. Langsam betrat er das Bushäuschen.

Neal lehnte müde an der Wand und hatte die Augen halb geschlossen. /Wieso muss es nur so kalt sein?/

Unsicher blieb der blonde Junge stehen. /....Wieso ist das nötig, Chris?..../ Otoko atmete tief ein und ging auf Neal zu. "Hi."

Der Junge mit den kurzen dunkelblonden Haaren schaute auf. "Ach du schon wieder? Hat Chris dich rausgeschmissen?", fragte Neal grinsend.

Otoko sah Neal kalt an. "Ja und du wirst nun leider dafür bezahlen.", sagte er ruhig und näherte sich dem Jungen.

"Mach keinen Scheiß, Psycho. Wenn du Ärger hast, dann mach das mit ihm aus."

Ein Lächeln lag auf den blassen Lippen. "Er will mich nicht umbringen... Deshalb sollte ich ihn ein wenig wütend machen, findest du nicht?"

Neal sah ihn verständnislos an. "Spinnst du?"

Kopfschütteln. "Ich will nur endlich meine Strafe....", sagte er leise und packte blitzschnell nach Neals Kehle.

Ein leises Röcheln war alles, was der verwirrte Junge herausbrachte. Obwohl Otoko für ihn schwach und kränklich aussah, hatte er keine Chance, die Hand des anderen zu entfernen.

Otokos Augen funkelten eisig und er drückte den Jungen gegen die glasige Wand. "Hast du Angst?"

"Hör... auf...", presste Neal heraus. Ja, er hatte Angst. Mehr, als er zugeben wollte. Wie konnte der andere so viel Kraft haben?

"Schön.", zischte Otoko und riss den Jungen von der Wand weg und schlug ihn zu Boden. "Das nächste Mal bist du tot!"

Neal blieb wimmernd am Boden liegen. Was konnte er dafür, dass Chris sich mit so einem Kerl anlegte?

"Sag ihm das, wenn du noch ein wenig leben willst." Damit drehte er sich um und verließ die Haltestelle.

Langsam richtete Neal sich wieder auf. Verdammt, jetzt hatte er wahnsinnige Kopfschmerzen. Damit konnte er die Party vergessen. Und das hatte er nur Chris zu verdanken. Der würde etwas von ihm zu hören bekommen... Angestrengt stemmte Neal sich wieder hoch, wartete aber noch eine Weile, bis er zurück nach Hause humpelte.
Chris lag auf dem Rücken auf seinem Bett und starrte an die Decke, als er hörte, wie die Haustür zugeschlagen wurde. Dann ertönten laute Schritte, die die Treppe heraufkamen. /Hat Neal etwas vergessen?/

Eine Sekunde später war ein lautes Poltern an der Zimmertüre zu hören. "Chris! Chris, du Arsch! Lass mich rein!!"

"Was ist denn?" Seufzend stand Chris auf und schloss die Tür auf.

Schwer atmend starrte Neal seinen großen Bruder an. "Sag mal, willst du mich umbringen, du verdammtet Idiot?!?"

"Eigentlich nicht. Wie kommst du darauf?", fragte Chris ruhig und setzte sich wieder auf sein Bett.

"Verdammt, er hat mich vorhin fast erwürgt!! Was soll die Scheiße?!? Was hast du getan?!"

"Erwürgt? ... Otoko..." Nun fiel es Chris wieder ein. Der Junge hatte ihm ja gedroht, seinem Bruder etwas anzutun. Anscheinend wurde es jetzt wirklich ernst. Er musste endlich eine Lösung für sein Problem finden.

"Was?! Ist das alles was du sagst?!? Verdammt! Ich wäre fast gestorben, du Eisklotz!!"

"Du bist doch selbst schuld, wenn du ihn die ganze Zeit so beschissen zu ihm bist. Es war ja klar, dass er sich das nicht ewig gefallen lassen würde. Was kann ich dafür?"

"Ich?!", fragte Neal hysterisch. "Er ist doch hinter dir her!!"

"Anscheinend hast du seine Aufmerksamkeit erregt. Dein Problem.", meinte Chris mit einem kalten Lächeln.

Neal stiegen plötzlich die Tränen in die Augen. "Verdammt! Ich hab doch gar nichts gemacht!!"

"Du mischt dich immer in Sachen ein, die dich nichts angehen. Das hast du gemacht. Dir lässt man sowieso zu viel durchgehen und jetzt wirst du endlich mal dafür bestraft." Auch wenn das gar nicht Chris' Meinung war, nervte ihn sein kleiner Bruder so sehr, dass er ihn beschuldigte. Natürlich konnte er nichts dafür, dass Otoko ihn angriff. Aber das würde er ihm sicher nicht sagen.

Nun wurde Neal wirklich wütend und packte seinen Bruder am Kragen. "Du Arsch! Hörst du mir überhaupt zu?! Er will mich wegen dir umbringen!!"

"Das ist nicht mein Problem.", erwiderte Chris ruhig, obwohl es genau das war.

"Wieso nicht?!", schrie der Kleinere und seine Stimme brach ab. Er hatte wahnsinnige Angst und konnte es einfach nicht verstehen, wie er seinem Bruder so gleichgültig sein konnte.

"Ich kann doch auch nichts machen," gab Chris leise zu. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, sein kleiner Bruder tat ihm leid.

"Gib ihn doch, verdammt noch mal einfach, was er will!"

"Er will, dass ich ihn umbringe. Und das werde ich ganz sicher nicht tun."

Neal verstummte, getraute sich nicht einmal mehr richtig zu atmen. "D-das ist ein Witz... oder?", fragte er unsicher.

Doch Chris schüttelte lediglich den Kopf.

"Er ist doch nur ein Penner! Niemand würde ihn vermissen, Chris!"

"Aber ich kann niemanden umbringen, egal wer oder was er ist."

"Er ist gar nichts! Ein Niemand! Wenn du es nicht tust, werde ich es tun! Ich lasse mich von so einem Psycho nicht um die Ecke bringen!", schrie Neal und wollte aus dem Zimmer stürzen.

Doch Chris hielt ihn fest. "Ich will keinen Mörder zum Bruder, verdammt!"

"Und ich will noch eine Weile LEBEN!!"

"Ich habe überlegt, ob ich die Polizei einschalten soll, aber du kennst meinen Ruf ja... Ich denke nicht, dass sie mir glauben werden.", erzählte Chris weiter, zog Neal zu sich aufs Bett und schloss ihn in seine Arme. "Ich habe doch genauso viel Angst wie du."

"Dich hat er doch gar nicht versucht zu töten!", brachte Neal gepresst heraus und begann wieder zu zittern.

"Du bist zwar ein kleiner nerviger Idiot, aber du bist mein Bruder und ich will dich nicht verlieren. Verdammt, ich könnte mich selbst schlagen für meine Schwäche.", schluchzte Chris und drückte Neal enger an sich.

Verwirrt oder besser gesagt verstört sah der Chris an und brachte keinen Ton mehr raus.

Das Bild des großen Bruders, der vor nichts Angst hatte, war nun wirklich zerbrochen und Chris konnte nicht sagen, was ihn mehr schmerzte. Das oder die Tatsache, dass ein Psychopath versuchte seinen Bruder umzubringen. Schon immer hatte er anderen eine Stärke vorgespielt, die er nicht hatte und jetzt, da er sich Neal einmal geöffnet hatte, wenn auch nicht freiwillig, weinte er hemmungslos wie ein kleines Kind.

"Chris... Chris, spinnst du jetzt etwa auch? W-wieso weinst du? Das tust du doch sonst nicht.....", fragte Neal und fügte leise hinzu, "....Du machst mir Angst...."

"Tut mir leid... Es tut mir so leid...," wimmerte Chris leise.

"Chris... Chris! Du studierst doch Psychologie! Tu doch etwas! Nimm ihn als Versuchsobjekt oder sonst etwas!"

Doch der Andere hörte gar nicht, was Neal sagte und drückte den Jüngeren lediglich enger an sich.

Das wurde dem Jungen nun doch zu unheimlich. "Chris! Lass mich los! Du zerdrückst mich noch! Das tut weh!"

Nur langsam kam Chris der Aufforderung nach. Sein Blick war zu Boden gerichtet, so dass die Haare sein Gesicht verdeckten. Er wollte nicht noch mehr Schwäche zeigen, als er es schon getan hatte und die Tränenspuren musste Neal wirklich nicht sehen.

Neal sank zu Boden und starrte seinen Bruder immer noch an. "Chris.... Wie bist du überhaupt an ihn geraten?"

Chris überlegte, ob er es Neal erzählen sollte oder nicht, entschied sich aber dann dagegen. Neal würde sicher ausrasten, wenn er erfahren würde, dass es seine eigene Schuld gewesen war. Also schwieg er nur, während er sich langsam wieder beruhigte.

Neal, der im Moment sowieso mehr als reizbar war, stand schnaubend auf und verließ Chris' Zimmer.

/Hoffentlich erzählt er niemandem davon.../, war das letzte, was Chris durch den Kopf ging, bevor er sich auf das Bett fallen ließ, die Augen schloss und versuchte, an gar nichts mehr zu denken.

Sein kleiner Bruder hingegen stürmte in das eigene Zimmer und knallte die Tür zu. Er war außer sich vor Wut. Er hatte sich nie besonders gut mit Chris verstanden, aber ihn, auch wenn dieser es nicht wusste, immer für seine Stärke bewundert. Und jetzt musste er erkennen, dass sie nur ein Trugbild gewesen war. Mehr nicht... Mit einem hilflosen Wimmern verkroch Neal sich in seinem Bett. Was hatte er getan, dass innerhalb von einem Tag seine halbe Welt zusammenbrach? Es war wie in einem schlechten Film...

8.

Otoko kramte in seinen Taschen nach den kleinen Geldstücken, die er heute zusammengebettelt und gefunden hatte. "...Sollte reichen...", sagte er matt zu sich selbst und klopfte, wie schon am Abend zuvor an der Tür zur Schlafstelle an.

Diesmal öffnete ein ungefähr 40 Jahre alter dunkelhaariger Mann. "Was willst du?", fragte er mürrisch.

Otoko schrak ein wenig zurück. /Na was wohl du Idiot?/, dachte er. "Ich wollte fragen, ob sie noch ein Bett frei haben."

"Nein, es ist alles voll. Komm morgen wieder, vielleicht hast du dann Glück."

"Oh.... ok.... danke trotzdem...", sagte er leise und drehte sich wieder weg.

Der Mann grummelte noch etwas und schloss dann die Tür wieder.

"Idiot...", zischte Otoko und begab sich auf die Suche nach einem anderen Schlafplatz. Er war heute mehr als schlecht gelaunt.
Chris wachte am nächsten Morgen auf, als ihn lästige Sonnenstrahlen blendeten. Er hatte am Abend vergessen, die Jalousie herunterzulassen. Müde rieb er sich die Augen und sah auf seine Uhr. 8.43 Uhr. Mist. Er hatte mal wieder verschlafen und vergessen, sich den Wecker zu stellen. Na ja, ändern ließ sich das nun auch nicht mehr. Zum Glück begann die Vorlesung heute erst um 9.30 Uhr, da hatte er also noch ein wenig Zeit. Langsam stand er auf und bemerkte, dass er noch die Kleidung vom letzten Tag anhatte. Er war, nachdem Neal aus seinem Zimmer gestürmt war, eingeschlafen und erst jetzt wieder aufgewacht. Egal.

Schlaftrunken torkelte er ins Bad und erledigte, was zu erledigen war. Von unten her hörte er schon die Stimme seiner Mutter und die seines Bruders. Hoffentlich hatte Neal ihr nichts gesagt. Chris holte sich seine Tasche aus seinem Zimmer und polterte die Treppe hinunter.

Kaum war Chris unten angekommen streckte auch schon Neal seinen Kopf aus der Küche. Eigentlich hätte er schon in der Schule sein müssen, aber wie es schien, schwänzte er heute. "Chris, komm mal kurz."

/Nein. Er darf es ihr nicht erzählt haben. Er darf es nicht./ Mit einem unguten Gefühl kam Chris der Aufforderung seines Bruders nach.

Neal sah seinen großen Bruder ernst an. "Ich bin der Meinung, wir sollten die Polizei verständigen... Dir mögen sie ja nicht glauben... Aber vielleicht mir... Ich habe wirklich Angst, Chris..."

Chris zögerte, doch dann nickte er. "Ich gehe nach der Uni hin, ok?"

"D-dann bleibe ich so lange hier.... Ich will diesem Psycho nicht über den Weg laufen..."

"Tu das. Es ist das Sicherste." Das Gespräch war für Chris beendet, er schnappte sich ein Brötchen und das vorbereitete Lunchpaket und zog sich dann in der Garderobe seine Jacke und die Schuhe an. "Bye." Und schon hatte er das Haus verlassen.

Neal starrte seinem Bruder verwundert nach. /Hat er denn keine Angst?..../

Nur wenige Minuten später saß Chris im Bus. Gelangweilt sah er nach draußen, aber er nahm die verschneiten Straßen gar nicht richtig wahr. /Hoffentlich glauben sie mir. Seit dem Scherz damals sind sie nicht mehr gut auf mich zu sprechen./ Besagter Scherz war eine Art Mutprobe gewesen, bei der ein paar Freunde von Chris und er selbst der Polizei eine Geschichte von einer Bande Mörder aufgetischt hatten, die angeblich hinter ihnen her waren. Damals hatten sie ihm geglaubt und wäre er älter gewesen, hätte er sogar ein Verfahren bekommen, als sie erfahren hatten, dass es sich nur um einen dummen Kinderstreich gehandelt hatte. Doch glücklicherweise konnten ihre Eltern die Polizisten davon abbringen, Anzeige gegen sie zu erstatten. Seitdem hatte er nichts mehr mit der Polizei zu tun gehabt und es war mehr als schwer für ihn, sich mit dem Gedanken anzufreunden, wieder dort hingehen zu müssen. Hoffentlich glaubten sie ihm.
Als Chris in der Uni ankam sah ihn Janine kurz an und blickte dann auf die Uhr. "Wieder mal ganz knapp nicht zu spät, was?"

"Besser zu spät als nie.", erwiderte Chris grinsend und setzte sich neben sie. "Wo ist Michael?"

"Bei dem heißt es wohl auch 'Besser zu spät als nie'.", seufzte sie theatralisch.

Chris sah bei diesem Satz in Gedanken Michael und Janine zusammen im Bett. Sein Grinsen wurde breiter. /Ob das da auch bei ihm zutrifft?/ "Er taucht sicher gleich auf.", meinte Chris und packte seine Unterlagen aus.

"Das hoffe ich doch mal schwer... Die Professoren haben schon mehr als ein Auge auf ihn geworfen... Genau wie bei dir, du Langschläfer." Ein Grinsen zierte Janines Gesicht.

"Das kümmert mich nicht."

Genau in diesem Moment tauchte der Professor auf. Hinter ihm war eine weitere Gestalt zu erkennen. Michael.

"Hm? Was hatte er denn beim Professor zu suchen?", fragte Janine verwirrt und sah ihren Freund fragend an.

Chris zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht... Aber er wird es sicher gleich sagen..."

Der Professor ging zu dem kleinen Rednerpult, während Michael zu ihnen kam.

Er setzte sich neben die beiden und drückte Janine einen Kuss auf die Wange. "Hi!", sagte er grinsend und packte seine Sachen aus.

"Janine und ich warten schon Ewigkeiten auf dich. Du solltest dir endlich einmal angewöhnen, pünktlich zu kommen.", scherzte Chris, während der Professor mit der Vorlesung anfing.
Chris atmete tief ein, dann ging er in das Polizeirevier. Vielleicht hatte er ja Glück und die Polizisten, die er von damals kannte, waren versetzt worden oder sie waren einfach nicht da. Mit einem schlechten Gefühl klopfte er an der hölzernen Tür an, auf deren Schildchen 'Office' stand.

Eine Frau mittleren Alters öffnete die Tür und sah Chris fragend an. "Ja bitte?"

Der lächelte unsicher. "Ich... Ich habe ein Problem...", stammelte er. Warum mussten ihn Polizisten auch so nervös machen?

"Na dann kommen Sie rein.", sagte die Frau freundlich und trat zur Seite, damit Chris eintreten konnte. "Ist es sehr dringend?"

"Ja...", antwortet Chris und ging in den Raum. "Es ist so. Da ist ein Verrückter hinter mir her und jetzt hat er meinen Bruder angegriffen." Doch dann entdeckte er Officer Renolds an einem Schreibtisch sitzen, der ihn wütend ansah. /Nein.../

Ungläubig sah ihn die Beamtin an und wies ihm einen Stuhl zu. "Du bist...?"

Chris war froh, sitzen zu können. Nun hatte er wenigstens nicht mehr das Gefühl, dass seine Beine gleich nachgaben. "Christos Neeson.", antwortete er verspätet. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Officer aufstand und zu ihnen hinging. /Sie müssen mir einfach glauben.../

"Was hast du dir diesmal ausgedacht?", knurrte der Officer und funkelte ihn böse an.

"Ich habe es mir nicht ausgedacht. Das ist die Wahrheit, das schwöre ich.", verteidigte sich Chris verzweifelt.

"Ja, ja, so wie letztes Mal, ja?", grummelte er. "Komm mit... Leider muss ich mir deine Geschichte anhören."

Chris schluckte, stand auf und folgte dem Officer zu dessen Schreibtisch.

Schwerfällig ließ sich Officer Renolds in den Stuhl sinken und verschränkte die Arme, dann sah er Chris auffordernd an.

Der setzte sich ebenfalls und fing dann an zu erzählen. "Letzte Woche auf dem Weg zur Uni hab ich diesen Penner, Entschuldigung, Obdachlosen getroffen. Und ich Idiot hab ihn zu mir mit nach Hause genommen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass dieser Psycho so etwas machen würde. Auf jeden Fall hat er gestern Abend meinen Bruder angegriffen und gedroht, dass er ihn umbringt."

Der Mann runzelte die Stirn und sah Chris prüfend an. "Das meinst du nicht ernst, oder?"

"Doch. Sie können meinen Bruder fragen, er wird es Ihnen bestätigen."

Der Mann seufzte. "Und wo ist dein Bruder?"

"Zu Hause. Er hat sich nicht in die Schule getraut."

"Oder er war einfach zu faul, weil er kein bisschen für ne Prüfung geübt hat."

"Nein, das stimmt nicht. Der Kerl hat ihn wirklich angegriffen."

"Weil du ihm geholfen hast?"

"Ja.", antwortete Chris, obwohl es auch in seinen Ohren verrückt klang.

Der Officer schwieg und fragte sich ernsthaft, ob er Chris eine Ohrfeige geben oder ihn einfach nach Hause schicken sollte.

"Das ist mein Ernst. Der Kerl ist verrückt. Er will von mir, dass ich ihn umbringe und weil ich das nicht will, droht er, meinen Bruder zu töten."

"Und wie heißt der Film, den du gestern gesehen hast?"

Chris sah den Officer verständnislos an.

Der zuckt mit den Schultern. "Na irgendwo her musst du ja diese Idee haben, oder?"

"Ich sagte doch, dass es die Wahrheit ist!"

"Tut mir leid, aber das kann ich dir nicht glauben."

Chris musste sich beherrschen, um den Officer nicht noch lauter anzuschreien. Wütend sprang er auf. "Das müssen Sie aber! Verdammt, dieser Mistkerl hat meinen Bruder verprügelt!"

"Ok, ok, beruhige dich Junge... Setz dich wieder."

Langsam tat Chris, was ihm gesagt wurde.

Gelangweilt holte der Officer ein Papier hervor. "Also... Dann erzähl mir mal alles, was du über ihn weißt."

"Er heißt Otoko, zumindest hat er das gesagt. Blonde, lange Haare, hellblaue Augen. Drogenabhängig."

Alles wurde auf dem Blatt notiert. "Noch was?"

Chris überlegte. "Er trägt eine zerschlissene Jeans, ein dreckiges Shirt und einen zerlöcherten dunklen Mantel. Und eine Basketballkappe."

"Farbe?", fragte der Officer knapp.

"Sie war mal weiß..."

Nun entfloh dem Beamten ein Lachen und er notierte es erneut auf dem Blatt. "So... Ist das alles?"

Wieder überlegte Chris. "...Er hat Narben an den Handgelenken, aber das hilft wohl nicht viel..."

"Hm... vielleicht... Wir werden sehn, ich werde die Meldung mal rausschicken." Renolds kramte auf seinem Schreibtisch herum.

"Danke..."

"Aber du weißt hoffentlich, was dir blüht, wenn du uns noch einmal so anschmierst?"

"Ich sagte bereits, dass es die Wahrheit ist."

"Ja, ja, das hast du das letzte Mal auch gesagt."

"Damals war ich gerade mal elf."

Der Officer sah Chris von oben bis unten an, sagte aber nichts dazu.

"Soll ich vielleicht einen Eid ablegen?", fragte Chris gereizt.

"Es reicht, wenn ich dich vor den Richter führen darf, wenn es sein muss."

Chris sah den Officer böse an, hütete sich aber davor, etwas zu antworten.

"So, und nun geh nach Hause. Wir haben zu tun."

"Wenn mein Bruder stirbt, dann sind Sie schuld." Damit wollte Chris gehen, blieb jedoch noch einmal stehen, bedankte sich und verließ dann wirklich das Büro.

"Pft..... Die Jugend von heute....", zischte der Officer verächtlich. Dieses Mal würde er sich nicht von dem Jungen verarschen lassen. Es war einfach zu gutmütig gewesen, um auf die Idee zu kommen, dass Chris und seine Freunde sich die Geschichte damals nur ausgedacht hatten. Und er verfluchte sich manchmal heute noch dafür. Das Gespräch, das er wegen dieser Sache mit seinem Vorgesetzen geführt hatte, war nicht unbedingt ein Kaffeekränzchen gewesen und man hatte ihm ausdrücklich klargemacht, dass ihm solche Fehler nicht noch einmal passieren sollten. Dabei war Renolds bis zu diesem Tag immer der Meinung gewesen, ein Menschenkenner zu sein.

9.

Vergnügt schlenderte Chris durch die Straßen nach Hause. Er hatte zwar den Bus verpasst, aber das störte ihn nicht. Seit er am Montag bei der Polizei gewesen war, hatte er nichts mehr von Otoko gehört und das war immerhin schon vier Tage her. Er war noch mit Michael und Janine in einem Café gewesen, bis die beiden schließlich allein sein wollten und er beschlossen hatte, nach Hause zu gehen. Mittlerweile war die Sonne schon untergegangen und Chris betrachtete die Sterne, während er durch die Massen von Schnee stapfte.

Plötzlich stolperte eine Gestalt auf die Straße und rannte mehr oder weniger gerade auf Chris zu.

Der sah die Gestalt verwirrt an und erkannte sie schließlich. Verdammt, die Polizisten hatten versagt. Seine gute Laune war dahin.

Kurz vor Chris wurde Otoko langsamer und kam dann endgültig zum Stehen. "Chris... w-wieso hast du es... der Polizei gesagt?"

"Ich hatte dich gewarnt...", antwortete der Angesprochene und ging an Otoko vorbei. So ein Idiot. Wie konnte dieser ihm seinen Freitagabend verderben?

"Ich dich ebenfalls! Ich habe dir gesagt, was ich tue, wenn du meine Forderung nicht erfüllst!!", rief Otoko und ging Chris nach.

"Sei still! Ich will nichts mehr davon hören! Verdammt!", fluchte Chris laut.

"Dann tu es endlich! Dann bin ich still!"

"Nein!"

Stumm schritt Otoko nun neben Chris her, ohne auch nur noch ein Wort zu sagen.

"Was du mit Neal gemacht hast, war wirklich erbärmlich. Wieso ziehst du ihn mit rein?"

"Weil du es nicht tun willst... Je mehr ich dir antue, um so schneller bringst du mich vielleicht um."

"Ich werde dich niemals umbringen. Ich sorge dafür, dass du in der geschlossenen Anstalt landest, dann bin ich dich los."

"Das findest du also gnädiger?", fragte Otoko bitter.

Chris lachte verächtlich. "Das spielt keine Rolle."

"Ich möchte es aber wissen."

"Nein, aber dafür bringt mich auch keiner ins Gefängnis."

"Aber ich will es doch so!! Wieso soll das illegal sein?!"

"Frag die, die die Gesetzte machen und nicht mich."

"Wenn es legal wäre.... würdest du es tun?"

"Vielleicht..."

Seufzend ließ Otoko den Kopf hängen.

Wütend und mit den Händen in den Hosentaschen ging Chris weiter. Dieser Verrückte trieb ihn noch in den Wahnsinn.

"Chris?.... Was würdest du tun, wenn ich dich angreifen würde?"

Chris antwortete nicht, aber er spannte seinen Körper an, um sich bei einem eventuellen Angriff verteidigen zu können. Bei dem Jungen konnte man nicht sicher sein, ob er das, was er sagte, nicht auch wahr machte.

Als keine Antwort kam, sah Otoko auf. "Sag schon, was würdest du tun?"

"Vergiss es, ich würde dich nicht töten, egal, was du machst."

"Hmm....", sagte der Blonde nachdenklich und ging weiter neben Chris her.

Der blieb stehen. "Wieso verdirbst du mir andauernd die Laune?"

"Tue ich das?", fragte Otoko unschuldig und blieb ebenfalls stehen. "Soll ich dich aufheitern?"

Chris sah Otoko verwirrt an, sagte aber nichts. So ein Vorschlag konnte einfach nichts gutes bedeuten.

"Ist es das, was du willst?", fragte Otoko ehrlich.

"Ich will, dass du für immer aus meinem Leben verschwindet.", antwortete Chris, etwas aus der Bahn geworfen.

"Aber du musst mich doch erst umbringen."

"Und dann werde ich mich immer an dich erinnern. Für dich mag Mord ja etwas normales sein, aber für mich nicht."

Mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen wich Otoko zurück. Dieser Satz war für ihn wie ein Schlag in den Magen und er fühlte, wie sich in seinem Körper ein mehr als ungutes Gefühl breit machte. "D-d-da.... das stimmt n-n-nicht... Wie kannst du so etwas sagen?!?"

"Du hast versucht, meinen Bruder zu töten, verdammt! Ist das kein Grund?!", fauchte Chris wütend.

"Das stimmt gar nicht!! Ich wollte ihm nur Angst machen, damit du siehst, dass ich es ernst meine!", schrie Otoko verzweifelt.

"Fakt ist, dass du ihn verletzt hast! Und das ist ein bisschen mehr als nur ein einfaches Angst-machen."

"Wenn ich ihn verletzt habe, ist er ein verdammtes Muttersöhnchen!"

"Er ist noch ein Kind! Was denkst du, wie es dich in seinem Alter verletzt hätte?!"

"Nicht mehr, als die anderen Schläge, die ich alle einstecken durfte, wenn ich keinen Stoff bei mir hatte!", keifte Otoko.

"Du bist doch selbst schuld, dass du in dieser Lage bist!", schrie Chris wütend zurück.

"Ja, ich bin selbst schuld... SAG MIR EINEN VERDAMMTEN GRUND DAFÜR!!!" Otokos Stimme brach fast ab und er musste auch gleich darauf heftig husten.

"Was weiß ich? Es ist dein Leben und es interessiert mich kein bisschen. Und jetzt lass mich endlich in Ruhe!" Chris sah ihn noch einmal böse an und ging dann weiter.

Nun rastete Otoko endgültig aus. Er rannte auf Chris zu und riss ihn mit sich zu Boden. "Es interessiert dich also kein bisschen, ja?! KEIN bisschen?! Wieso hast du mich dann zu dir mit nach Hause genommen?! Wieso hast du mich gewaschen?!? Und wieso zum Teufel hast du mir meinen Stoff weggenommen?!?"

Wütend trat schlug Chris Otoko seine Faust in den Magen und diesen damit von sich. "Fass mich nicht an! Es war ein Fehler, dich überhaupt zu beachten, aber das kann ich jetzt auch nicht mehr ändern!"

Otoko hielt sich den Bauch und sah Chris mit kalt funkelnden Augen an. "Du weißt gar nicht, wie es ist, so zu leben, wie ich....", knurrte er.

"Dann bring dich doch endlich um!", schrie Chris und stand wieder auf.

"Das kann ich nicht!!!! Ich muss erst bestraft werden!!!"

"Und warum bestrafst du dann mich?!"

"Du bist dazu bestimmt, mich zu töten..."

"Du hast doch 'nen Knall! Aber bitte, wenn du Strafe willst, bekommst du sie!" Damit trat Chris dem immer noch auf dem Boden liegendem Jungen nochmals in den Magen.

Otoko krümmte sich auf dem Boden. "D-das n-nennst du eine Strafe?!.... D-das hatte ich schon.... seit meiner Geburt.... D-daran hab ich mich gewöhnt!"

"Schön für dich!"

"Nein! Schön für dich!", keifte Otoko und schlug Chris die Beine weg.

Der landete hart auf dem Boden. "Mistkerl!", fluchte er, packte sich irgendein Körperteil von Otoko und zerrte daran.

Als Chris an seinem Bein zerrte, trat er nach dem älteren Jungen und versuchte, wieder aufzustehen.

Doch Chris dachte nicht daran, Otoko einfach so entkommen zu lassen, zog diesen am Kragen zu sich und setzte sich einfach auf dessen Bauch. "Und jetzt?", fragte er überlegen, während er Otoko mit seinem Körpergewicht auf dem Boden hielt.

Otoko griff in den Schnee und schaufelte ihn Chris ins Gesicht. Ihm war es egal, dass er kaum noch Luft bekam.

Als Chris nun auch noch die Handgelenke des anderen packte und ebenfalls auf den Boden drückte, war dieser vollkommen wehrlos. Zumindest dachte Chris das. "Du kleines Arschloch denkst doch nicht etwa, dass du mich besiegen kannst?"

"Du bist nur ein kleiner verwöhnter Stubenhocker. Du weißt doch gar nicht, was hartes Leben ist!", keifte Otoko und schlug mit seinem Kopf nach oben, so dass er genau Chris' Gesicht traf.

Etwas Blut tropfte von Chris' Nase, doch er ließ Otokos Hände nicht los, sondern hob nur den Kopf aus Otokos Reichweite. "Einerseits willst du, dass ich dich verletze und andererseits wehrst du dich dagegen..."

"Ja! Weil ich genau weiß, dass du mich nur kurz bewusstlos schlägst und dann abhaust!!"

"Du solltest mit dem zufrieden sein, was du bekommst..."

"Nein! Diesmal lasse ich mich nicht verarschen!", schrie Otoko.

"Ach ja? Und was willst du dann tun, wenn ich fragen darf?"

"Ich werde dich so lange verfolgen, bis ich bekomme, was ich will!"

"Vorher findet dich die Polizei."

"Das glaubst auch nur du!"

"Ja, das glaube ich! Weil ich ohne nachzudenken ein Menschenleben genommen habe! Ich verdiene nur noch den Tod!"

"Aber dasselbe verlangst du von mir, ja? Ich soll etwas tun, was mich ins Verderben reißt, aber das ist dir vollkommen egal. Du interessierst dich nur für dich selbst. Blöder Egoist!"

"Verdammt! Dieser Arsch wollte nicht sterben! Er wollte überleben!!! Ich WILL sterben!!"

"Aber das interessiert niemanden. Die werden mich als Mörder verurteilen, wenn ich dich töte."

"Dann unterschreibe ich eben einen Zettel, in dem steht, das ich sterben will!!"

"Das ändert auch nichts."

"Wieso nicht?!?"

"Weil es so ist!"

"Und wenn ich es jedem sage? Oder wenn du aus Notwehr handelst?"

"Ich *will* und *werde* dich nicht töten, verdammt!", fluchte Chris und stand auf. "Du bist so ein Idiot!"

"Das hast du mir schon so oft gesagt... Ich glaube nicht daran! Ich werde es nicht aufgeben!"

Chris antwortete nicht, sondern klopfte sich den Schnee von seiner mittlerweile halb durchweichten Kleidung. /Toll. Was gibt es schöneres, als bei der Kälte klitschnass nach Hause laufen müssen?/ Ein eisiger Windstoß wehte durch die verschneiten Straßen und sofort bildete sich auf Chris' Haut eine Gänsehaut.

Schwankend kam nun auch Otoko auf die Beine, scheinbar hatten ihm Chris' Tritte doch ein wenig mehr zugesetzt, als er zugeben wollte. "Chris... warte, bitte... I-ich... Eigentlich wollte ich dir dankbar sein... aber... du weißt nicht, was ich durchgemacht habe... Und ich verstehe es auch, wenn dir das egal ist.... aber... ich meine.... du bist meine letzte Hoffnung...."

"Jeder andere kann dich genauso umbringen. Wieso ich? Und komm mir nicht mit diesem Scheiß, dass ich dir geholfen habe. Das ist kein Grund." Chris sah den anderen ernst an. Wenn er schon von einem Verrückten verfolgt wurde, dann wollte er wenigstens wissen, warum.

Otoko blieb einige Schritte vor dem größeren Jungen stehen. Als er den ernsten Blick sah, erwiderte er ihn leicht. "W-weil... weil ich durch deine Hände sterben möchte... Schon als ich dich das erste Mal gesehen habe... du... Scheiße..." Mit verzweifeltem Blick sah er zur Seite. "...Du wirst mir das aber ja sowieso nicht glauben..."

"Sag schon!", forderte Chris unnachgiebig.

"Es... es ist.... weil... ich dich...", stammelte er und brach erneut ab.

Genervt rieb Chris sich die kalten Hände, um sie etwas zu erwärmen, sagte aber nichts.

Diese Stille zwischen ihnen war dem blonden Junge mehr als unangenehm und so stammelte er weiter: "...Ich weiß, dass du mich nicht magst... sogar hasst... Aber du hast mir einmal geholfen... Du bist kein schlechter Mensch... Das weiß ich... Am liebsten wäre ich auch so einer... Aber das bin ich nicht... Schön, wenn man mich überhaupt als Mensch bezeichnen würde..." Er seufzte. "...Vielleicht bin ich einfach nur eifersüchtig auf dich..."

Chris wusste nicht, was er erwartet hatte, aber irgendwie war er enttäuscht. War das alles? Das konnte doch nicht sein. "Und deswegen soll ich dich töten? ... Das ist doch lächerlich... Es gibt Tausende, die so sind wie ich..."

"Ach ja?", fragte Otoko bitter. "Dann zeig mir doch mal, in welchem Loch sich die verkrochen haben."

"Was weiß ich?" Chris' Stimme klang leicht hysterisch. Dieses Gespräch hatte keinen Sinn, es brachte doch zu nichts. Er wollte heim, sich in eine warme Badewanne legen oder ähnliches. Aber ganz sicher wollte er nicht hier sein.

"...Chris... hasst du mich?", fragte der Blonde nun leise.

"... Nein... Wenn du mich in Ruhe lässt, nein..."

"...Und wenn ich da bin ja."

"Du verlangst von mir, dass ich einen Menschen töte. Das kann ich nicht, verdammt! Wieso verstehst du das nicht?"

"...Ich weiß es nicht... Ich wurde einfach nicht dazu geboren, irgendwas zu verstehen... Ich bin einfach zu dumm..."

"Wieso sagst du so etwas?" Wieder war dieser leicht hysterische Ton in Chris Stimme. Otoko war schon wieder dabei, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Merkte er das nicht oder machte er das mit Absicht?

Zögerlich ging der Junge ein paar Schritte auf Chris zu. "...Es... ist doch die Wahrheit... Ich war noch nie in der Schule... Ein Wunder, dass ich überhaupt sprechen kann...."

Chris jedoch wich ein paar Schritte zurück. "Was kümmern mich deine Probleme? Ich habe meine eigenen, verdammt! Lass mich einfach in Ruhe..."

"Aber... du hast mir doch schon einmal geholfen... Wieso nicht ein zweites Mal...? Bitte... Ich gebe dir, was du willst..."

"Nein! Niemals!", schrie Chris.

Stumm sah ihn Otoko an und entgegnete nichts mehr.

"Idiot!" Chris zitterte leicht, als er sich umdrehte und davon rannte. Verdammt, was war er doch für ein Feigling. Da rannte er vor einem schwächlichen Irren weg. Während er sich selbst Vorwürfe machte, achtete er nicht darauf, wohin er ging und fiel prompt über einen vom Schnee verdeckten Randstein. Mit Tränen in den Augen versuchte er aufzustehen, was ihm sein aufgeschürftes Knie noch erschwerte.

Nach einigen Sekunden hatte Otoko Chris erreicht und versuchte ihm hochzuhelfen.

"Fass mich nicht an!", schrie Chris und stieß Otoko weg. Mit zusammengebissenen Zähnen schaffte er es aufzustehen.

Der Zurückgestoßene schluckte. "I-ich wollte dir doch nur aufhelfen....", sagte er leise und ging ein paar Schritte rückwärts. "...Dich würde ich niemals schwer verletzen wollen... Hast du etwa Angst vor mir?"

"Nein, das habe ich nicht!" Chris drehte sich weg und ging langsam weiter, diesmal aber wesentlich langsamer.

"Wieso schreist du mich denn so an?", fragte Otoko und folgte Chris mit ein wenig Abstand.

"Weil du mich wahnsinnig machst...", murmelte Chris.

"....T-t-.... gomen ne....."

"Was?"

"Gomen ne.", wiederholte sich Otoko, etwas deutlicher.

Müde schleppte sich Chris weiter. "Ich verstehe dich nicht..."

"... T-tut mir leid."

Chris runzelte die Stirn. "Welche Sprache war das?"

"Japanisch....."

"Woher kannst du das?"

"D-das hat mir jemand beigebracht... als ich noch klein war...." Er zeigte mit der Hand die ungefähre Größe, die er in dem Alter hatte.

"Aber selbst bezeichnest du dich als dumm..."

"W-wieso?... I-ich kann doch nur Englisch... Japanisch be-beherrsche ich doch gar nicht...", stammelte er.

"Du willst gar nicht aus deiner beschissenen Lage raus, nicht wahr? Du brauchst deine Probleme, weil du nichts anderes gewöhnt bist."

Perplex starrte ihn Otoko an. "W-was...? Wie meinst du das?... Wieso sollte ich so ein Leben wollen?"

"Weil du Angst davor hast, etwas dagegen zu tun. Du willst nur weglaufen, aber ändern willst du nichts. Obwohl du die Möglichkeiten dazu hättest, wenn du dich auch nur anstrengen würdest."

Verstört schüttelte Otoko den Kopf. "D-das stimmt nicht! Ich habe es immer versucht.... bis... bis ich gemerkt habe, dass mir so etwas nicht zusteht..."

Chris blieb stehen. "Und warum steht es dir nicht zu?"

"....Das musst du nicht mich fragen... Ich wollte eine Familie... Ich wollte zur Schule...", schluchzte Otoko und eine Träne löste sich und rann seine schmutzige Wange hinunter. "...I-ich wollte doch so vieles.... Und was habe ich jetzt........? Das hier!" Er deutete auf seine zerschlissene Kleidung.

"Wieso verdienst du es nicht, zu leben?", fragte Chris noch einmal.

"...Weil... weil ich jemanden getötet habe....", flüsterte Otoko traurig.

"Das sagtest du bereits. Wobei viele dasselbe getan haben und eine ganz andere Meinung haben... Aber dasselbe verlangst du von mir..."

"Nein.....", er schüttelte heftig den Kopf, "Nein! Das ist nicht dasselbe!"

"Natürlich ist es das!"

"Chris! Verdammt! Aber ich will doch sterben!! ICH will es so! ... sie hin..." Er krempelte seine Ärmel zurück und hielt Chris die vernarbten Arme hin. "Ich konnte es nicht!"

Chris drehte den Kopf weg. "Schon mal was von aktiver Sterbehilfe gehört? Die ist auch strafbar."

"...Du musst mir aber helfen...."

"Nimm ein Messer und stoß es dir in die Brust, verdammt. So schwer ist das auch nicht!".

"...Hast du denn ein Messer?"

"Messer gibt es überall."

"....Ich habe kein Geld für ein Messer.... Und würde ich das tun, hätte ich keine gerechte Strafe..."

"Dann lass dich von irgend jemandem zusammenschlagen. Mich geht das Ganze nichts an." Der Schmerz in Chris' Knie war nun so weit abgeklungen, dass er wieder gut laufen konnte. Langsam kam er in seine Wohngegend, also musste er Otoko nicht mehr lange ertragen. Ein Glück.

"....Das ist es nicht, was ich will...."

"Es interessiert mich nicht, was du willst."

"Und wieso hast du mich heute so viel gefragt, wenn ich dich nicht interessiere?"

"Weil ich gehofft habe, wenigstens ein bisschen Logik in deinem Handeln zu erkennen, aber deine Gründe sind einfach lächerlich."

"Tut mir ja leid, dass ich nicht deinen IQ habe."

Chris humpelte zum Hauseingang und kramte in seiner Tasche nach dem Schlüssel. "Das hat nichts mit der Intelligenz zu tun. Vielleicht bin ich auch einfach zu blöd, um dich zu verstehen, aber ich habe es wenigstens versucht."

"Stimmt... Da warst du bis jetzt auch der einzige...."

/Na toll. Gratuliere. Jetzt hat er noch einen Grund, warum du ihn umbringen darfst./, quälte ihn sein Gewissen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schloss Chris auf und ging in das Haus.

Otoko blieb stehen und sah Chris nach. Dann hob er die Hand und flüsterte ein leises 'Bye'.

10.

Am nächsten Morgen hatte Chris immer noch leichte Schmerzen im rechten Knie, das er sich gestern Abend aufgeschürft hatte. Doch die störten ihn wenig. Viel mehr störte ihn der weiße Umschlag, den er in der Hand hielt. Besonders, weil er einen Stempel der örtlichen Polizeistation hatte. Und das verhieß nichts Gutes.

Während Chris das Stück Papier betrachtete, hastete seine Mutter durch das ganze Haus, um zu putzen, abzustauben und um auf andere Art und Weise dafür zu sorgen, dass ihre beiden Söhne es gut hatten.

Der Brief war eine offizielle Vorladung auf die Polizeistation. Er habe sich unkorrekt Verhalten und müsse sich nun dafür verantworten.

"Was ist das?", fragte Neal und stopfte sich erneut einen Löffel Müsli in den Mund.

"Eine Vorladung...", antwortete Chris gedankenverloren. Verdammt. Er hätte wissen müssen, dass es schief geht.

"Wiefo dfenn?", fragte sein Bruder mampfend.

Chris seufzte und steckte sich den Brief in die Hosentasche. "Weil die Polizei denkt, ich hätte mir die ganze Geschichte ausgedacht... Scheiße..."

Erst sah ihn Neal mit großen Augen an, bevor er die Hand vor seinen Mund hielt und zu husten anfing. Anscheinend hatte er sich gerade verschluckt.

Der Ältere kam aus der Küche und setzte sich an den Tisch zu seinem Bruder. "Ich habe ihn gestern wieder gesehen..." Irgendwie war Chris froh, dass Neal Bescheid wusste. So konnte er wenigstens mit jemandem darüber reden. Es war leichter für ihn, alles zu ertragen, denn er hatte das Gefühl, dass er nicht allein war.

"Wirklich?.... W-was hat er gesagt? Hat er dich angegriffen?", fragte Neal überrascht und tatsächlich ein wenig besorgt.

"Nein, hat er nicht. Er war eigentlich recht friedlich... Hat sich normal mit mir unterhalten, bis er ausgerastet ist..."

"Er ist ausgerastet? W-was hat er getan?" Neal war angespannt und seine Augen waren weit offen.

"Wir haben uns geprügelt... Nichts Ernstes..."

"Wirklich? Ist alles in Ordnung mit dir?"

"Ja... Er hat mehr abbekommen... Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass das überhaupt nichts genutzt hat...", seufzte Chris.

"...Scheiß Maso....", knurrte Neal und schob sein Frühstück angewidert von sich.

"Er wird dir nichts mehr tun." /Hoffe ich./

"....Er ist trotzdem ein Verrückter...."

Chris nickte müde. "Ja, ist er..." /Und was für einer./

"...Ich könnte doch als Zeuge aussagen! Immerhin hat er mich ja angegriffen!"

"Ja, das wäre gut. Vielleicht werde ich dann nicht verurteilt."

"Wann musst du denn hin?"

"31. Januar. Schon in einer Woche..." Chris nahm sich eine Zigarette und zündete sie an, obwohl seine Mutter ihm verboten hatte zu rauchen.

Neal musste nun, trotz der unpassenden Situation grinsen.

"Was denn?", fragte der Ältere leicht irritiert.

"Wenn dich Mama sieht, wirst du was zu hören kriegen.... Du weißt doch genau, dass sie das Rauchen verboten hat, vor allem in ihrem heiligen, sauberen Haus."

"Ich werde sowieso Ärger bekommen, wenn sie den Brief liest." Chris nahm einen tiefen Zug, fing aber gleich an zu husten. "Verdammt!"

"Was denn? Schon Raucherhusten?"

"Ja, lach nur.", fauchte Chris, meinte es aber nicht ernst. "So oft, wie ich dazu komme..."

"Sei froh... Diese Sargnägel kosten sowieso zu viel...."

Der Ältere kommentierte die Aussage mit einem 'Hm...' und zog noch einmal an seiner Zigarette. Fast verträumt betrachtete er den Rauch, als er wieder ausatmete.

Mit einem Seufzen erhob sich Neal und räumte das Geschirr auf.

In Momenten wie diesem wünschte sich Chris jemand, der ihm wirklichen Halt geben konnte. Einen Freund, eine Freundin, irgend jemanden. Er bereute, dass er noch nie eine wirkliche Beziehung gehabt hatte. Warum er gerade darauf kam, wenn er an Otoko dachte, wusste er nicht.
Nach einer weiteren Nacht im Freien strich der blonden Junge wieder durch die Stadt und versuchte sich ein wenig Geld zusammenzubetteln, um wenigstens am nächsten Abend in einem Bett schlafen zu können. Aber nicht nur deswegen war er unterwegs, ihm waren wieder einmal seine Drogen geklaut worden, als er geschlafen hatte und so suchte er nun auch nach einem Dealer.

Heute jedoch schienen alle ihm bekannten Dealer vom Boden verschluckt zu sein. Es war wie verhext. Wenn man einen brauchte, war keiner da. Wie sollte es auch anders sein, bei seinem Pech?

Leise fluchend ließ sich Otoko deshalb am frühen Nachmittag an der Hausmauer einer Nebengasse nieder und versuchte sich ein wenig auszuruhen.

Er dachte darüber nach, wie er Chris dazu bringen konnte, ihm endlich seinen Wunsch zu erfüllen. Ihn zum Ausrasten zu bringen, hatte er ja schon geschafft, aber er musste ihn in eine ausweglose Situation bringen, das war das Entscheidende. Nur wie?

Was wäre, wenn er ihm irgend etwas einflößen würde? Vielleicht würde er dann williger werden. Genau, vielleicht wäre das eine Möglichkeit, aber was würde ihn dazu bringen?

Wahrscheinlich irgendeine Droge, aber Otoko kannte sich, obwohl er sie selbst konsumierte, nicht gut damit aus. Aber das war nicht das Problem. Die Drogen bekam er schon. Das Problem war, wie er sie Chris geben sollte.

Es war nur natürlich, dass Chris ihm misstraute, also konnte er ihm nicht einfach einen Drink hinhalten. Und um sein Vertrauen zu gewinnen, war es jetzt mehr als zu spät. Ein leichtes Schmunzeln bildete sich auf Otokos Gesicht, als daran dachte, wie er Chris einfach eine Spritze in den Arsch jagen würde. Das war so was von absurd.

Aber in einer Menschenmenge könnte es einigermaßen unauffällig gehen. Dort konnte er nahe an Chris herankommen, ohne dass der es merken würde. Zumindest war es einen Versuch wert.

Gut, nun hatte er wenigstens eine Idee, jetzt musste er sie nur noch ausreifen lassen. Wenn Chris die Nadel spüren würde, musste Otoko unbedingt ein Ablenkungsmanöver haben. Irgendein Zahnstocher oder so, aber auf keinen Fall ein Messer.

Oder er machte sich einfach aus dem Staub, bis die Wirkung der Droge einsetzte. Aber bis dahin musste er Chris auch in eine menschenleere Gegend gebracht haben, sonst hatte das Ganze keinen Sinn. Nun ja, darüber konnte er sich auch später Gedanken machen.

Allmählich setzten die ersten Entzugserscheinungen auf und er spürte, wie sich seine Muskeln langsam zu verkrampfen begannen. Er musste nun endlich einen dieser verdammten Dealer finden. Das ganze Nachdenken verursachte sowieso schon Kopfschmerzen.
Chris saß auf seinem Bett und starrte die Wodkaflasche in seiner Hand an. Sie war noch halbvoll. Er sollte wohl langsam aufhören zu trinken, aber irgendwie hatte der Alkohol seine Wirkung verfehlt. Noch immer spürte er diese Angst, wenn er den Brief auf seinem Schreibtisch betrachtete. Er musste vor das Gericht. Sein schlimmster Alptraum wurde damit wahr. Seit diesem Vorfall damals hatte er vor allem, was mit der Polizei zu tun hatte, mehr als Respekt.

Auf einmal war ein leises Klopfen zu vernehmen und gedämpft drang Neals Stimme ins Zimmer. "Chris?"

"Hm?", hörte Chris sich selbst antworten. Seltsam. Seine Stimme klang, als wäre er total betrunken, aber er fühlte sich überhaupt nicht so.

Die Türe öffnete sich und Neals Kopf kam zum Vorschein. "Hi, wie geht's?"

"Geht so...", nuschelte Chris. "Was ist?"

Neal trat nun ins Zimmer und schnüffelte. "Hier stinkt es nach Alk.", sagte er und setzte sich auf Chris' Bürostuhl.

"Ach, tut es das? Habe ich nicht bemerkt...", stellte Chris mit einer Ernsthaftigkeit fest, die nur darauf schließen ließ, dass er nicht mehr ganz wusste, was er sagte.

"Sag mal, wie spät ist es jetzt? Drei Uhr Nachmittags? Und du hast dich schon zugeputzt?"

Chris sah seinen kleinen Bruder aus müden Augen an. "Was dagegen?"

"Ich finde es nur bemitleidenswert..."

"Mir doch egal." Chris stellte die Flasche auf den Boden und schlang die Arme um seine angezogenen Beine. "Was willst du hier?"

"Ich wollte nachschauen, was du machst..."

"Ich betrinke mich."

"Und weshalb?"

"Weil ich Angst habe.", antwortete Chris gelassen, als ob ihn das Ganze nichts angehen würde.

"Du? Angst? Vor was denn?"

Chris deutete auf den Brief.

Neal schnappte ihn sich und warf einen kurzen Blick darauf. "Wegen der Gerichtsverhandlung? Ehm.... aber die ist doch erst in ein paar Tagen..."

"Die sperren mich ein... Sie haben doch nur darauf gewartet, dass ich einen Fehler mache... "

"Aber du hast doch gar nicht gelogen! Ich kann es ja bezeugen!"

"Dir glauben sie auch nicht... Wegen damals...Du warst noch klein, als es passiert ist..."

"Und wieso nicht? Jetzt bin ich nicht mehr klein!"

"Verstehst du denn nicht? Wegen diesem blöden Scherz damals werden sie mir nie wieder glauben. Und dir auch nicht. Ich könnte dich ja angestiftet oder sonst was haben."

"Dann sollen sie mich an einen Lügendetektor stecken!"

"Die sind vor Gericht nicht anerkannt. Du wirst es sehen, die sperren mich ein..." Chris Stimme hörte sich mehr und mehr wie ein Schluchzen an.

"Nun reiß dich aber mal zusammen, wenn du mit einer solchen Einstellung vor Gericht gehst, kann es ja gar nicht anders kommen!"

Anstatt etwas darauf zu erwidern griff Chris wieder nach der Flasche und trank einen großen Schluck.

Neal sah dem Ganzen stumm zu und erhob sich dann von dem Stuhl. "Du bist ja langsam genauso durchgedreht wie dieses Arschloch!"

"Ist mir egal."

"Ist dir egal?! Schön! Fein! Aber komm einfach nicht zu mir, wenn du willst, dass ich dich umbringe, denn ich werde es ganz sicher tun!"

"Warum regst du dich so auf? Ich habe mich nie beschwert, wenn du dich betrunken hast."

"Ich habe dann auch nicht solchen verdammten Scheiß geredet!"

"..."

"Hey Mann! Du studierst Psychologie, dann wirst du doch wohl nicht auch noch so ein scheiß Psychowrack werden!"

"Du nervst. Geh raus."

"Nein."

"Dann eben nicht. Aber hör auf rumzuschreien."

"Wieso? Hast du Kopfschmerzen?"

"Noch nicht."

"Und wieso darf ich dann nicht rumschreien"

"Weil du mir sonst Kopfschmerzen machst."

"Wieso? Das tust du mir doch auch...."

"Wie?"

"Verdammt, ich mache mir Sorgen um dich!"

"Toll. Das mache ich auch, aber ich schreie hier nicht so um."

"Nein, du besäufst dich..."

Nun wurde es Chris zu blöd und er zog sich die Bettdecke über den Kopf, um seinen Bruder nicht mehr hören zu müssen.

"...." Neal stand auf und nahm die Flasche, dann verließ er das Zimmer.

11.

Als Chris einige Stunden später aufwachte, verfluchte er sich dafür, so viel getrunken zu haben. Höllische Kopfschmerzen plagten ihn. Er stand schwankend auf und torkelte die Treppe hinunter in die Küche, wo er sofort eine Kopfschmerztablette sucht und einnahm. Draußen war es schon stockfinster, was er bei einem Blick durch das Fenster feststellte.

Sein Bruder saß mit angezogenen Knien auf einem Stuhl im Wohnzimmer und döste vor sich hin.

Chris seufzte. Er wusste nur noch, dass er und Neal gestritten hatten, aber worüber, das hatte er völlig vergessen.

Im Wohnzimmer war es fast dunkel. Die einzige Lichtquelle, war die des Fernsehers, der munter vor sich hin lief. Chris stand auf und machte den Fernseher aus, setzte sich dann zu Neal und strich ihm über die Stirn.

Der murrte kurz vor sich hin und brachte seinen Kopf in eine bequemere Lage.

"Kleiner?", versuchte es Chris leise.

"...Hmm?...." Neal blinzelte leicht und hob mit verschlafenen Augen seinen Kopf.

"Bist du mir böse?"

"....Wieso fragst du so was?"

"Wieso sollte ich das nicht fragen?"

"So was hast du noch nie gefragt..."

"Es hat sich viel verändert in letzter Zeit..."

"...Ja... Du fängst langsam an, durchzudrehen...."

"So schlimm ist es nun auch wieder nicht."

"..."

"Soll ich dir ne Ohrfeige geben? Gefällt dir das besser?", fragte Chris leicht gereizt.

"Wieso? Ich hab doch gar nichts gemacht!"

"Dann wäre alles wieder wie immer."

"Du hast doch 'nen Knall....", sagte Neal und legte seinen Kopf wieder auf die angezogenen Knie.

"Danke... Wo ist Mama?"

"....Keine Ahnung...."

Chris sah Neal verwundert an. "Und wieso weißt du das nicht?"

"Ich weiß nicht.... Sie war einfach nicht da...."

"Scheiße..." Sofort sprang Chris auf.

"Was ist denn?", fragte Neal verwundert.

"Wenn dieser Mistkerl ihr etwas angetan hat, bekommt er wirklich Ärger!" Der Ältere suchte in einer Schublade nach dem Terminkalender seiner Mutter.

Neal verstand nicht sofort, aber als er Chris Verhalten begriff, wurde er bleich. "Er... er würde doch nicht...."

"Er hat es angedroht..." Endlich fand Chris das kleine Ringbuch und suchte die Seite für den heutigen Tag. Doch dann atmete er erleichtert aus. "Sie ist im Theater."

Sein Bruder tat es ihm gleich. "Puh...Chris... Verdammt, die dürfen dich nicht einlochen...."

"Wenn... Wenn ich ihn finde, dann würden sie mir vielleicht glauben..."

"...Diese Arschlöcher haben doch gar nicht richtig gesucht...", fauchte Neal.

"Wahrscheinlich nicht."

"...Willst du ihn jetzt suchen gehen?", fragte Neal leicht ängstlich.

Zögerlich nickte Chris. "Ja... Bevor wirklich noch etwas passiert..."

"...Willst du alleine gehen?"

Wieder nickte Chris.

"...Du spinnst doch... Was, wenn er ausrastet und dich wieder angreift?"

"Der Kerl ist ein Schwächling. Von jemandem wie ihm habe ich wirklich nichts zu befürchten."

Neal lachte kurz auf. "Sicher... Ein Schwächling... Soll das heißen, ich sei auch ein Schwächling?"

"Das habe ich nicht gesagt. Du bist jünger als er. Es heißt also gar nichts, dass er stärker ist als du."

"...Ach nicht?...." Neal verstand die Logik seines Bruders nicht so ganz.

"Nein. Hör zu, Kleiner..." Chris legte Neal die Hände auf die Schultern. "Sag Mama nichts, wenn sie wieder zurückkommt, ja?"

Der Jüngere sah Chris besorgt in die Augen, obwohl er sich alle Mühe gab, es nicht zu zeigen. "...Na dann.... Gute Suche..."

"Bye..." Er strich Neal kurz über den Kopf, dann drehte er sich um, zog seine Jacke und die Schuhe an und ging nach draußen.
"Hier, aber du musst aufpassen. Zu viel von dem Zeug wirkt absolut tödlich. Nicht mehr als 10 Milliliter, verstanden?" Der große dunkelhaarige Mann gab Otoko ein kleines Fläschchen, deren Inhalt zwar harmlos aussah, aber eine erschreckend starke Wirkung hatte.

"D-danke... Wie viel willst du dafür?", fragte Otoko stotternd. Ihm war kalt und er war außerdem auch ziemlich aufgeregt.

"Hundert Dollar.", antwortete der andere.

"H-hundert?.... S-so viel hab ich nicht.... Ich habe...." Otoko zählte kurz sein ganzes Geld nach. "...75 Dollar...."

"Hm... Ok... Aber du schuldest mir etwas. Und das ist nicht wenig."

"....S-sicher... Was du willst... Wenn du warten kannst, werde ich es dir bald geben...", sagte der blonde Junge und ließ das Fläschchen in seinem Mantel verschwinden.

"Falls du versuchst, dich aus dem Staub zu machen... Ich finde dich, verlass dich drauf."

Otoko trat zurück in die belebte Straße und nahm das Fläschchen wieder aus seiner Manteltasche. Er drückte sich in die Ecke eines Gebäudes und sog die Flüssigkeit in eine Spritze. Jetzt musste er nur noch Chris finden...

Auch der war auf der Suche nach dem anderen. Nur hatte er keine Ahnung, wo er Otoko finden sollte. Sonst war er immer wie aus dem Nichts aufgetaucht, aber dieses Mal war es nicht so. Als ob wissen würde, was Chris vorhatte.

Der blonde Junge hatte keine Ahnung, wo er Chris hätte finden können. Das einzige, das er wusste war, wo Chris wohnte und wo er zur Uni ging, seine sonstigen Aufenthaltsorte waren ihm fremd und so machte er sich erst mal auf, um in der Nähe von Chris' Haus nach ihm zu suchen.

Leicht verärgert trat Chris gegen eine Laterne. Er hatte sich wieder auf den Heimweg gemacht. Was er suchte, war doch die Nadel im Heuhaufen. Wie konnte er einen Penner in einer Millionenstadt finden? Seine Idee war einfach dumm gewesen. Wenn die Polizisten Otoko nicht finden konnten, dann konnte er es erst recht nicht.

Otoko zuckte zusammen, als er hinter sich jemanden fluchen hörte und drehte sich um. Sein Gesicht erhellte sich, als er Chris erkannte. Mit einer schnellen Bewegung griff er in die Manteltasche und prüfte nach, ob auch alles dort war, wo es sein sollte. Langsam und so unauffällig wie möglich ging er Chris entgegen.

Wütend und mit den Händen in den Hosentaschen ging Chris weiter. Ihm kam jemand entgegen, aber er schaute nicht auf. Warum auch? Er wollte jetzt mit seinem Ärger alleine sein.

Verdattert starrte Otoko Chris nach, als ihn der fast über den Haufen rannte. "Ch-chris..... warte!"

Der schaute überrascht auf. "Du?" Ein seltsames Lächeln zierte sein Gesicht. "Das ist ja super."

Sofort begannen sich Otokos Nackenhaare zu sträuben. Seit wann freute der andere sich, ihn zu sehen? "....Was ist super?", fragte er irritiert und seine Hand griff in der Manteltasche nach der Spritze.

"Ich muss mit dir reden. Komm.", antworte Chris und ging wieder in die Richtung, aus der er gekommen war.

"...W-wieso?... H-hast du dich etwa umentschieden?" Verwirrt eilte Otoko neben Chris her.

"Du wirst es sehen."

"W-wieso können wir das nicht hier bereden?"

"Hast du auf einmal Angst, dass ich dir etwas antun könnte?"

"N-nein, aber.... Aber seit wann freust du dich, wenn du mich siehst... Das kann nicht sein, das ist nicht richtig...."

"Warum nicht?" Chris hatte immer noch dieses unergründliche Lächeln auf den Lippen.

"...I-ich kann es fühlen.... Irgendwas stimmt nicht... Was hast du vor? Willst du mich der Polizei ausliefern?"

Chris stockte einen Moment und genau das war sein Fehler, denn er wusste, dass Otoko es gesehen hatte.

Der blonde Junge blieb stehen und sah Chris ausdruckslos in die Augen. "...Du wirst mich nicht dorthin kriegen..."

"Ach ja? Und wieso nicht?"

"I-ich werde nicht mitkommen....", sagte er und ging ein paar Schritte rückwärts.

"Du willst doch deine Strafe. Wieso hast du Angst davor?"

"Meinst du, die Polizei bringt mich um?!", keifte Otoko.

"Vielleicht. Wenn du ihnen sagst, was du alles getan hast."

"Ich will sie aber von dir!"

"Von mir bekommst du sie aber nicht." Mit zwei schnellen Schritten war Chris bei Otoko und packte diesen am Arm. "Komm jetzt!"

"Nein!!!", schrie Otoko und packte die Spritze. Er schlug Chris' Hand weg und warf sich mit seinem Körper an Chris, so dass dieser nach hinten fiel. In dem Moment riss er die Spritze aus der Tasche, stach sie durch Chris Kleidung und drückte den gesamten Inhalt in dessen Körper.

Chris unterdrückte einen Schmerzenslaut, als sich die Nadel in seine Haut bohrte. Er rammte Otoko sein Knie in den Bauch, der einen Meter weiter zu Boden fiel. Dann zog er sich die mittlerweile verbogene Nadel aus seiner Schulter. "Was hast du mir gespritzt, du Psycho?!"

Doch Otoko antwortete nicht, hielt sich nur keuchend den Bauch und versuchte, wieder normal Luft zu kriegen.

"Du verdammtes Arschloch, was war in der Spritze?!!" Chris stand auf und packte Otoko am Kragen. "Sag es!"

"D-das w-werde i-ich dir nicht... sagen...", meinte der und versuchte sich aus Chris' Griff zu befreien.

Doch der lockerte weder seinen Griff, noch festigte er ihn. Er sah Otoko nur wütend an.

"... D-du weißt, dass du mir.... gerade... ein Gefallen tust... o-oder?", fragte Otoko gepresst.

"Idiot!", fauchte Chris und zog Otoko mit in Richtung Polizeistation. "Glaub nicht, dass irgendwelche Drogen mich davon abhalten, dich zur Polizei zu bringen."

"U-und glaub du nicht, d-dass ich mich einfach so.... zur Polizei... ziehen lasse!", zischte Otoko und biss in Chris Hand.

Der ließ Otoko augenblicklich los. "Na warte!" Während er auf Otoko losging, fragte er sich im Hinterkopf, warum er auf einmal so unbeherrscht reagierte. Gut, er hatte keine Skrupel, Gewalt anzuwenden, aber so extrem benahm er sich normalerweise nicht.

Der blonde Junge sah Chris erschrocken an, als er dessen Faust auf sich zurasen sah. /Wirkt sie schon?/ Er kniff die Augen zusammen und wartete auf den Aufprall.

Doch der blieb aus. Chris hatte seine Faust im letzten Moment zurückgehalten. "Du elender... Mistkerl... Du denkst doch nicht etwa, dass ich dir deinen Wunsch erfüllen werde..."

Otoko riss die Augen auf und funkelte Chris an. "Das wirst du schon noch!" Damit holte er aus und schlug gegen Chris Stirn.

Ein paar Tropfen Blut kamen aus der Wunde an Chris' Stirn. Wütend griff er sich beide Handgelenke von Otoko und hielt sie fest. "Verdammt!"

"Was?! Huh? Was jetzt?!", keifte Otoko.

"Meine Entscheidung steht fest!"

"Und die wäre....?"

"Ich bringe dich zur Polizei."

"Wirst du nicht!" Wieder begann sich Otoko in Chris' Griff zu winden.

Doch der hielt seine Handgelenke fest umschlossen und war nicht bereit, ihn loszulassen.

"Ich will nicht zur Polizei! Chris! Bitte!"

"Das hättest du dir früher überlegen sollen."

"Nein, verdammt! Lass mich los!", schrie Otoko und trat Chris kräftig gegen das Schienbein.

"Bastard!" Wieder schleuderte Chris Otoko zu Boden. Doch auch dieses Mal hielt er sich wieder zurück. "Verdammt... Was ist mit mir los?" Zitternd betrachtete er seine Hände. Er hatte kaum noch die Kraft, sich gegen das Verlangen, Otoko einfach zu verprügeln, zu wehren.

Dieser lag ein wenig benebelt am Boden. Er hatte sich den Kopf am harten Beton gestoßen und versuchte wankend wieder aufzustehen.

Chris wehrte sich immer noch vergeblich gegen die Wirkung der Droge in seinem Blut. So konnte er niemals zur Polizei. Es war also einmal mehr umsonst gewesen. Aber wenn er es bis nach Hause schaffte und sich in seinem Zimmer einschloss, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte, könnte er es noch einmal versuchen.

Otoko hielt sich den Kopf und versuchte gerade zu stehen. Er sah zu Chris auf, sagte aber nichts.

"S-schau mich nicht so an... Ich mache es nicht..."

"...Wieso bist du dann so unsicher? Du willst es doch auch..."

"Nein!"

"Du lügst!"

"Nein! Das ist nicht wahr! Das ist dieser Scheiß, den du mir gespritzt hast, mehr nicht", schrie Chris. Beinahe ängstlich machte er ein paar Schritte zurück. "Aber das bringt dir auch nichts..."

"...Dieser Scheiß, den ich dir gespritzt habe, macht dich nicht aggressiv... Er lässt dich nur das tun, was du willst..."

"Nein..." Chris wimmerte schon fast. "Nein!" Er wich weitere Schritte vor Otoko zurück. "I-irgendwann wird das Zeug ja auch aufhören zu wirken..."

"Sicher..." Otoko folgte Chris und mit jedem Schritt kam er ihm etwas näher. "Aber erst wird es seine ganze Wirkung zeigen... Und die ist noch lange nicht eingetreten."

"Blöder Psycho! Glaub ja nicht, dass ich vor dir Angst habe!" Chris Stimme klang wieder etwas fester, doch er wich immer noch vor Otoko zurück. Wieso eigentlich? Was konnte er ihm schon groß antun?

"Das habe ich nicht gesagt... Du bist der, der die ganze Zeit zurückweicht...", sagte Otoko mit erstaunlich ruhiger Stimme.

Damit hatte Otoko recht. Nur warum tat er das? Es gab überhaupt keinen Grund. Komischerweise stimmte das, was Chris tat und was er dachte, überhaupt nicht überein. Daran war dieses verdammte Zeug schuld. Nur deswegen hatte er die Kontrolle über seinen Körper verloren. Chris erschrak, als er mit dem Rücken gegen eine Mauer stieß. Schon wieder hatte er gar nicht realisiert, was er eigentlich gerade getan hatte.

Der blonde Junge blieb stehen und sah Chris in die Augen. "...Wieso wehrst du dich? Hast du vergessen, was ich dir alles angetan habe?"

"D-du... kannst mich... mal...", presste Chris angestrengt heraus. Er hatte sich soweit gesammelt, dass er zumindest wieder Herr über seine eigene Stimme war, wenn auch mit Mühe.

Der blonde Junge wurde langsam nervös und begann zu zittern. /Was, wenn es doch nichts nützt...?/ "Verdammt! Nun mach endlich!", schrie Otoko und schlug nach Chris.

Der sah den Schlag zwar kommen, hatte aber keine Kraft zu reagieren und konnte nichts tun, um sich zu wehren. Dennoch grinste er leicht. "N-nein..."

Otoko packte Chris am Kragen. "Wenn du es nicht tust, wird mich dieses Schwein umbringen, von dem ich das Zeug habe!! Und er hat es selbst verdient zu sterben!!!"

"Und ... w-was interessiert mich... das?"

Augenblicklich ließ Otoko den anderen Jungen los. "...I-ich weiß es nicht.... Ich will nicht durch ihn sterben..."

Leise keuchend lehnte Chris an der Wand. "Das kümmert... mich nicht..."

"...Wieso hat es dich dann gekümmert, als ich im Schnee fast erfroren bin?"

"Weil du..." Ohne dass Chris etwas dagegen tun konnte, rutschte er an der Mauer herunter.

"W-weil ich was?", fragte Otoko unsicher.

"Weil du... da nichts von mir... verlangt hast..."

"... Chris... kannst du mich denn überhaupt nicht verstehen? Ich halte diesen Leben nicht mehr aus!"

Anscheinend wirkte die Droge bei Chris nicht so, wie sie sollte. Denn anstatt auf Otoko loszugehen, kauerte er sich an die Wand und schloss die Augen. Irgend etwas war gründlich schief gelaufen.

Otokos Stimme überschlug sich, als er mit Tränen in den Augen nach Chris trat. "Verdammt!!! Nun mach endlich!! Sag wenigstens was!!!!!"

Keuchend verzog Chris das Gesicht, als ihn Otoko traf. "H-hör... auf..."

"Nein! Verdammt! NEIN!!! Wehr dich doch!!! NA LOS!!!"

Doch wieder reagierte Chris nicht, er bewegte sich nicht einmal mehr.

"Chris!!... Chris! Nun steh endlich auf!!.... Chris....?...." Vorsichtig kniete sich Otoko zu Chris hin und rüttelte ihn zögerlich an der Schulter. "Chris?.... Scheiße verdammt!!! Du Idiot!!" Schon wieder stiegen Tränen der Verzweiflung in die eisblauen Augen. "Shit! Was soll ich jetzt tun?! Huh?!..... Idiot!" Otoko seufzte und packte Chris am Arm. Dann begann er den größeren Jungen unter Ächzen und Stöhnen wegzuzerren.

12.

Als Chris einige Zeit später aufwachte, hatte er schon wieder Kopfschmerzen. Er versuchte sich umzusehen, doch in der dämmrigen Dunkelheit konnte kaum etwas erkennen. Er schluckte, als er seine Arme bewegen wollte und ihm das nicht gelang. Otoko... Dieser Verrückte hatte ihm etwas gespritzt... Verdammt... Also musste er noch hier sein.

Kühle Hände legten sich Chris auf die Stirn. "B-bist du wach?", fragte Otokos leise und stotternde Stimme. "W-wieso bist du.... so zusammengesackt... Wieso....? Wieso wirkt das Zeug bei dir nicht? ... I-ich..."

Chris zuckte zusammen und drehte den Kopf weg. "Nimm deine Hände weg..." Seine Stimme klang noch immer nicht so fest wie gewohnt, doch er fühlte sich schon viel besser als vorher.

"...H-hör zu... I-ich will nicht noch mal zu dem Typen gehen... Ich will auch gar nicht wissen, was er mir antun würde..... Chris... bitte.... wenn-wenn du es nicht tust, muss ich... muss ich es noch mal machen..." Gesagt, getan. Otoko holte das Fläschchen und eine Spritze hervor.

"Nein.", presste Chris ängstlich hervor. Er wollte nicht schon wieder die Kontrolle über sich selbst verlieren. "Nein, tu es nicht."

"...A-aber... I-ich kann nicht... Du... tust sonst doch gar nichts.... und,... und ich halte es nicht mehr aus, Chris... Ich will nicht mehr warten..." Obwohl Otoko im Umgang mit Spritzen schon routiniert war, zitterte er im Moment so heftig, dass er seine liebe Mühe damit hatte, die Drogen hineinzubringen.

"Nein. Bitte, das darfst du nicht." Chris schluckte und starrte die Spritze an, die er in dem wenigen icht nur schlecht erkennen konnte.

"..." Der blonde Junge beugte sich zu Chris runter und die eisblauen Augen waren nun dich vor Chris'. "...Tust du es?... Auch wenn ich dir das Zeug nicht spritze?"

"D-du weißt genau, dass ich das nicht kann..."

"...A-aber es muss sein....", stotterte Otoko und legte Chris Schulter frei. "....Du kannst später wütend auf mich sein...."

"Nein. Bitte tu mir das nicht an.", flehte Chris und fing wieder an, sich zu winden. Aber es war nichts zu machen. Seine Arme waren fest über seinem Kopf an einer Stange oder irgend etwas ähnlichem verbunden. "Ich will nicht wütend auf dich sein. Bitte, du darfst mir dieses Zeug nicht noch einmal spritzen."

"Verdammt! Du bist schon wütend auf mich!!! Das einzige, was du jetzt hast, ist Angst! Hättest du die nicht, wärst du wütend auch mich und würdest mich zur Polizei bringen!!", keifte Otoko und stach Chris erneut, aber diesmal gezielter in Chris Brust und spritzte die Droge in dessen Körper.

Chris biss die Zähne zusammen. Trotzdem war ein leiser Schmerzenslaut zu hören. Er presste die Augen zu und versuchte an irgend etwas anderes zu denken. Nur nicht an das, was Otoko ihm gerade antat.

"D-du musst diesmal darauf r-reagieren.... S-sonst habe ich nicht mehr genug...."

Irgendwie fühlte sich Chris, als hätte er gerade eine größere Menge Alkohol getrunken. Langsam breitete sich in seinem Körper ein nicht gerade unangenehmes Gefühl aus und ihm wurde warm. Die Schmerzen ließen erstaunlich schnell nach. Warum wirkte das Zeug dieses Mal viel intensiver und auch viel schneller? Vielleicht, weil er vorhin schon einmal eine Dosis gehabt hatte. Trotzdem wollte er nicht aufgeben. Noch einmal durfte er einfach nicht die Kontrolle über seinen Körper verlieren.

Wieder strich Otoko über Chris Wangen. "W-wie geht es dir....? H-hab ich dir sehr weh getan?", fragte er leise.

"Das... ist eine... dumme Frage..." Obwohl Otokos Gesicht direkt vor Chris' war, konnte er es nur noch verschwommen sehen. Aber je mehr er darüber nachdachte, desto weniger missfiel ihm der Gedanke. Überhaupt wurde es ihm langsam egal, was Otoko mit ihm anstellte und noch anstellen würde.

Der blonde Junge bemerkte sofort die Veränderung von Chris Stimme und somit auch mit dessen Zustand, und so löste er das Seil, das Chris immer noch festhielt. "...E-es scheint besser zu wirken....."

"Hm..." Obwohl das Seil nun verschwunden war, bewegte Chris sich nicht. Er lag nun beinahe entspannt da und atmete gleichmäßig.

"Ch-chris....? Chris! Du bist doch nicht schon wieder....." Otoko griff panisch nach Chris' Schulter und rüttelte sie heftig. "I-ich habe dich doch nicht einmal berührt!!"

Doch Chris war nicht bewusstlos. Er wusste einfach nicht, warum er aufstehen sollte. Es war doch viel bequemer, einfach so liegen zu bleiben. "Ich bin doch da... Hör auf, durchzu-... drehen..."

"..Shit.... Was hat der mir für Stoff gegeben... Verdammt! Chris! Komm schon! Steh auf!! Du kannst jetzt nicht hier liegenbleiben!" Er stand auf und versuchte Chris in die Höhe zu zerren. "Na los!"

"Warum nicht?"

"Weil du mich nicht so hängen lasse kannst, verdammt!!! Komm schon!!!", bettelte Otoko und war schon wieder der Verzweiflung nahe.

Nach einigen Momenten des Zögerns tat Chris langsam, was von ihm verlangt wurde. Etwas unsicher stand er auf den Beinen und stützte sich an Otoko, um nicht sofort wieder umzufallen.

"Chris, bitte! Das kann doch nicht so hart sein! Hör auf zu schwanken! Das war kein Alkohol!"

"Mir ist schwindlig..." Chris' Stimme hörte sich an, als würde er jeden Moment einschlafen.

"Nein!! Jetzt komm schon!!", keifte Otoko. Er hatte wirklich keine Nerven mehr und gab Chris eine gehörige Ohrfeige.

Chris hielt sich die Wange und sah ihn an, wie ein kleines Kind. "Warum tust du das?"

Otoko starrte Chris an und begann an ganzen Körper zu zittern. "W-w-wieso t-tust du das.... D-das k-kann doch nicht d-die Wirkung sein....?.... Verdammt!! DAFÜR HABE ICH NICHT 75 DOLLAR AUSGEGEBEN!!!"

Ein dümmliches Grinsen erschien auf Chris' Gesicht. "Anscheinend doch..."

"...Nein.... bitte...." Schluchzend lehnte sich der verzweifelte Junge an Chris.

"Was ist denn?" Nun verstand Chris gar nichts mehr. Warum fing Otoko auf einmal an zu weinen?

Otoko hob das Gesicht und feine, glitzernde Spuren rannen über das bleiche Gesicht. "...So war das Ganze nicht gedacht! ....Ich dachte, du würdest endlich tun, was du willst und nicht einfach so in eine Gleichgültigkeit fallen!!"

"... Ich verstehe dich nicht..." Verwirrt sah Chris Otoko an, dann drehte er sich um. "Mir wird das alles zu blöd... Bye..."

"...Du kannst doch jetzt nicht einfach so gehen...." Otokos Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und er ließ sich auf den Boden fallen.

Chris blieb stehen. "Dann komm doch mit."

"Nein! Du wirst mich nur wieder zur Polizei bringen!!"

"Warum denn?"

"W-warum...? Na, weil du es vorher auch schon wolltest!"

"Wollte ich das?" Chris überlegte eine Weile. "Ist doch jetzt egal, oder?", fragte er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen."

Otoko starrte Chris überrascht an. /E-er lächelt mich an....?/ "....J-ja....", stotterte er und stand auf. Doch seine Tränen waren immer noch getrocknet.

Mit einem seltsam offenen Gesichtsausdruck sah Chris in den sternklaren Himmel. "Wirklich hübsch, findest du nicht?"

Otoko folgte Chris' Blick. "...Er ist wie immer..."

"Hm... Darauf habe ich noch nie geachtet..."

"D-du hattest bestimmt auch viel anderes im Kopf, als dass du ihn hättest beachten können...", sagte Otoko leicht bitter.

"Schaust du ihn oft an?", fragte Chris und setzte sich im Park ins Gras.

Zögerlich setzte sich der blonde Junge daneben. "...Nicht mehr...."

"Hast du es früher oft getan?" Immer noch sah Chris lächelnd in den Himmel.

"...Ja.... Ich dachte immer,... d-der Mond würde mich beschützen.... D-doch er hat immer nur stumm zugesehen.... Nicht ein einziges Mal hat er mich beschützt... Ich hasse ihn... Ihn und diese verfluchten Sterne, die immer so fröhlich und unbekümmert strahlen..." Otoko hatte den Blick gesenkt und starrte auf seine Füße.

Nun blickte Chris Otoko an. "Sei nicht traurig... Es kann sich immer noch ändern... Solange du bereit bist, etwas dafür zu tun."

"NEIN! Ich habe schon so lange gewartet! Ich habe schon so viel versucht! Ich hab es satt! Ich will nicht mehr!"

"Du willst nicht mehr... was? Nicht mehr leben, weil du versagt hast?"

Erneut begann Otoko zu schluchzen. "...Ja.... i-ich... Ich bin es nicht wert..." Sein ganzer Körper begann zu zittern. "Ich war es nie und werde es auch nie sein!!! Aber so einfach will ich nicht sterben!... Selbst wenn mich Gott hasst! Ich will meine Strafe! Ich will meine Sünden nicht ewig mit mir tragen müssen!!! Wieso versteht mich niemand?! Wieso?!" Verzweifelt sah er Chris in die Augen.

"Versetz dich in meine Lage. Würdest du es verstehen?" Anscheinend hörte die Droge langsam schon wieder auf, bei Chris zu wirken.

"Ja."

"Hilf mir, damit ich es verstehen kann..."

"D-dir helfen...? Wie denn?"

"Ich weiß es nicht... Aber wenn du etwas von mir verlangst, dann musst du auch etwas dafür tun, findest du nicht?"

"Was? WAS? Ich gebe dir alles, was du willst! So lange ich es kann, werde ich es dir geben!"

"Hilf mir, dich zu verstehen. Das verlange ich von dir."

"Ich will endlich sterben, das ist es, was ich will...."

Mit einem Seufzen sah Chris wieder in den Himmel, sagte aber nichts dazu. Langsam und doch ungewöhnlich schnell verflog die Wirkung der Droge, aber er fühlte sich immer noch ziemlich benebelt.

"...Chris... Ich habe einen Menschen getötet... Dabei wäre ich es gewesen, der hätte sterben sollen..."

"Warum hättest du sterben sollen?"

"Weil er mich angegriffen hat... Er wollte mein Geld oder sonst etwas.... Aber... aber bei mir gab es einen Kurzschluss und ich griff nach dem Messer und ... stach zu...."

"Deshalb sollst du sterben? Weil du dich gewehrt hast?"

"...Ich hätte wegrennen können... I-ich hätte damals schon sterben sollen.... Oder besser gesagt ich habe sterben wollen..."

Chris schloss seine Augen. "Ich kann dich nicht verstehen..."

"Wieso nicht...?"

"Ich weiß es nicht."

"...Du willst mich doch gar nicht verstehen. oder?"

"Ich habe es versucht."

Neue Tränen glitzerten in Otokos blauen Augen. "D-du s-studierst doch Psychologie... Wieso nicht?"

"Was weiß ich... Vielleicht bin ich einfach zu blöd..."

".....Oder ich liege einfach unter deinem Niveau...."

"Daran liegt es nicht.", antwortete Chris gegen seinen Willen grinsend. "Hör endlich mit dem Scheiß auf, dich immer schlecht zu machen."

"Ich BIN schlecht...."

"Das denkst du."

"...Du doch auch.... Du weißt noch genau, was ich dir angetan habe..."

Seufzend umschlang Chris mit seinen Armen seine Knie. Langsam wurde ihm kalt. Die Sinnlosigkeit dieses Gespräches kam ihm mal wieder ins Bewusstsein. Er hatte es schon einmal mit Otoko geführt und gebracht hatte es nichts. Irgendwie fragte er sich schon, was es brachte, Psychologie zu studieren, wenn er es doch nicht schaffte, sie richtig anzuwenden.

"...Chris... hasst du mich?", fragte Otoko erneut und blickte dem Angesprochenen in die Augen.

Chris schüttelte den Kopf.

"...Wirklich?"

"Wieso stellst du alles in Frage, was ich sage?"

"...W-weil... ich meine... i-ich... Ich wüsste nicht, wieso du mich nicht hassen solltest...."

"Was ist mit deinen Eltern?"

"...Weiß nicht... Ich kenne sie nicht..."

Nachdenklich betrachtete Chris den blonden Jungen. "Weißt du, du solltest öfters baden..."

"Was?" Verwundert starrte ihn Otoko an.

"Du solltest baden. Man sieht ja deine echte Haarfarbe kaum." Grinsend wuschelte Chris Otoko über den Kopf, zog aber gleich darauf seine Hand wieder zurück. Was tat er da eigentlich?

Stumm starrte Otoko ihn an. /W-was tut er?/ "I-ich kann doch nicht... wo sollte ich mich denn auch waschen?

Chris rang sichtlich mit sich, doch dann traf er eine Entscheidung. Auch wenn es ein Risiko war. "Du kannst zu mir mitkommen." Wieder eine idiotische Idee. Und obwohl er wusste, dass es ein Fehler war, versuchte er es.

"...A-aber... du... Du rufst doch sicher die Polizei, oder?"

"Sicher... Die nehmen mich dann gleich mit..."

"Wieso denn?"

"Irreführung der Polizei oder so... Ich weiß nicht mehr, was genau sie geschrieben haben."

Verwirrt sah Otoko Chris an. "...Das verstehe ich jetzt nicht...."

"Musst du auch nicht." Chris stand auf und fasste sich an den Kopf, als ihm leicht schwindlig wurde. "Uhm..."

"....Das ist wegen den Drogen... Du solltest nicht zu schnell aufstehen...."

/Danke. Inzwischen weiß ich es./ Doch Chris zog es vor, nichts darauf zu sagen.

13.

Als die beiden endlich vor dem Haus standen, schlich sich ein komisches Gefühl in Otokos Magengegend. Wieso hatte es ihm Chris bloß erlaubt, hierher zu kommen? War es denn möglich, dass ihn die Drogen so umstimmen konnten?

Chris lehnte sich leicht erschöpft an die Haustüre. Ihm war immer noch etwas schwindelig. Am liebsten wollte er sich einfach hinlegen, aber jetzt hatte er Otoko schon mitgenommen, dann konnte er es sich nicht mehr anders überlegen. Er kramte in seiner Tasche und fand nach einer Weile auch den Schlüssel. "Sei aber leise..."

"H-hai... A-aber wieso hast du mich mitgenommen?", stammelte der blonde Junge und spielte nervös mit seinen schlanken Fingern.

"Weiß nicht...", murmelte Chris. Er öffnete die Tür, ging rein und schloss sie hinter Otoko wieder. Obwohl es stockdunkel war, machte er kein Licht. Es konnte gut sein, dass Neal noch wach war und auf ihn wartete. Neal... Er hatte wahnsinnige Angst vor Otoko, das wusste Chris. Warum tat er seinem kleinen Bruder das nur an und nahm den Jungen auch noch zu sich nach Hause? Er wusste es nicht.

Otoko klammerte sich an Chris' Jacke, um nicht ganz blind durch die Gegend stolpern zu müssen. "W-wieso machst du kein Licht?", fragte er leise.

"Mein Bruder... Sei still..." Schnell zog sich Chris die Jacke und die Schuhe aus, dann schlich er mit Otoko im Schlepptau die Treppe nach oben, direkt ins Bad. Erst nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, machte er Licht und atmete erleichtert aus.

Otoko hingegen hob den Arm schützend vor seine Augen, die das helle Licht im Moment nicht gewohnt waren, und blinzelte. "...Hmm..", murrte er.

Erst jetzt bemerkte Chris, wie kalt seine nassen Sachen eigentlich waren. Fröstelnd stellte er die Heizung auf die höchste Stufe und fing an, sich den Pullover auszuziehen. Doch als er merkte, dass Otoko sich immer noch nicht rührte, stoppte er. "Was ist?"

Erneutes Blinzeln kam von dem blonden Jungen. "W-was? Was soll ich jetzt hier?"

Stimmt. Was sollte Otoko noch mal hier? Chris brauchte eine Weile, bis er sich wieder daran erinnerte. "Waschen... Du wolltest dich waschen."

"A-ach so... o-ok... Aber wieso? Es dauert doch sowieso nur zwei Tage und ich bin wieder so schmutzig, wie jetzt..."

"Aber so wie du jetzt bist, lasse ich dich nicht in mein Zimmer. Also wasch dich jetzt oder du kannst wieder gehen." Ohne Otoko weiter zu beachten zog Chris seine nassen Klamotten nun ganz aus und warf sie über die Heizung.

"...Und was mache ich mit meinen Kleidern?", fragte Otoko, als er begann, sich auszuziehen. "I-ich meine, soll ich die auch hier waschen?"

Chris schüttelte nur den Kopf. "Die brauchen viel zu lange, um zu trocknen..." Nachdem er den Hahn der Badewanne ganz aufgedreht hatte, setzte er sich auf den Boden und wartete. Irgendwie wurde er immer müder... Aber jetzt konnte er nicht einschlafen. Nicht jetzt, wenn er Otoko, aus welchem Grund auch immer, mit nach Hause genommen hatte.

"...Und wie soll ich dann in dein Zimmer kommen... Die sind doch ganz schmutzig...", sagte Otoko und hielt Chris den dreckigen und zerschlissenen Mantel unter die Nase.

Doch der drückte Otokos Hand nur weg. "Ich geb' dir was von meinen Sachen."

"..Oh... ok... d-danke...." Er wartete eine Weile und blickte Chris fragend an. "...W-willst du zuerst baden?"

Chris schüttelte den Kopf. "Du hast es nötig, nicht ich. Wasch dich, ich bin gleich wieder da." Nur mit Boxershorts bekleidet verließ Chris das Bad und ging in sein Zimmer. Er hatte wohl vergessen, das Fenster zu schließen, denn als er den Raum betrat, war es eiskalt. Leicht zitternd suchte Chris etwas für Otoko aus seinem Schrank, dann ging er zurück ins Bad.

Leicht unschlüssig sah Otoko in die gefüllte Wanne. Leichter Dampf stieg empor und er war sich nicht ganz sicher, ob er die Temperatur des Wassers mögen würde. Schlussendlich ließ er sich dann aber doch seufzend in das warme Wasser gleiten.

"Geht es?", fragte Chris, nachdem er sich wieder neben die Wanne gesetzt hatte. Prüfend fuhr er mit einem Finger durch das Wasser.

"H-hai.... ehm... Es-es ist im Moment nur ein wenig zu heiß, weil mir kalt war."

"Was bedeutet diese 'hai'? Ja?"

"...Ehm... ja... tut mir leid..."

"Hm... " Langsam entspannte Chris sich. Das Bad war nun angenehm warm und die Nachwirkungen der Droge waren soweit abgeklungen, dass er sich nicht mehr schlecht fühlte. Er lehnte sich gegen die Duschwand und schloss die Augen, während die Dämpfe, die aus dem Wasser aufstiegen, ihm das letzte bisschen Unwohlsein nahmen. Nun störte ihn nicht einmal mehr Otokos Anwesenheit oder die Probleme, die er bekommen würde, wenn Neal dahinter kam, dass er den Jungen hierher mitgenommen hatte.

Selbst Otoko fing an, sich zu entspannen, aber bei ihm war die Erschöpfung wesentlich größer, als bei Chris und ehe er sich versah, war er auch schon in dem warmen Wasser eingeschlafen.

Chris bekam das erst mit, als er Otoko mehrmals aufgefordert hatte, sich zu waschen. "Hey... Jetzt schläft der auch noch ein..." Er fasste den schlanken Jungen an der Schulter und rüttelte ihn sanft. "Wach auf... Mach schon..."

Ruckartig öffnete Otoko die Augen und seine Hand packte die von Chris. "Fass mich nicht an!", keifte er, noch bevor er überhaupt mitbekam, wer ihn da berührte.

Verwundert ließ Chris Otoko los und gab ein leises 'Sorry.' von sich.

Verschüchtert blickten ihn die eisblauen Augen an. "Ch-chris... ich... e-es tut mir leid... ich....", stotterte er.

"Schon gut... Wasch dich..." Chris lehnte sich wieder zurück. Warum vergaß er andauernd, wer der Junge war? Was er war...

"O-ok..." Otoko setzte sich anständig auf und griff nach dem Stück Seife. Und nach einigen Momenten des Zögerns begann er auch sich zu waschen.
Einige Zeit später war Otoko gewaschen, abgetrocknet und hatte die frischen Sachen von Chris an. Der räumte noch schnell soweit auf, dass Neal nichts auffallen würde, schnappte sich Otokos Mantel und warf ihn in seinem Zimmer in die Ecke. Nachdem er abgeschlossen hatte, lehnte er sich müde gegen die Tür. "Das wäre geschafft...", murmelte er leise, mehr zu sich selbst als zu Otoko.

Der blonde Junge stand, wahrscheinlich zum ersten mal seit Jahren, richtig sauber da. Unsicher sah er an sich hinunter. "...D-danke für die Kleider..."

"Schon ok." Chris stieß sich von der Tür ab und ging hinüber zu seinem Bett, setzte sich darauf. Dann sah er Otoko auffordernd an. "Also..." /Also was?/ Mist. Was hatte er jetzt eigentlich vor?

"A-also....?" Otoko sah Chris einen Moment verwirrt an, weil dieser nicht weiter sprach. Er setzte sich mitten im Zimmer auf den Boden. "K-könnte... dürfte ich ein Kissen von dir haben?"

Froh darüber, etwas tun zu können, warf Chris Otoko eines von seinen Kissen zu. Er hatte keine Idee, was er nun mit dem Jungen anfangen wollte. "Das Zeug ist aber leer, oder?"

Obwohl Otoko versuchte, das Kissen mit den Händen aufzufangen, knallte es doch mitten in sein Gesicht. "...Zeug?... Welches Zeug?"

"Diese Droge... Du hast nichts mehr davon, oder?", fragte Chris, während er aus dem Augenwinkel Otokos Mantel anstarrte.

Der Junge senkte den Kopf und gab leises ein "Doch." von sich.

Sofort versteifte sich Chris, stand auf und suchte in den Taschen des Mantels, bis er das kleine Fläschchen in den Händen hielt.

Otokos Muskeln spannten sich an. "E-es war sehr teuer... bitte! Wirf es nicht weg!"

"Nenn mir einen Grund dafür, warum ich das nicht tun sollte."

"Weil es mein Eigentum ist!"

Chris zögerte. "Versprich mir, dass das Zeug in der Tasche bleibt, solange du hier bist!"

Otoko nickte stumm.

"Sag es oder das Zeug landet im Müll!"

"Ja!", erwiderte Otoko so schnell er konnte.

Chris stand wieder auf. "Wenn du mein Vertrauen missbrauchst...", doch er sprach nicht weiter, sondern setzte sich wieder auf sein Bett.

"...H-hab ich das nicht schon?", fragte Otoko leise.

Doch Chris antwortete nicht. Nachdenklich saß er im Schneidersitz vor Otoko und betrachtete ihn stumm.

Als der blonde Junge Chris' Blick bemerkte, fühlte er sich sogleich unwohl und er drehte den Kopf zur Seite.

"Wünscht du dir nicht manchmal, dass es anders gekommen wäre?", fragte Chris nach einigen Minuten.

Otoko war von dieser Frage mehr als überrascht und musste erst ein wenig darüber nachdenken. "...Ich... ich wüsste nicht, wie es anders hätte kommen können...."

"Hast du deine Eltern jemals gesehen?"

"Nein."

"Was denkst du, wäre passiert, wenn du sie kennen würdest?"

"...I-ich weiß nicht...." Otoko zog das Kissen enger an sich. Offensichtlich mochte er das Thema nicht.

Chris seufzte. Anscheinend war er nicht in der Lage, mit Otoko ein normales Gespräch zu führen. Das wäre auch zu schön gewesen.

Die eisblauen Augen starrten einige Sekunden vor sich her, bis sich Otokos Körper wieder auf unangenehme Weise bemerkbar machte. Er hatte schon seit einiger Zeit keinen Stoff mehr gekriegt, da er das ganze Geld ja für Chris' Droge ausgegeben hatte. Otoko biss sich auf die Zähne und versuchte, seine Schmerzen zu unterdrücken.

Eine Weile lang beobachtete Chris den Jungen wieder, sah wie er sich mehr und mehr verkrampfte. "Es sind deine Drogen, nicht wahr?"

Ein kleiner Schmerzenslaut drang über Otokos Lippen, ehe er gepresst antwortete. "...T-tut mir... leid... I-ich... h-hab schon... wieder Krämpfe...."

"Du solltest leise sein. Mein Bruder hasst dich und wenn er merkt, dass du da bist, dann ist die Polizei sofort hier."

Otoko nickte und versuchte verbissen, sich ruhig zu verhalten.

Wieder rang Chris mit sich. Er hatte heute sowieso schon so viel falsch gemacht, schlimmer konnte es auch nicht mehr werden. "Komm her...", forderte er Otoko leise auf.

Langsam und stockend versuchte Otoko, sich aufzurichten. Als es nach einigen Anläufen gelang, schwankte er mit leicht schwerer Atmung auf Chris zu.

Dort angekommen zog ihn Chris zu sich in seine Arme, auch wenn ihm nicht wohl dabei war. "Versuch dich zu entspannen. Das hat meine Mutter immer mit mir gemacht, wenn ich Bauchweh hatte."

"...O-ok..." Sofort spürte er die Wirkung von Chris' Wärme und seine Muskeln hörten auf, so stark zu schmerzen, obwohl sie sich immer noch verspannt anfühlten. Aber gleichzeitig machte ihn Chris' Nähe auch extrem nervös, immerhin war er von Chris so etwas nicht gewohnt.

Die Müdigkeit, die Chris schon eine Weile plagte, schlug nun wieder voll zu. Immer wieder fielen ihm fast die Augen zu und es kostete ihn jedes Mal mehr Kraft, sie wieder zu öffnen. "Geht es dir besser?", fragte er schläfrig, eigentlich nur, um sich wach zu halten.

"J-ja... danke."

Langsam löste Chris seinen Griff und ließ sich auf die Seite fallen. "Gott bin ich müde...", murmelte er und schloss erschöpft seine Augen.

"....D-d-danke...", stammelte Otoko und ließ sich wieder zu Boden gleiten, wo er nach dem Kissen griff und sich zusammenrollte.

"Mach keinen Scheiß, hörst du?", meinte Chris, kurz bevor er ganz einschlief.

"....Ja...", gab Otoko leise von sich und versuchte es sich so gemütlich wie möglich zu machen, ohne das er gleich wieder Krämpfe bekam.

14.

Am nächsten Morgen hämmerte Neal so stark gegen Chris' Zimmertür, dass diese fast aus den Angeln fiel. "Chris! Chriiiiiiis! Bist du da?! Antworte, verdammt!!"

Otoko schreckte sofort hoch und musste erst ein paar Mal blinzeln, bis er realisierte, wo er war. Gebannt starrte er zur Tür.

Auch Chris wachte von dem Krach, den Neal machte, auf. "Hau ab und lass mich schlafen!" brüllte er zurück.

"Chris? Chris! Bin ich froh, dass du da bist. Hast du es geschafft?", rief der Jüngere.

Otoko krabbelte in die hinterste Ecke von Chris Zimmer. Er wusste nicht, wieso aber es erschien ihm irgendwie besser.

"Wenn du nicht sofort abhaust, dann komme ich raus und sorge dafür, dass du dich nicht mehr aus deinem Zimmer traust!", schrie Chris.

Das schien gewirkt zu haben, denn der Krach verstummte augenblicklich und man hörte Schritte, die immer leiser wurden.

Obwohl Neal nun nicht mehr da war, blieb Otoko in der Ecke sitzen.

Chris streckte sich und gähnte herzhaft, bis er Otoko wieder beachtete. "Was ist?"

Der sah zu Chris und schüttelte den Kopf. "N-nichts...."

Gut gelaunt stand Chris auf und ging zum Schrank, um sich frische Wäsche herauszusuchen. Als er sich umgezogen hatte, holte er etwas vom Schreibtisch und warf es Otoko zu. "Hier."

Otoko starrte den Gegenstand in seinen Hände an. "W-was ist das?"

Chris grinste. "Man nennt es Kaugummi. Kennst du das nicht?"

"...A-ach so sind die jetzt verpackt...", murmelte Otoko leise und fummelte an der Packung herum, bis sie endlich den Inhalt freigab. "D-danke..."

"Ich geh nach unten und schau, ob ich etwas zu essen auftreiben kann. Jetzt kannst du sowieso nicht raus. Warte hier." Damit verschwand Chris aus dem Zimmer.

"O-ok... sch-schließt du ab?", fragte Otoko unsicher und kam immer noch nicht aus der Ecke raus.

Doch Chris war schon zu weit weg, um ihn zu hören.

Otoko starrte die Türe an und hoffte, dass, wenn sie sich wieder öffnete, nicht Neal hereinkommen würde.

Doch, wie sollte es auch anders sein, traf genau das ein. Die Tür wurde aufgetreten und Neal stand im atemlos im Zimmer. "Chris, verdammt, ich muss... mit dir reden... Toll, wo ist er jetzt hin?"

Otoko presste sofort noch enger an die Wand und versuchte sich so klein wie nur möglich zu machen. Sein Herz blieb fast stehen, als er sah, wie Neals Blick durch das Zimmer glitt.

Der sah Otoko geschockt an, als er ihn entdeckte. "Nein... Nein, das ist nicht wahr... Chris..." Mit einem leisen Wimmern wich Neal vor ihm zurück.

/Scheiße! Wieso hat er nicht abgeschlossen!!/ Panisch sah er Neal an, sagte aber kein Wort. Er hoffte immer noch, dass er das nur Träumen würde.

"Chris!!, rief Neal nun lauter. "Chris, komm her!"

"...N-neal... bitte.... ich... e-es ist.... Es tut mir leid...", stotterte Otoko verstört.

"Es tut dir leid?" Neal lachte hysterisch. "Und, willst du immer noch sterben?"

Der blonde Junge biss sich auf die Lippen und senkte den Kopf. "...Ja...", sagte er leise.

"A-ach? Schön... Darf ich dich töten, ja?"

Otoko presste seine Hände an den Kopf. "NEIN! Lass mich in Ruhe!!"

In dem Moment kam Chris ins Zimmer. "Neal! Spinnst du?!"

Verwirrt drehte Neal sich um. "A-aber Chris... Warum ist dieser Psycho in deinem Zimmer? Warum?"

Sofort waren die eisblauen Augen auf Chris gerichtet. "Ch-chris! E-es tut mir leid.... i-ich....", stotterte Otoko.

"Chris... ich... verstehe das nicht. Sag, dass das nicht wahr ist. Warum, Chris? Sag es!" Mit Tränen in den Augen sah Neal seinen großen Bruder an.

"Verdammt, ich weiß es nicht! Hör auf zu heulen, du Memme!" Auch wenn Chris bestens verstand, was sein Bruder durchmachte, lagen seine Nerven so blank, dass er beinahe am Ausrasten war. Eigentlich regte er sich nicht über Neal oder über Otoko auf, vielmehr war er wütend auf sich selbst.

Otoko sah Chris verwundert an.

"Ihr bringt mich alle noch ins Grab." Ohne den schluchzenden Neal weiter zu beachten, wandte sich Chris wieder Otoko zu. "Ich hab hier was zu essen für dich, wenn du willst."

"G-gerne...", stotterte Otoko, starrte aber trotzdem die beiden Brüder verwirrt an.

"Chris, du bist so gemein. Verdammt, das sage ich Mama, wenn sie wieder da ist." Neal wollte aus dem Zimmer stürmen, doch Chris hielt ihn fest.

"Das tust du nicht!"

"Aber...", wimmerte Neal und schon wieder flossen Tränen über seine Wangen.

"Ch-chris!... S-sei ihm nicht b-böse... I-immer... immerhin habe ich... i-ihn angegriffen..."

Chris sah seinen Bruder noch einmal drohend an, dann ließ er ihn los. "Ich rate dir, es niemandem zu sagen..."

Otoko biss sich auf die Lippen. Jetzt hatte er ein schlechtes Gewissen für seine Tat, aber er konnte es dadurch auch nicht rückgängig machen...

Als die beiden wieder allein im Zimmer waren, setzte Chris auf seinen Bürostuhl und sah Otoko an. "Iss und dann musst du gehen. Es könnte sein, dass Neal petzt."

"O-ok... danke vielmals...", sagte er und krabbelte zu dem Essen, das er sogleich gierig zu verschlingen begann.

/Und dann lässt du mich hoffentlich in Ruhe./

Als Otoko mit dem Essen fertig war, sah er zu Chris hinauf. /.....Wieso ist er bloß so nett zu mir.... Und dann wieder doch nicht.... Ich verstehe dich nicht..../

"Also..." Chris machte eine auffordernde Geste und ging zur Tür, wartete da auf Otoko.

"...W-wo hast du meine restlichen Kleider?", fragte der, nachdem er seinen Mantel aus der Ecke geholt hatte.

"Im Bad...", antwortete Chris einsilbig.

Ohne ein weiteres Wort verließ Otoko Chris' Zimmer und schlich ins Bad, wo er seine Kleider schnappte und anfing, sich umzuziehen.

Irgendwie fühlte Chris sich komisch. Er wollte, dass Otoko unbedingt und so schnell wie möglich verschwand. Am liebsten für immer. Aber er musste sich jetzt erst einmal Gedanken darüber machen, wie er erstens Neal beruhigen konnte und zweitens die Sache mit der Polizei regeln würde. Seufzend und etwas verspätet folgte er Otoko ins Bad.

Als der blonde Junge ihn bemerkte, sah er auf und ein kleiner Schauer durchlief ihn. /Wie kann er mich überhaupt noch ohne Hass ansehen?/ Mit leisen Schritten ging er auf Chris zu. ".....Wünschst du dir, dass es mich nie gegeben hätte...?", fragte er und sah ihm ungewöhnlich fest in die Augen.

"Ich wünschte mir, dass wir uns anders kennen gelernt hätten.", antwortete Chris ohne lange zu überlegen. "Hast du alles?"

Otokos Augen füllten sich mit Tränen. "....W-wieso... d-denkst du, es hätte anders kommen können?" Seine Stimme war nur noch ein Flüstern und seine Hände verkrampften sich in dem verschmutzen Stoff seines Mantels.

"Es hätte anders sein können. Aber das ist es nun mal nicht. Komm, ich weiß nicht, wann meine Mutter zurückkommt und ich möchte nicht, dass sie dich sieht." Chris ging den Gang entlang und die Treppe hinunter, ohne sich noch einmal zu Otoko umzudrehen.

Stumm folgte ihm Otoko. Mit einer halbherzigen Bewegung wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. "...D-danke für alles...", sagte er leise und mit gesenktem Kopf.

"Schon ok." Chris öffnete die Tür und machte Otoko mit einer demonstrativen Geste klar, dass er zu gehen hatte.

Vergeblich versuchte der Junge seine Gefühle zu deuten oder wenigstens in der Griff zu bekommen, doch weder das eine noch das andere klappte und so schlang er seine Arme um Chris' Hals. "Arigatou", wisperte er und berührte Chris' Wangen flüchtig mit seinen Lippen. So schnell wie ihn dieses Gefühl überkommen war, so schnell war er auch nach draußen gelangt und rannte weg, zurück in die Stadt.

Chris sah ihm eine Weile verwundert nach, schloss dann die Tür und ging ins Wohnzimmer, um sich um Neal zu kümmern, was sich er ein ganzes Stück Arbeit werden würde.
Neal saß, wie fast immer, mit angezogenen Beinen auf der Couch, allerdings wirkte er nicht wie sonst entspannt und faul, sondern wütend, vielleicht auch enttäuscht und ängstlich.

So leise wie möglich kam Chris in den Raum und setzte sich neben seinen Bruder, doch er sagte nichts.

Neal rührte sich nicht und starrte weiter vor sich hin. "Wieso war er in deinem Zimmer?"

"Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist...", seufzte Chris.

"Du hast ihn reingelassen?!", fragte er empört und sah seinen Bruder mit großen Augen an.

Chris nickte. "Ich hab ihn mit hierher genommen, ja."

"Wieso?!"

"Ich sagte, ich weiß es nicht..." Waren es die Drogen gewesen? Nein. Deren Wirkung hatte zu dem Zeitpunkt bereits ziemlich nachgelassen. Er hatte das Risiko gekannt und ihn trotzdem mitgenommen. Aber das konnte er Neal ja schlecht sagen.

"Du weißt es nicht?! Willst du mich verarschen?! Warst du etwa so sturzbetrunken, dass du es gar nicht mehr mitbekommen hast?!"

"Nein, ich habe nichts getrunken.", antwortete Chris ruhig.

Neal starrte seinen Bruder lange an. "...Jetzt verstehe ich.... Du wolltest mich nur verarschen! Das Ganze ist nur eine verdammte Verarschung von euch!!"

"Sicher. Das hier ist auch nicht echt!" Chris zog sein T-Shirt hoch und zeigte Neal die beiden Einstechwunden, die Otoko ihm zugefügt hatte. "Alles nur, um dich kleinen Idioten zu ärgern!"

"...W-was soll das sein?", fragte der Kleinere verwirrt.

"Das passiert, wenn dir der Arzt eine Spritze gibt und nicht aufpasst... Oder jemand anders..."

"...Häh?... W-was ist denn überhaupt passiert?! Ich komm nicht mehr mit, verdammt!!"

"Du bist ein Trottel..." Chris stand auf und ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. /So undeutlich habe ich mich doch auch nicht ausgedrückt./

"Ich kann leider nicht Gedanken lesen!! Wie um alles in der Welt soll ich denn bitte wissen, was gestern passiert ist?!"

Doch anstatt zu antworten holte Chris die Cornflakes sowie die Milch heraus und setzte sich an den Esstisch.

Neal stand am anderen Ende des Tisches und starrte seinen Bruder an. "...Du weißt doch selbst nicht mehr, was in deinem kranken Hirn vorgeht..."

Chris blickte nicht auf, als er seinem Bruder ruhig antwortete. "Nein, das weiß ich nicht. Na und?"

"...Toll..." Neal hob die Arme. "Toll! Mein Bruder studiert Psychologie und wird selbst zum Psycho! Na wie find ich denn das?"

"Die Straßen hier sind voll von Psychos. Was denkst du, wie viele hier unerkannt herumlaufen?"

"Und was denkst du, wie viele davon Psychologie studieren?!"

"Ach sei doch still! Du hast keine Ahnung, was hier los ist, also halt dich raus!"

"ICH soll mich raushalten?! Er hat versucht, mich umzubringen!!!"

"Na und? Wen kümmert's?" Schlecht gelaunt kaute Chris auf seinen Cornflakes herum.

"...Ich danke dir auch recht schön....", sagte Neal leise und stampfte davon.

"Depp.", rief Chris Neal hinterher. /Ich habe genug eigene Probleme. Da brauche ich dich nicht auch noch./

15.

Die nächste Woche war für Otoko alles andere als normal, sofern man sein Leben überhaupt einmal als normal hätte bezeichnen können. Er brauchte Geld, denn die Schulden, die er für Chris' Droge hatte machen müssen, waren immer noch nicht bezahlt. Wie ein Schatten schlich er Tag für Tag durch die Stadt, damit er dem Dealer ja nicht über den Weg lief. Leider ging das täglich erbettelte Geld meistens für seine eigenen Drogen drauf und war er der Verzweiflung nahe. Er hatte sich dazu entschlossen, Chris erst mal in Ruhe zu lassen, so lange er mit seinen Schulden zu kämpfen hatte.
Als er aber an diesem Tag zwischen den verschneiten Mülltonnen aufwachte, hatte er ein komische Gefühl, als ob irgend etwas heute einfach klappen müsste und so machte er sich auf den Weg durch die Stadt. Schon wenige Minuten später traf er auf eine Gruppe von Jugendlichen.

Er wusste nicht, dass er seit geraumer Zeit von einer dunklen Gestalt verfolgt wurde. Immer wieder versteckte sie sich in den dreckigen Gassen, nahm Umwege, damit der zerlumpte Junge ihn nicht bemerkte. //Warte nur, ich bekomme schon noch, was mir gehört.// Ein böses Lächeln lag auf den blassen Lippen und er ging weiter, um Otoko nicht zu verlieren. Er würde schon noch dafür sorgen, dass der Junge seine Schulden zahlte.

Otoko bekam von seinem Verfolger nichts mit, er war viel zu sehr auf die Jugendlichen vor sich konzentriert. Er überlegte so verbissen, wie er sie um ihr Geld bringen konnte, dass er nicht merkte, dass ihm ein Gesicht aus der Gruppe bekannt war. Erleichtert stellte er fest, dass sie sich auf das Getümmel der Großstadt zu bewegten. So würde es kein Problem mehr sein, ihnen mit ein paar geschickten Handgriffen den Geldbeutel abzunehmen.

Neal war mit ein paar Freunden gerade auf dem Weg in die Wohngegend, in der einer von den anderen wohnte. Nach dem Streit mit Chris blieb er so lange wie möglich von daheim weg, er hatte wirklich keine Lust mehr auf seinen großen Bruder. In der Nähe war eine U-Bahn-Station, zu der sie unterwegs waren, da sie nicht die ganze Strecke laufen konnten. Besonders nicht mit dem großen Rucksack, den Neal auf dem Rücken hatte. Wie gesagt, er ging Chris aus dem Weg. Und wie konnte er das besser tun, indem er bei einem Freund schlief?

Der blonde Junge schlug sofort zu, als die Gruppe in der Menge der Wartenden an einem Zebrastreifen anhielt. In kürzester Zeit hielt er die zwei Geldbeutel der Mädchen in den Händen. //Was mag wohl in dem Rucksack sein?//, dachte er und zupfte vorsichtig an dem Reißverschluss, so dass man es wirklich nur sehr schwer merken konnte.

Sie mussten nur noch den Platz überqueren, dann konnten sie in die U-Bahn steigen. Doch die Menschenmasse, die trotz der Kälte unterwegs war, machte es ihnen nicht leicht, einigermaßen schnell durchzukommen. Außerdem wurde der Rucksack allmählich schwer. "Ich find's wirklich cool, dass ich heute bei dir schlafen darf, Andy. Mein blöder Bruder wird langsam zum Psycho, der ist echt nicht mehr zu ertragen."

Otoko hatte Neals Stimme sofort erkannt und er schreckte zurück. Gegen seinen Willen rutschte ihm ein verwundertes "Neal?" heraus. Andy drehte sich zu Otoko um und sah ihn angewidert an. "Hey Mann, Neal, kennst du diesen Penner etwa?"

Auch Neal drehte sich nun zu Otoko um und betrachtete ihn wütend. "Was machst du hier?! Kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen, verdammt?!"

Entschuldigend hob dieser die Hände. "I-ich wusste nicht, da-dass du das bist... t-tut mir leid....", stammelte er und wich zurück.

"Den kenne ich doch...", murmelte Diana, Neals Freundin. "Das ist doch der Kerl, der bei euch vor der Haustüre stand..."

"Was willst du?! Du bekommst von mir nichts!", fauchte Neal.

Immer noch wurde Otoko von der dunklen Gestalt beobachtet. //Interessant... Sie scheinen sich zu kennen...//

"I-ich will auch gar nichts von dir! Ich hab dich nur verwechselt, okay?!"

Andy stellte sich vor Otoko und sah ihm frech in die Augen, obwohl er wesentlich kleiner als der andere war. "Verzieh dich, Penner!"

Diana wollte sich gerade einen Kaugummi aus der Tasche holen, als sie bemerkte, dass ihr Geldbeutel weg war. "N-neal, mein Geldbeutel..."

Sofort sah dieser Otoko böse an. "Das warst du, nicht wahr?"

Hitze stieg dem blonden Jungen ins Gesicht und er fühlte schon die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn. //Verdammt, ich brauche das Geld! Ich darf es nicht schon wieder verlieren!// "N-nein!"

Der Jüngere verschränkte die Arme. "Sehr überzeugend. Gib sie sofort wieder zurück!"

Otoko wich noch mehr zurück. "N-nein! Ich hab nichts! Lass mich in Ruhe! Ich habe doch gesagt, ich habe dich verwechselt, das ist alles!" Verbissen versuchte er sich gegen den Vorwurf zu wehren.

"Und so was soll man einem Penner glauben?!" Flink griff Andy in Otokos Manteltasche, zog aber nicht einen Geldbeutel, sondert ein kleines Beutelchen mit weißem Pulver heraus. "Na was haben wir denn da?"

"Gib das sofort zurück!", keifte Otoko und griff nach dem Beutel.

Eine Gestalt in der Menschenmenge fing an zu grinsen. //Amüsant...//

"Wo kann er nur sein?" Hecktisch sah Diana sich um, obwohl sie wusste, dass sie ihn, sollte er denn auf dem Boden liegen, wegen den ganzen Menschen um sie herum nicht sehen konnte.

Neal hingegen blieb bei seiner Meinung, dass Otoko den Geldbeutel hatte. "Gib ihn endlich her!!", forderte er ihn noch einmal auf.

Nervös suchte Otoko nach einem Fluchtweg, aber die Menschenmenge war einfach zu dicht und so zischte er Neal an: "Ich. Habe. Ihn. Nicht!!"

"Wieso sollte ich dir glauben?!" Wütend packte Neal Otokos Handgelenk und zerrte daran, während er versuchte, mit der anderen an den restlichen Inhalt von Otokos Manteltasche zu kommen.

"Nein!!", schrie dieser auf und griff blitzschnell nach Neals Hals. "Fass mich nicht an!", fauchte er und drückte Neal die Kehle zu. "Ich habe mich bei dir entschuldigt, das sollte reichen, oder nicht?" Seine Stimme war leise und eisig geworden, genauso wie seine Augen, die Neal böse ansahen.

Neal versuchte Otokos Hand von seinem Hals zu lösen, doch schon zum zweiten Mal musste er feststellen, dass er dem Älteren einfach nicht gewachsen war. "Du blöder Psycho!", krächzte er. "Du gehörst wirklich eingesperrt, genauso wie mein Bruder."

Otokos Griff verstärkte sich noch einmal. "Sag mir nur eins. Was findest du psychopatischer? Jemanden anzugreifen, der sich entschuldigt hat oder sich zu verteidigen, wenn man angegriffen wird?"

"Lass ihn in Ruhe!!", schrie Andy und krallte seine Fingernägel in Otokos Hände.

Diana starrte die drei nur verwirrt und ängstlich an. Die Menschen um sie herum machten einen kleinen Bogen um sie, aber es kümmerte sich niemand um sie. Nur ein paar Schaulustige sahen halb amüsiert zu. Das konnte doch nicht sein! "Wieso hilft denn hier niemand?", rief sie denen, die stehen geblieben waren zu, doch anstatt der Aufforderung nachzukommen, gingen sie einfach weg.

Dann endlich lockerte sich der Griff um Neals Hals. Benommen sackte dieser zusammen und sah Otoko röchelnd an, sagte aber nichts.

Mit einem schmerzerfüllten Zischen riss Otoko seine Hände von Andys los und verfrachtete ihn mit einem gezielten Stoß neben Neal auf den Boden. "...Kuso.... Das nächste Mal überlegst du vielleicht besser vorher, was du rauslässt!" Mit zittrigen Händen drehte er sich weg und versuchte sich durch die Menschenmasse zu drängen.

"Du mieses Schwein du!! Komm gefälligst zurück!", schrie Andy ihm nach, blieb aber bei Neal knien und half ihm wieder auf die Beine.

Auch Diana hatte sich zu ihrem Freund niedergekniet. "Oh Gott, Neal..."

"I-ist nicht so schlimm... Alles okay...", erwiderte dieser, doch seine zittrige Stimme und die leicht roten Würgemale an seinem Hals straften seine Worte Lügen.

Andy versuchte ihm mit seiner flachen Hand ein wenig Luft zuzufächeln. "....Neal, wer war der Kerl?"

"Irgendso ein blöder Typ, mit dem mein Bruder Ärger hat..." Neal versuchte sich einigermaßen zusammenzureißen. "Lasst uns weitergehen..."

Währenddessen folge die Gestalt Otoko weiter durch die Gassen der Stadt.

Fluchend verzog sich Otoko in eine Nebengasse und kauerte sich dort hin. Wimmernd betrachtete er seine blutig zerkratzten Hände und biss sich auf die Lippen. "...D-dieses miese Arschloch....." Er seufzte und holte die zwei Geldbeutel heraus, um zu sehen, wie viel Beute er gemacht hatte.

Plötzlich baute sich ein bedrohlicher Schatten vor ihm auf. "Hi Kleiner."

Otoko zuckte zusammen und knallte gegen die Wand. Seine ängstlich aufgerissenen Augen starrten den Mann vor sich an. "...K-kuso.... i-ich... ich...", stammelte er und grub in den Geldbeuteln herum, zeigte den Inhalt dem anderen.. "D-das i-ist alles, was ich habe..."

Mit einer gelangweilten Bewegung schnappte sich der andere Otokos Beute und fing an zu zählen. Dann sah er ihn wieder ernst an. "Das reicht aber nicht."

Der blonde Junge presste sich gegen die Wand und atmete zittrig ein und aus. "I-ich werde es dir bringen, ich habe gesagt, dass du es kriegst!"

"Das ist aber schon etwas her, das weißt du." Der junge Mann sah Otoko ruhig an.

Dieser wich seinem Blick aus und lies seine Augen hektisch über den Boden gleiten, als ob er sich erhoffen würde, in dem Matsch noch eine Münze zu entdecken. "I-ich w-weiß.... E-es t-tut mir leid... I-ich wollte d-dich nicht verärgern... w-wirklich..."

Mit einem beinahe freundlichem Lächeln beugte er sich zu Otoko herunter. "In drei Tagen ist es da."

Er nickte heftig. "W-wie v-viel fehlt d-denn noch?", fragte er leise.

"Mit Zinsen... Hm, sagen wir, es fehlen noch 20 Dollar. Das müsste doch aufzutreiben sein, findest du nicht?"

Ein nervöses Lächeln legte sich auf Otokos Gesicht. "H-hai... W-wo k-kann ich dich f-finden?"

"*Ich* werde *dich* finden." Der andere machte auf dem Absatz kehrt und verließ den immer noch ängstlichen Otoko ohne ein Wort.

Zitternd ließ sich dieser an der Wand hinuntersinken. "....Kuso.... kuso.... kuso.... Ich kann mir nicht einmal mehr meinen eigenen Stoff kaufen....." Er kramte sein Beutelchen hervor und musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass er aufgerissen war und sich das ganze Pulver verflüchtigt hatte. Wütend ballte er seine Hände zusammen. ".....verdammt!!!!"
Genießerisch trank Chris einen Schluck seiner heißen Schokolade und sah dabei aus dem Fenster des Cafés, das sich im fünften Stock des Hochhauses befand. Die Aussicht beschränkte sich zwar auf die Wände der anderen Häuser, aber das störte ihn nicht. Im Moment fühlte er sich vollkommen entspannt und war mehr als dankbar dafür.

Janine saß ihm gegenüber und rührte stumm in ihrem Kaffee herum. Ab und zu sah sie sich im Café um und nach einigen Minuten fuchtelte sie gelangweilt vor Chris' Augen herum. "Lebst du noch?"

Schmunzelnd stellte Michael seine Tasse weg. "Lass ihn doch... Ich hab ihn schon lange nicht mehr so gesehen..."

Das Mädchen nickte zustimmend. "Man könnte ja fast meinen, du hättest all deinen Prüfungsstress hinter dir...."

Nun wandte sich Chris doch an sie. "Was meinst du?", fragte er geistesabwesend.

Janine lachte kurz auf und wuschelte Chris durch die Haare. "Ich sagte, du wirkst so entspannt, als ob du gar keine Prüfungen mehr zu bestehen hättest... richtig sorgenfrei."

"Sorgenfrei..." Ein leichtes Lächeln legte sich auf Chris' Lippen. "Das wäre schön..."

"...Bist du denn nicht sorgenfrei.....? Du siehst ganz danach aus... In letzter Zeit hast du ja sehr angespannt gewirkt."

"Nun ja... Wenn es so bleibt wie es jetzt ist, habe ich erst einmal nichts zu befürchten." //Aber das glaube ich kaum...// Chris lächelte entschuldigend. "Tut mir leid, bei mir geht in letzter Zeit alles drunter und drüber."

Michael sah ihn forschend an, grinste dann. "Du bist verliebt."

Janine gluckste vergnügt und strahlte Chris an. "Stimmt das? Wer ist denn die Glückliche, sag schon?!"

"N-nein, das stimmt nicht." Wie kamen sie nur darauf, dass er verliebt sein könnte? Aber wenn er es objektiv betrachtete... Er würde wahrscheinlich dasselbe denken. "Es ist wirklich nicht so."

"Was dann?" Die Neugier des Mädchens war nun voll und ganz geweckt und ihre Augen leuchteten hell.

Chris wurde das Ganze fast unheimlich. "Es ist wirklich nichts... Ich habe ein paar Probleme mit einem Kerl, aber..." //Falsch, falsch. Das ist zweideutig, verdammt!// "Nicht das, was ihr denkt.", versicherte er schnell.

Janine blinzelte ungläubig. "...Mit einem Kerl.... Aber du bist hetero, oder?"

"Natürlich. Ich sagte doch, es ist nicht so."

"Michael grinste. "Nicht so? Wie dann?"

"Nun sag schon... In letzter Zeit redest du ja kaum mit uns... Wir sind doch Freunde, oder?"

"Ich kann es euch nicht sagen..." Chris vermied es, die beiden anzusehen und widmete sich wieder seiner heißen Schokolade, um ein paar Sekunden beschäftigt zu sein. "Es ist nicht so, dass ich euch nicht vertraue, aber es geht einfach nicht."

Janine schluckte und guckte ebenfalls auf den Tisch. "Ach so...." Dann begann sie wieder zu lächeln. "Na ja, du wirst sicher deine Gründe haben.... und wenn du sonst Probleme hast, kannst du immer zu uns kommen, ja?"

Chris sah sie dankbar an und nickte dann.

"Stell sie uns bei Gelegenheit vor, ja? Oder ihn...", meinte Michael grinsend. Er glaubte Chris ganz und gar nichts.

"Ach sei still!", maulte Janine und schlug Michael sanft mit der Hand auf den Kopf.

"Ja ja..." Er zog Janine zu sich und küsste sie sanft.

Chris sah wieder aus dem Fenster. //Hoffentlich bleibt es so ruhig...//

Janine erwiderte den Kuss leicht, wandte sich aber dann wieder Chris zu. "Neh, kommst du heute Abend auch in die Stadt?"

"Heute Abend?" So sehr Chris sich auch bemühte, ihm fiel einfach nicht ein, was heute sein könnte.

Janine nickte. "Ja, hast du schon was vor?"

"Nein. Was wollt ihr denn machen?" //Weggehen? Wieso nicht? Dann könnte ich endlich mal etwas Abstand von allem nehmen.//

"Hm... wir waren schon lange nicht mehr im Kino, oder?", meinte Janine und strich Michael abwesend über den Nacken.

Chris nickte. "Klar. Warum nicht?" Während der nächsten Viertelstunde diskutierten sie, in welchen Film sie gehen würden, in welches Kino und wann überhaupt. Otoko war erst einmal aus Chris' Gedanken verschwunden.

16.

Es war wieder ein ziemlich verschneiter Tag und die Sonne liess sich nicht
einmal ansatzweise blicken. Mit verhangenem Blick starrte die Gestalt, die
sich an die Mauern vor der Uni lehnte, auf den matschigen Schnee vor sich.
"....K-komm schon.... D-die anderen sind doch sch-schon gegangen.... W-was
machst du noch so l-lange in diesem d-doofen Schulhaus.....?", murmelte
Otoko und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

Die Hände in den Hosentaschen vergraben und die Tasche unter den Arm
geklemmt kam Chris eine Weile später aus dem Unigebäude. Andauernd war beim
Nachschlagen in der Bibliothek mit seinen Gedanken abgedriftet und hatte
dadurch viel länger gebraucht, als er eigentlich erwartet hatte. Eine neue
Prüfung stand bald bevor und er sollte endlich richtig mit dem Lernen
beginnen.

Als Otoko Chris endlich entdeckte, stand dieser schon fast vor ihm, doch
etwas schien ihn abzulenken, so dass er Otoko wie schon einmal gar nicht
wahr nahm. Mit einer schwankender Bewegung stieß sich der blonde Junge vor
der Mauer ab und stellte sich Chris in den Weg. "...Ch-chris.....?"

Doch anstatt stehenzubleiben, ging Chris einfach um Otoko herum. "Ich habe
keine Zeit.", meinte er kurz und knapp und verließ das Unigelände. Er hatte
es wirklich satt, dass ihn dieser Penner nervte. Seine eigenen Probleme
bereiteten ihn schon genug Kopfschmerzen.

"Chris... w-warte doch....", stotterte Otoko und eilte dem jungen Student
nach. Er wusste eigentlich nicht, wieso er Chris unbedingt wieder sehen
wollte, denn wegen seiner Bestrafung war er heute nicht zu ihm gekommen.

Chris blieb stehen und drehte sich um. "Ich habe nächste Woche eine Prüfung,
ok? Und ich muss lernen. Also hör auf, mich aufzuhalten, ja? Ich bin
beschäftigt." Damit ging er weiter zur Bushaltestelle.

Doch sein Verfolger dachte nicht daran, aufzugeben. "W-was für eine Prüfung
d-denn?", fragte er und griff nach Chris' Schulter, was wohl ein großer
Fehler war.

Anstatt die Hand einfach zu ignorieren, wie er es normalerweise getan hätte,
packte Chris sie und drückte zu. "Das Gespräch ist hiermit zu ende, ok?"

Sofort war von dem blonden Jungen ein Wimmern zu vernehmen, doch er zog die
Hand nicht zurück. Geschockt starrte er Chris an. "W-wieso... b-bist du s-so
böse....?"

"Weil ich keine Zeit für so etwas habe!", fauchte Chris, ließ die Hand des
Jungen los und drehte sich wieder herum. "Hör endlich auf, mir auf die
Nerven zu gehen!"

"A-aber ich hab dich d-doch seit e-einer Woche i-in Ruhe g-gelassen....",
stotterte Otoko und rieb sich über seine schmerzende Hand.

Chris seufzte. "Und ich sagte doch, dass du mich für immer in Ruhe lassen
sollst! Akzeptier es doch endlich..."

"W-wieso soll ich deinen Wunsch akzeptieren, wenn du es bei meinem nicht
tust?!"

"Weil mein Wunsch noch lange nicht so egoistisch ist, wie deiner." Er sah
auf seine Uhr. "Ich habe wirklich keine Zeit, Otoko. Mein Bus kommt gleich."

Der blonde Junge stellte sich neben Chris. "I-ich darf doch einmal im Leben
einen egoistischen Wunsch haben.... oder?"

Ein Kopfschütteln war die einzige Antwort, die Otoko darauf bekam. Wie immer
waren solche Gespräche schon von Anfang an sinnlos und Chris wollte seinen
Bus wirklich nicht verpassen, also ging er weiter und hoffte, der Blonde
würde ihn in Ruhe lassen, wenn er ihn ignorierte.

Otoko folgte dem Student schwankend. Er war ein wenig verwirrt, kam doch
Chris' Bus eigentlich immer um fünf Uhr. Wieso musste er also jetzt schon
den Bus um halb fünf nehmen? Wollte er gar nicht nach Hause? "C-chris.... wo
gehst du... hin?"

Chris biss sich auf die Lippen. Er hatte eigentlich gar nicht mehr daran
gedacht, was für einen Termin er heute hatte. Nun ja, er hatte versucht,
nicht daran zu denken. Aber nun musste er sich endlich der Realität stellen.

Fragend blickten ihn Otokos eisblaue Augen an. "D-der Bus um h-halb... fährt
d-doch gar nicht z-zu dir n-nach Hause...."

"Nein, tut er nicht.", bestätigte Chris, aber er war nicht bereit zu sagen,
wo er hin wollte. Das ging den anderen wirklich nichts an, obwohl dieser
eigentlich auch seine Mitschuld daran hatte.

"W-wenn du e-es mir nicht sagst,... k-komme i-ich mit..." Wahrscheinlich
hätte es eher eine Drohung sein sollen, aber aus Otokos Munde klang es
einfach nur wie ein kleines trotzendes Kind.

"Ach, du willst auch zur Polizei?" Ein fast schon bösartiges Grinsen zierte
auf einmal Chris' Gesicht.

Sofort zuckte der Streuner zusammen. "Z-zur Polizei...? W-willst du m-mich
schon wieder m-melden?", fragte er entsetzt.

Schlagartig verblasste das Grinsen und Chris sah nun mehr als wütend aus.
Doch er hielt sich zurück. "Nein, ich muss..." Aber er sprach nicht weiter.
Wenn er Otoko einfach zum Gericht mitbringen würde, dann würde es beweisen,
dass er nicht gelogen hatte. Der andere war ja sowieso viel schwächer als
er, er würde also gar keine großen Probleme damit bekommen.

"W-was h-hast du denn a-angestellt?", erkundigte sich der blonde Junge
unwissend. Er hauchte sich in seine Hände, in der Hoffnung, wieder
einigermaßen ein Gefühl darin zu bekommen.

Aber wenn er Otoko bewusstlos schlug und ihn so im Bus mitnahm, würde er
auch Ärger bekommen, genauso, wenn er den Jungen mitzerrte und dieser sich
wehrte. Er musste also freiwillig mitkommen. Chris nickte nur als Antwort
und senkte den Kopf leicht. Noch einmal durfte er nicht so einen Fehler
machen, der Otoko zeigte, was er vorhatte.

Leicht verwirrt blinzelte er Chris an. Tröstend, weil er dachte, Chris hätte
etwas schlimmes ausgefressen, legte Otoko ihm die Hand auf die Schulter.
"Was ist passiert?", fragte er mit einer seit langem wieder klaren Stimme.

Chris musste sich ein Grinsen verkneifen. Dass es so einfach war, den
anderen reinzulegen, hätte er nicht gedacht. Die Schuldgefühle, die er
angesichts des Mitgefühls, welches Otoko ihm entgegenbrachte, bekam,
ignorierte er. "Seit wann interessierst du dich für meine Probleme?", fragte
er leise.

Wieder beschlich Otoko Unsicherheit und er zog die Hand von Chris Schulter
zurück. Nervös zuckten seine Augen über den matschigen Schnee am Boden.
"I-ich weiss nicht... I-ist d-das d-denn schlimm?"

/Hoffentlich halte ich es durch.../ "Nein, eigentlich nicht." Sie kamen bei
der Haltestelle an, wo der Bus auch schon bereitstand. "Wie ich bereits
sagte, ich muss jetzt gehen." /Bitte, komm mit!/

Ein wenig ängstlich blickte Otoko in den Bus, dann wieder zu dem Studenten.
"....W-wann kommst d-du wieder zurück?", fragte er leise.

/Scheiße./ "Das dauert einene Weile, denke ich." Kurzentschlossen packte
Chris Otoko am Arm und zog ihn mit in den Bus, dessen Türen sich gleich
darauf schlossen. /Gut, jetzt musst du nur noch dafür sorgen, dass er bei
mir bleibt./

Ungelenk krallte sich der Junge an Chris' Jacke fest, als er in den Bus
gezerrt wurde und fast hinfiel. Die großen Huskyaugen schrieen förmlich nach
einer Erklärung, doch das einzige, dass Otoko herausbrachte, war: "I-ich hab
k-kein Geld für einen F-fahrschein...."

Chris atmete erleichtert aus. "Ich zahle ihn dir..." Schnell zog er seinen
Geldbeutel heraus und ließ sich zwei Fahrkarten am Automaten heraus. Jetzt
hatte er eine reale Chance, Otoko dazu zu bringen, mit ihm zum Gericht zu
gehen.

Unwohl sah sich der Streuner im Bus um. Er mochte die verurteilenden Blicke
der anderen Fahrgäste nicht und versuchte, hinter Chris Schutz vor ihnen zu
finden. "W-wieso w-willst du m-mich m-mitnehmen....?"

"Du wolltest doch mit mir reden, oder etwa nicht?" Chris schob den Blonden
auf einen Platz und setzte sich daneben. /Jetzt kann er erst einmal nicht
mehr weg.../

"A-aber i-ich will nicht m-mit zur Polizei....", stotterte Otoko und krallte
seine von der Kälte fast tauben Finger in den zerrupften Mantel.

/Und jetzt? Warum musste ich Idiot auch sagen, dass ich zur Polizei gehe?!/
"Musst du ja auch nicht...", antwortete Chris und hoffte, dass er halbwegs
freundlich klang.

"Danke...", sagte Otoko leise und lächelte den Studenten kurz aber ehrlich
an, bevor er den Kopf wieder senkte und unruhig mit den Fingern spielte.
"...D-du hast aber beide Fahrscheine nur bis zur Polizeistation gelöst...."

Chris wurde langsam wirklich nervös. "Nun ja..." Diesmal war seine
Unsicherheit sogar echt, wenn auch aus einem anderen Grund. "Wir werden uns
lange nicht mehr sehen..."

Erneut hob Otoko den Kopf und starrte Chris verstört an. "W-was?! W-wieso?
W-was ist l-los? M-musst d-du ins Gefängnis?"

Wieder starrten die anderen Fahrgäste die beiden an.

/Hoffentlich sieht mich keiner, der mich kennt./ "Warum schreist du nicht
noch lauter?", zischte Chris Otoko zu.

Der Streuner zuckte zusammen und versuchte sich auf seinem Sitz so klein wie
möglich zu machen. "G-gomen... I-ich w-war so überrascht.... D-du w-würdest
doch n-nie etwas sch-schlimmes tun....."

"Tja, anscheinend doch..." Chris starrte aus dem Fenster und wollte so
möglichst verzweifelt wirken.

"Ja a-aber w-was hast d-du denn getan?...W-wieso sagst du es mir nicht...?",
winselte Otoko schon fast.

Doch Chris antwortete nicht. Er hoffte, dass Otoko auf seinen Trick
hereinfallen würde, aber er hatte auch Angst, dass es zu unglaubwürdig
klang, wenn er sich etwas ausdachte, also sagte er lieber nichts.

"E-es ist wegen mir....... oder?", fragte der blonde Junge nach einer Weile.
In seiner Stimme schwang bittere Enttäuschung mit.

/Er weiß es! Verdammt! Er wird niemals mitkommen./ Chris sah auf die
Anzeigetafel, an der stand, welche Haltestelle als nächstes kommen würde.
/Ich muss ihn noch mindestens 20 Minuten aufhalten.../ "Kann sein..." Er
wusste nicht, was er sonst hätte antworten sollen. Wenn er es zugegeben
hätte, dass Otoko recht hatte, dann würde dieser bestimmt an der nächsten
Station aus dem Bus springen.

Diesmal blieb der zerlumpte Junge still. Er hatte den Kopf gesenkt, so dass
seine Augen von seinen nun wieder dreckigeren dunkelblonden Haaren überdeckt
wurden. Mit zitternden Händen zog er den Mantel enger um sich.

Der andere sah auf den zitternden Otoko herab. /Nein... nein, das hätte ich
nicht sagen dürfen... Ich hätte es abstreiten sollen.../ Seufzend schloss er
die Augen. Es musste gut gehen... nur noch ein paar Minuten lang.

Doch als der Bus zwei Stationen vor Chris' Ziel anhielt, erhob sich Otoko
und sah mit von Tränen geröteten Augen zu dem Student. "G-gomen ne... i-ich
kann nicht....", hauchte er und rannte zu der Tür.

"Nein, bleib hier!", schrie Chris und sprang ebenfalls auf, doch er konnte
den anderen nicht mehr erwischen. "Scheiße..." Resigniert ging er wieder zu
seinem Platz zurück, als die Türen sich schlossen. /Es ist vorbei.../
Juliette kam sofort aus der Küche, als sie hörte, dass die Türe geschlossen
wurde. "Chris? Bist du das?", fragte sie und von ihrer sonstigen
Fröhlichkeit war nicht viel zu hören.

"Ja.", murrte Chris, als er seine Jacke auszog und die Schuhe in die Ecke
warf. Schlecht gelaunt trottete er in die Küche.

"Ich habe dir doch gesagt, dass du mir sagen sollst, wenn du noch mit deinen
Freunden weggehst! Wo warst du so lange?" Chris' Mutter war gerade dabei,
die Reste des Abendessens in der Mikrowelle zu wärmen.

/Wie soll ich es ihr nur sagen?/ "Ich war nicht bei Freunden, Mama..." Chris
öffnete seine Tasche und holte den Brief heraus, in dem ihm mitgeteilt
wurde, dass er heute bei der Gerichtsverhandlung sein zu hatte, und gab ihn
seiner Mutter. "Lies einfach..."

"Was ist denn das?", fragte Juliette und war schon halb in den Brief
vertieft. Ihr Gesichtsausdruck wurde immer ernster und während sie wieder
aufsah, gab sie Chris den Brief zurück. "Chris, solche Witze finde ich
wirklich nicht lustig. Wo warst du wirklich?"

"Bei der Gerichtsverhandlung..."

Ungläubig schüttelte die zweifache Mutter den Kopf. "......Du meinst das
also wirklich ernst....? W-wieso? Was hast du schon wieder angestellt?" Ihre
Stimme war immer noch ruhig, doch gerade das war ja das Erschreckende.

Chris atmete tief ein. "Ich hab nichts angestellt, aber das wollen sie mir
nicht glauben... Ich hab ne Freiheitsstrafe von zwei Wochen bekommen..."

Erstaunlicherweise sah man Juliette, auch wenn sie geschminkt war, nun sehr
gut an, wie sie blass wurde. "Du willst mich wohl für dumm verkaufen, oder?
Wegen nichts bekommt man keine Freiheitsstrafe!"

Er setzte sich, weil er fürchtete, sich nicht auf den Beinen halten zu
können und sprach mit gesenktem Kopf weiter. "I-ich hab wirklich nichts
getan, aber sie denken, ich hätte sie wieder verarscht. Es ist wirklich
nicht meine Schuld. Dieser verdammte Officer hasst mich, er hat die
Geschworenen dazu gebracht, mich ins Gefängnis zu stecken."

"Junge! Ich versteh immer noch nichts.", seufzte Chris' Mutter und setzte
sich ebenfalls hin. "Was ist passiert? Wieso denken sie, dass du sie
verarscht hat?"

"I-ich hatte ein Problem mit so einem Kerl, einem Drogenabhängigen... Wegen
ihm war ich bei der Polizei, aber die haben ihn nicht gefunden und geglaubt,
ich hätte sie wieder verarscht, wie damals... und deswegen war ich vor
Gericht... Aber ich habe nichts getan, wirklich!", beteuerte Chris, aber
irgendwie glaubte er nicht daran, dass seine Mutter ihm das alles abnahm.

Was sie auch nicht tat. "Du nimmst doch nicht etwa Drogen, oder?", fragte
sie mit großen Augen.

Sofort schüttelte Chris den Kopf. "Nein! Du weißt, dass ich so etwas nie tun
würde!"

"Wie kommst du dann überhaupt in Kontakt mit so einem?"

Erneut sackte Chris in sich zusammen. "I-ich hab ihn auf der Straße
getroffen und seitdem hat er mich verfolgt... Wo ist Neal?"

"E-er ist oben...", antwortete Juliette ein wenig verwirrt. "Und deshalb
hast du ihn bei der Polizei gemeldet, ja? Wieso hast du mir nie etwas
gesagt?"

"Ich wollte dich nicht beunruhigen." Chris stand auf. Er wollte nicht länger
mit seiner Mutter darüber reden. "Ich gehe zu Neal." Und schon war er
regelrecht aus der Küche geflüchtet.

Seine Mutter rief ihm auch noch vergeblich nach, wurde aber dann von dem
Klingeln des Telefons davon abgehalten, Chris weiter zu verfolgen.

Oben angekommen klopfte Chris an Neals Zimmertüre und wartete. /Tja, wer
hätte gedacht, dass es so kommen würde.../

Sein kleiner Bruder riss sofort die Türe auf und als er Chris erkannte
wechselte sein Gesichtsausdruck von 'Null-Bock'-Stimmung auf Neugierde.
"Chris! Wie ist es gelaufen?"

"Beschissen... Darf ich reinkommen?"

"S-sicher..." Sofort trat Neal zur Seite und öffnete die Türe so, dass Chris
hinein kommen konnte. "Haben sie dich etwa verbrummt?"

Chris nickte. "Ja... Zwei Wochen ab morgen..." Niedergeschlagen ging er in
Neals Zimmer, in das er sonst nicht einmal in den schlimmsten Zeiten einen
Fuß gesetzt hätte.

"A-aber wieso?! Verdammt! Wieso hast du mich denn nicht als Zeugen
mitgenommen.... diese verdammten Idioten!! Was ist denn jetzt mit deinem
Studium? Gott nein! Diese Typen kotzen mich an!!" Wütend trat er gegen
seinen Stuhl, der dann lautstark zu Boden knallte.

"Ich werde nur eine Prüfung verpassen und da rufe ich nachher noch an und
frage, ob ich sie nachholen kann." Mit leicht zitternden Knien ging er in
die Hocke und setzte sich auf den Boden. "Ich hoffe nur, es geht schnell
vorbei..."

"Aber du hast gar nicht gelogen... Was, wenn er wieder zurück kommt....?",
Neals Angst vor Otoko war immer noch recht groß.

Chris schüttelte den Kopf. "Er tut dir nichts..."

"Wo-.... woher willst du das wissen?", fragte Neal fast hysterisch.

"Ich weiß es einfach, o.k.? Ich hab ihn heute noch mal gesehen... Er machte
nicht so einen schlimmen Eindruck wie sonst.", versuchte Chris seinen Bruder
zu beruhigen, aber er war sich selbst nicht ganz sicher.

"Du hast...... du hast ihn heute gesehen?! Wieso hast du ihn nicht ins
Gericht gezerrt?!"

"Ich habe es versucht... Aber ich bin einfach zu blöd." Ein trauriges
Lächeln lag auf Chris' Lippen. "Er ist mir entwischt..."

"I-ich werde dich da nicht hängen lassen, Chris!" Nervös fuhr sich Neal
durch die Haare. "Du bist unschuldig, verdammt! ....Irgendwie werde ich dich
frühzeitig da rausholen können, glaub mir!"

"Nein, ist schon gut... Du bekommst nur Ärger, das will ich nicht... Es sind
doch nur zwei Wochen, die halte ich schon aus..." Doch nicht einmal sich
selbst konnte Chris damit nicht überzeugen. Er hatte Angst, ja, große Angst
vor den vor ihm liegenden zwei Wochen.

"Ich hasse ihn und du wirst die Zeit ganz sicher nicht wegen ihm absitzen
müssen!"

"Es lässt sich nichts mehr machen..."

"Doch sicher wird etwas gehen! Wenn ich ihn der Polizei vor die Füße werfe,
kommst du wieder raus!"

"Ich will nicht, dass du dich wegen mir in Gefahr bringst, Neal... Lass es
bitte."

"Wenn ich mit Köpfchen handle, kann mir nichts passieren."

Zum ersten Mal, seit Chris das Zimmer betreten hatte, sah er seinen Bruder
wirklich an. "Ich will nicht, dass du das machst, o.k.?"

"Wieso?! Chris du bist unschuldig!"

"Ich will nicht, dass du dich meinetwegen in Gefahr bringst."

Neal biss sich auf die Lippen und blickte zu Boden. //Wieso darf ich ihm
nicht helfen?!//

Seufzend stand Chris auf. "Ich muss noch packen... Pass auf dich auf, ja?"

"J-ja... sicher... Du aber auch, hörst du?"

"Klar, soweit das möglich ist..." Ohne Neal zu umarmen, was er eigentlich
tun wollte, ging Chris aus dem Zimmer seines Bruders. Hätte er es getan,
hätte er den Jüngeren nur noch besorgter gemacht, als er es sowieso schon
war.

Ende des Teils...

Anm.: Mein Vater meinte, dass man wegen einem Vergehen, wie Chris es
begangen hat, niemals hinter Gitter kommen würde, sondern, wenn überhaupt,
nur eine Geldstrafe bekommen würde. Tja, ein Hoch auf die künstlerische
Freiheit. Wir sind uns durchaus bewusst, dass wir ein paar Dinge aus dem
amerikanischen Strafvollzug verdrehen, bzw. nicht korrekt darstellen, aber
das dient lediglich der Handlung der Geschichte.

17.

Chris starrte auf das kabellose Telephon in seiner Hand. Gerade eben hatte er dem Professor, bei dem er nächste Woche die Prüfung hätte schreiben sollen, erklärt, warum er nicht daran teilnehmen konnte. Zum Glück hatte dieser ihm angeboten, dass er an einem anderen Termin nachschreiben konnte, aber irgendwie hatte die Freundlichkeit des Professors nicht echt geklungen. Aber was konnte er denn schon erwarten, wenn er jemandem erklärte, dass er ins Gefängnis musste?

Er biss sich auf die Lippen. Nun musste er noch mit Michael und Janine reden. Den anderen wollte er nichts erzählen, doch die beiden waren ihm wichtig und sie hatten ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Mit einem schlechten Gefühl im Magen tippte er die Nummer ein.

Nach einigen Klingeltönen nahm auch schon jemand ab und die Stimme von Janine war zu vernehmen. "Ja, hallo?"

Am liebsten hätte Chris aufgelegt, doch bei dem Gedanken daran kam er sich schwach vor. Wieso hatte er auf einmal sogar Angst davor, mit seinen Freunden zu reden? "Hi, ich bin's, Chris. Kann ich Michael sprechen?" Auch wenn er sich gut mit Janine verstand, er wollte lieber mit Michael reden. Bei ihm würde es ihm leichter fallen.

"Oh, hi Chris!", quietschte sie schon fast in den Hörer. "Er ist gerade wo anders.... Willst du denn nicht mit mir reden?", fragte sie gespielt schmollend.

"Nun ja, eigentlich wollte ich jetzt mit ihm über deine unmöglichen Sachen reden, die du heute anhattest, aber wir haben noch etwas anderes zu bereden." Auch wenn ihm überhaupt nicht nach Späßen zumute war, halfen sie ihm, schneller mit der Wahrheit herauszurücken. "Hör zu, Janine." Seine Stimme war nun wieder ernst. "Ich werde die nächsten zwei Wochen nicht da sein."

Obwohl Janine erst angefangen hatte zu Lachen, kehrte jetzt Ruhe ein, die auch einige Sekunden lang anhielt. "....Wieso....? Fliegst du etwa weg?"

"N-nein, das nicht. Ich... ich hab Ärger mit der Polizei und muss ins Gefängnis, Janine." Obwohl er genau wusste, dass sie ihn, selbst wenn etwas viel schlimmeres passieren würde, nicht einfach fallen lassen würde, hatte er Angst, dass sie auflegte.

".........W-was erzählst du da?" Janine war nun hörbar verwirrt.

Chris atmete ein paar Sekunden tief durch, bevor er weitersprach. "Ich muss wegen Irreführung der Polizei für zwei Wochen hinter Gittern."

"....W-wirklich? Wieso? Ich meine... so etwas würdest du doch nicht mehr tun..."

"N-nein, habe ich auch nicht. Aber sie glauben mir nicht." Er wollte auflegen, aber dann wäre Janine wirklich sauer und das wiederum wollte er auch nicht.

".....D-das kann ich kaum glauben... Du... Wieso hast du uns nichts davon erzählt? Das ist jetzt irgendwie wie ein Schlag vor den Kopf für mich...."

"Es tut mir leid. Aber... Ich bin wirklich am Ende, Janine. Sag Michael, ich bin in zwei Wochen wieder da, ok?" Die letzten Worte waren mehr ein undeutliches Murmeln und man hörte deutlich aus seiner Stimme heraus, dass er auflegen wollte.

"O-ok... Sag sofort Bescheid, wenn du wieder da bist.... W-wir werden dich vermissen Chris....." Man konnte hören, wie Janine ihre Hand auf den Mund drückte. "....Pass auf dich auf...."

Chris nickte und bemerkte gar nicht, dass Janine es überhaupt nicht sehen konnte. "Ja, mach ich... Bye." Schon hatte er aufgelegt und ließ sich rückwärts auf sein Bett fallen. Schlafen, er wollte jetzt nichts mehr als schlafen und in nächster Zeit nicht mehr aufwachen.
Ein ziemlich vernarbter Arm hing von der oberen Pritsche herunter, und das war bis jetzt auch das einzige, was Chris von seinem Zellengenosse gesehen hatte. Die Fingernägel waren gelb vom Nikotin und je länger er den Arm betrachtete, um so kleiner wurde seine Hoffnung, einen halbwegs normalen Mitinsassen zu haben.

Entmutigt warf Chris den Rucksack mit den einzigen Sachen, die er von zu Hause hatte mitnehmen dürfen, auf das untere Bett und legte sich nach kurzem Zögern auch darauf. Der andere, mit dem er die Zelle teilte, schien entweder nicht an Chris interessiert zu sein oder einfach zu schlafen. Was es auch war, es konnte ihm nur recht sein.

Man konnte wirklich meinen, der andere Häftling würde schlafen, denn er zog die Hand erst nach guten zwei Stunden hoch. Kurz nachdem der Arm weg war, tauchten zwei Beine auf und schon landeten diese auf dem Boden. Langsam drehte sich der Insasse um und ging in die Knie, um Sichtkontakt mit Chris zu bekommen. "Hey, Neuer... Wie heißt du?", fragte die raue Stimme, die so gar nicht zu dem spitzbübisch grinsenden Mund passte.

Die ganze Zeit hatte Chris die Matratze über ihm angestarrt und blickte nun erstaunt zu dem anderen. So sah er also aus... "Chris.", antwortete er verspätet. Seine Meinung über die Insassen eines Gefängnisses hatte sich aus unzähligen Hollywoodfilmen gebildet und er wollte sie nicht unbedingt auf den Wahrheitsgehalt hin überprüfen. Er hatte sich vorgenommen, dem Ärger so weit es ging aus dem Weg zu gehen.

"So... Chris also.... Ich bin Beny...." Damit hielt er Chris seine Hand hin und setzte sich, frech, wie er war, auf das Bett. "Wieso bist du hier?"

Chris setzte sich auf, da er sich liegend dem anderen einfach unterlegen fühlte. Er ergriff Benys Hand und drückte sie kurz. "Irreführung der Polizei." Natürlich war er neugierig, warum der andere hier drin war, doch andererseits konnte dieses Interesse auch irgend ein aggressives Verhalten bei ihm auslösen. Sofort verwarf er den Gedanken wieder. Wieso hatte er gerade Psychologie studiert und nicht irgend etwas normaleres?

Ein paar Sekunden lang, starrte Benny ihn an. "...Ist das alles...?"

Ein Nicken von Chris kam als Antwort.

"Wie lange musst du denn sitzen?"

"Zwei Wochen." Chris gähnte. Allmählich begann er neuen Mut zu fassen. "Wann gibt es hier was zu essen?"

"Essen? Das brauchst du in so einem dämlichen Gefängnis nicht zu fragen.... Die bringen uns zum Speisesaal, wann es ihnen gefällt..."

"So..." Nun wusste er schon wieder nicht, worüber er mit dem anderen reden sollte. Einer der Schließer hatte irgendetwas von Regeln erwähnt, aber genauer gesagt hatte ihm das auch keiner. Doch auch das war kein interessantes Gesprächsthema.

"Sitzt du das erste Mal?", fragte Beny und lehnte sich zurück.

"Ja." Auch Chris lehnte sich an die Wand und er fühlte sich sogar langsam etwas wohler. Beny sah zwar nicht gerade vertrauenserregend aus, aber wie es schien, war er recht nett. "Warum?"

"Och, nur so.... Das sind so die obligatorischen Insassenfragen...", meinte Beny grinsend und kratzte sich am Arm.

"Aha..." Zum ersten Mal an diesem Tag musste er ein wenig schmunzeln. "Sag mal, werden wir hier die ganze Zeit in den Zellen herumsitzen müssen oder gibt's da ein bisschen Abwechslung?"

"Ich darf heute nur hier sein, weil du neu dazugekommen bist... Aber ab morgen musst du auf dem Gelände arbeiten gehen... Ich glaube dich werden sie wohl in die Werkstatt schicken..."

/Werkstatt? Hm... ist ja ganz ok .../ "Und wo arbeitest du?"

Beny verzog ein wenig das Gesicht. "...Willst du das wirklich wissen?"

"Wenn es dir etwas ausmacht, dann nicht." Ein wenig unbeholfen sah Chris zur Seite. /Mein Gott, wie soll ich mich hier nur beschäftigen?/

"Na ja... weißt du... Ich bin in der Wäscherei...", nuschelte Beny. "Irgendwie find ich den Job so was von erniedrigend...."

"Na ja..." Chris versuchte aufmunternd zu grinsen. "Es gibt doch sicher noch schlechtere Jobs, oder?"

"...Weiß ich gar nicht... Vielleicht Kloputzer... Wenn's das gibt..."

Das Grinsen von Chris wurde breiter. "Das auf jeden Fall."
An nächsten Morgen wurde Chris ein wenig unsanft von Beny geweckt. "Hey, hey, Penntüte! Raus auf dem Bett, jetzt wird nicht mehr geschlafen!! Du versäumst noch das Frühstück!", quäkte er Chris ins Ohr und zog diesem dabei die Decke weg.

Schläfrig und verwirrt starrte Chris seinen Zellengenossen an. "W-was ist denn los?", murmelte er, während er sich den Schlaf aus den Augen rieb. Erst nach und nach erkannte er, wo er überhaupt gerade war.

"Gerade die Neuen sollte immer schön pünktlich sein, glaub mir.... Das wird sonst ziemlich unangenehm...", meinte Beny und machte sich, fertig angezogen, daran, sein Bett zu richten.

Zwar immer noch müde und recht langsam stand Chris auf, doch er nahm die Warnung ernst. "Wie viel Zeit haben wir noch?" Mit noch etwas unkoordinierten Bewegungen zog er sich seine Arbeitskleidung, die er bekommen hatte, an.

Chris' Zellengenossen guckte kurz auf die alte Plastikuhr, die an der Wand hing. "Zwei Minuten."

Die letzten Handgriffe erledigte Chris schneller, so dass er sogar fertig war, als die Tür aufgeschlossen wurde.

Beny schlenderte sofort aus der Tür, wurde aber erst von den Wachen zurückgehalten und erst mal untersucht, damit er auch keinen gefährlichen Gegenstand dabei hatte. Mit gelangweilter Mine ließ er die Prozedur über sich ergehen.

Innerlich seufzend wartete Chris, bis er an die Reihe kam und ebenfalls kurz untersucht wurde. //Ist das nicht übertrieben?// Als sichergestellt war, dass weder Beny noch er irgendetwas unerlaubtes in den Taschen hatten, konnten sie mit den anderen Gefangenen durch den Gang zum Speisesaal gehen. Chris betrachtete sie unauffällig und sein mulmiges Gefühl im Magen wuchs wieder. Sie sahen meist noch furcherregender aus als Beny und er hatte kaum Hoffnung, dass sie wie dieser trotz ihrem Aussehen harmlos waren.

Als die beiden für in der Schlange für das Essen anstehen mussten, lehnte sich Beny kurz zurück und flüsterte: "Ich würde mir so schnell wir möglich irgendwas zulegen... wie ein Tatoo oder so... Du sieht wie ein verwöhnter Bubi aus... und das können die anderen nicht so leiden."

"Aber wo soll ich denn hier ein Tatoo herbekommen?", fragte Chris leise.

Ein freches Grinsen bildete sich auf Benys Gesicht. "Nicht verzagen, Beny fragen! ...Siehst du den Bullen von einem Mann da drüben? Der mit dem linken weißen Auge?"

Chris nickte. "Ja." Er hatte eine ungefähre Vorstellung, was Beny gleich sagen würde, aber irgendwie glaube er, dass ihm das überhaupt nicht gefallen würde.

"Wenn du besonders nett zu ihm bist, tätowiert er deinen ganzen Körper... Aber ich habe es eher bevorzugt, mir etwas anzusparen und ihn einfach mit Geld zu bezahlen..."

Seine Befürchtungen wurden also bestätigt. "Muss das denn sein? Ich mag so etwas eigentlich nicht..."

"Glaub mir, ich auch nicht... Besonders bei dem Fleischklops nicht... Na ja... Hast du denn keine Kohle da?", fragte Beny und sah Chris schon ein wenig mitleidig an.

"I-ich meinte eigentlich, ich mag Tatoos nicht..." //Ich will gar nicht wissen, was der mit dem Nett-Sein gemeint hat...// Chris bekam immer weniger Appetit auf sein Frühstück, für das er sich gerade anstellte.

Nun drehte sich Beny um und sah Chris an. "...Hm... Und was ist dann mit Piercings?"

//Mama bringt mich um... // "Wenn es sich nicht vermeiden lässt..."

"So lange du keines am linken Ohr machen lässt, ist alles in Butter..."

Chris nickte. "Macht das hier jemand?" //Ich glaube kaum, dass die Häftlinge das keimfrei machen können... Mein Gott, warum muss ich so einen Scheiß haben? Es wird sich mit Sicherheit entzünden... Aber besser, als hier Ärger mit den anderen zu haben.//

"Ich kann dir ein wenig Eis und ne Nadel besorgen... aber bei dem Stecker musst du selbst gucken... Vielleicht kannst du dir ja einen in der Werkstatt machen."

"Das meinst du jetzt aber nicht ernst, oder?"

Verwirrt blinzelte Beny ihn an. "...wieso nicht?"

"Na ja..." Chris versuchte möglichst leise zu reden. "Davon kann man eine Blutvergiftung kriegen oder es entzündet sich. Außerdem ich kann mir doch nicht selbst ein Piercing stechen."

"... Du bist wirklich ein verwöhnter Bubi, was...?", stellte Beny fest und sah Chris dabei nicht mehr ganz so freundlich an, wie vorher.

//Scheiße.// "Nein, ich... ich... schaffe das einfach nicht..." Selbst in seinen Ohren klangen seine Worte genau wie die eines verwöhnten Bubis, wie Beny es auszudrücken pflegte.

Leicht genervt seufzte Beny auf und nahm sein Frühstück entgegen. "Dann werde ich es dir eben stechen."

"Ok..." Schnell nahm auch Chris sein Frühstück und eilte Beny hinterher. Die Aussicht, dass Beny ihm das Piercing stechen würde, war zwar kaum besser als die, dass er es selbst tun müsste, aber er wollte seinen Verbündeten nicht verlieren und so machte er lieber mit.

Bevor Beny jedoch auf seinen Stuhl saß, sah er wieder zu Chris. //Wie ein verschüchtertes Schosshündchen.// "Chris... Die Neuen sitzen immer an dem Tisch dort drüben...", damit zeigte er auf den Tisch in der Mitte, der noch fast leer war.

Wieder nickte Chris, auch wenn er sich dennoch etwas unwohl fühlte. Er trug sein Tablett zu dem besagten Tisch, suchte sich einen Platz aus und setzte sich. Außer ihm saßen noch drei anderem an dem Tisch, doch sie saßen relativ weit weg von ihm und Chris hatte auch keine Lust, irgendwelche neuen Bekanntschaften zu machen. //Nur zwei Wochen... Es sind nur zwei Wochen und die halte ich hier schon aus...//

18.

Nach dem Essen stand Beny gleich wieder neben Chris. "Und? Hast du das Essen runtergebracht?"

Der inzwischen etwas blasse Chris nickte. "Ging schon..." Zum einen war das Essen wirklich widerlich gewesen und zum anderen hatten seine ständigen Bedenken ihm auf den Magen geschlagen.

"Hart im nehmen, was? Die meisten Bubis übergeben sich schon beim ersten Frühstück....." Beny streckte sich und sah sich um. "Du hast Dir wirklich nicht das beste Gefängnis ausgewählt..."

Chris zuckte mit den Schultern. Was hätte er denn auch darauf erwidern können? "Kannst du mir sagen, wo ich jetzt hin muss?", fragte er leise.

"Bleib sitzen... die Wachen werden die Neuen gleich zuweisen, glaub ich...."

Also blieb er sitzen, während er sein Geschirr wieder auf das Tablett stellte. //Muss man das nicht aufräumen?//

Als Chris wieder aufsah, war Beny schon weg.

Nach ein paar Minuten tauchte ein Wachmann vor den übrigen neunen Häftlingen auf und schaute kurz in die Runde. "So... ihr seid also die neuen..... Neeson Christos... Du kommst in die Werkstatt, Gebäude vier.", sagte der Mann und überreichte Chris einen kleinen Plan, auf dem der Weg zu seinem Arbeitsplatz eingezeichnet war.

Erleichtert, weil er endlich wusste wohin er musste, stand Chris auf und folge der Anweisung. Der Weg war kurz und so erreichte Chris schon bald die Werkstatt.
Als Beny am Abend in die Zelle kam, war Chris schon halb am Schlafen, sein Tag war ganz schön anstrengend gewesen. Grinsend setzte sich Beny neben Chris und drückte ihm etwas schrecklich Kaltes auf die Stirn.

Augenblicklich zuckte Chris zusammen und rutschte etwas von Beny weg. Mit einer Hand fuhr er sich über die leicht feuchte Stirn. "Uhm... Was ist denn los?"

"Jetzt wird mal ne Runde gestochen, mein Lieber...", meinte Beny und senkte die Hand, so dass Chris das Eis in seiner Hand sehen konnte.

Chris musste schlucken. //Jetzt gleich?// Doch er wollte nicht, dass der andere ihn wieder als Schwächling sah und so kramte er in seiner Tasche, um ein kleines Stück Metall herauszuholen. "Geht das?"

Skeptisch nahm Chris' Zellengenosse das steckerähnliche Ding in die Hand und betrachtete es. "Na ja.... Du müsstest einfach ein wenig aufpassen, dass es nicht wieder rausfällt, ok?"

//Warum kann ich nicht einfach aus diesem Alptraum aufwachen?//

"Na gut... Und damit an dem Teil hier kein Schmutz ist, müssen wir es erst mal desinfizieren... Hast du zufälligerweise ein Feuerzeug da?", fragte Beny und betrachtete Chris genau. "....Wo... willst du es eigentlich jetzt haben?"

Chris zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung..." Er setzte sich auf und stand auf, um ein Feuerzeug aus seinem Rucksack zu holen.

"Na ja... Du solltest dich aber möglichst bald entscheiden.... Das Eis wartet nicht..."

"Gut... dann... in die Augenbraue." Er kam wieder zurück und legte Beny das Feuerzeug in die Hand.

"In... die Augenbraue....? Ok .... Drück dir das Eis auf die Augenbraue...." Damit gab ihm Beny das Eis in die Hand und machte sich daran, das Metallteilchen unter die Feuerzeugflamme zu halten.

Das Eis war unangenehm kalt in seiner Hand und besonders auf seiner Augenbraue. Aber wenigstens schien es wirklich zu wirken, denn die Haut wurde langsam etwas taub.

Beny dagegen hatte so seine Probleme das Metall zu desinfizieren und sich gleichzeitig nicht die Finder zu verbrennen. Nach einigen Flüchen hatte er das Teilchen auch endlich richtig präpariert. "Und? Bereit?", fragte er Chris und grinste zuversichtlich.//Mehr oder weniger... Ich wusste nicht, dass ich so wehleidig bin...// "Ja..." Das leise Zittern in seiner Stimme war deutlich zu hören.

"Ok... Dann halt mal schön still und beiss artig auf die Zähne!", befahl er jetzt schon etwas ernster und griff nach Chris' Augenbraue, um die Haut ein wenig heraus zu ziehen. "Es geht los....", murmelte Beny, während die Nadel immer näher an Chris' Haut kam.

Chris widerstand der Versuchung, den Kopf wegzudrehen, könnte aber nichts dagegen tun, dass er die Augen schloss. Sein Atem ging mit jedem Augenblick schneller und er wünschte sich nichts mehr, als dass es schon vorbei wäre.

Mit einem Ruck durchstach Beny Chris' Haut und ließ die Haut zwischen seinen Fingern dann ganz vorsichtig los. "Alles ok?... Die Nadel ist jetzt durch."

Um ein Haar hätte Chris sich die Zunge abgebissen, aber noch hatte er sich unter Kontrolle. Zittrig atmete er ein und aus. "G-geht schon...", presste er aus zusammengebissenen Zähnen heraus. "Mach weiter..."

"Ich habe jetzt erst das Loch gestochen... Dein Stecker ist ein wenig dicker als meine Nadel, es wird also noch einmal ein wenig weh tun...", flüsterte der Zellengenosse, zog mit einer schnellen Bewegung die Nadel raus und drückte Chris' Stecker rein. "Tu noch mal das Eis drauf."

Jetzt entfloh Chris doch ein nicht gerade leises Wimmern. Vor Schreck hatte er das Eis fallen gelassen, hob es aber dann wieder auf und presste es auf die nun blutende Wunde.

"Hey! Nimm das Zeug da weg! Jetzt ist es nicht mehr sauber! Warte, ich werde dir ein wenig Alk drauftun..." Beny stand sofort auf und kramte etwas in seinem Bett rum, bis er mit einer komischen Flasche wieder runterkam.

Irgendwo in Chris' Kopf kam ihm der Gedanke, dass er ein Jammerlappen war, doch leider half ihm dies Erkenntnis im Moment nicht im geringsten. Seine eine Gesichtshälfte war schon halb taub, aber trotzdem zitterte er jetzt unkontrolliert.

Beny schüttete ein wenig von der Flasche auf ein Tuch und drückte jenes dann auf Chris' Piercing. "Das wird gut desinfizieren... Also lass es drauf, ja?"

Der Alkohol verursachte ein unangenehmes Brennen, doch das fühlte er nur am Rande. Benebelt hielt Chris das Tuch fest.

Als Beny Chris' Gesichtsfarbe betrachtete, entschied er sich, erst mal mit der Hand von Chris' Augen rumzufuchteln. "Hey... Wirst mir aber jetzt nicht ohnmächtig, oder?"

Ein gemurmeltes "Hm...?" war das Einzige, was Chris antworte. Der Schmerz verblasste unnatürlich schnell.

"Hey, komm schon.... Leg dich hin und halt mal deine Haxen hoch..... Du kippst sonst wirklich noch aus den Latschen!"

Mühsam kam Chris der Aufforderung nach, zumindest wollte er es tun. Doch er war inzwischen so kraftlos, dass er sich gerade mal ein wenig bequemer hinlegen konnte.

Leicht genervt seufzte Beny auf, als er sich erhob, seine Arme unter Chris' Beine schob und diese ruckartig in die Höhe zog.

Chris machte ein erschrockenes Geräusch und riss seine inzwischen fast geschlossenen Augen wieder auf. "D-das geht wieder vorbei, oder?" Seine Stimme klang erstaunlich normal dafür, dass er sich - immer noch - dem Tod näher fühlte als dem Leben.

"Natürlich geht das wieder vorbei! Was glaubst du denn? Die Wunde wird sich schön schließen... Ich werd schon aufpassen, dass das keine perfide Infektion geben kann....."

"... Danke..." Langsam aber sicher wurde Chris wirklich übel. Zwar spürte er an seiner Augenbraue immer noch nicht mehr als ein dumpfes Pochen, doch sehr angenehm war das trotzdem nicht.

Beny krallte sich von seinem Bett das Kissen und die Decke, um beides dann unter Chris' Füße legen zu können. "So.... das hätten wir..... bleib noch ein wenig so."

Langsam schloss Chris die Augen wieder. "Hm... ok..." Er hoffte, möglichst schnell einschlafen zu können, um die schreckliche Übelkeit nicht mehr spüren zu müssen.

"Ich lass dir den Alk hier.... Trink ihn lieber nicht, der ist ziemlich hochprozentig.... Aber du musst die Wunde am Morgen und am Abend desinfizieren, hörst du?"

"Wo... woher hast du ihn?", fragte Chris schläfrig.

"Woher?" Blinzelnd wandte Beny den Kopf zu Chris. //...Immer noch kreidebleich...// "...Den bekommt man hier überall, wenn man so seine Beziehungen hat..."

//Beziehungen...// Das war der letzte zusammenhängende Gedanke, den Chris noch hatte, bevor er weiter abdriftete.
Als Chris die Augen wieder öffnete, stand er in seinem Zimmer. Er sah sich um und war froh, endlich wieder zu Hause zu sein. Dass die zwei Wochen viel zu schnell vergangen waren, registrierte er gar nicht. Langsam trat er auf seine Zimmertür zu und öffnete sie. Er wollte seiner Familie zu verkünden, dass er das Ganze endlich überstanden hatte. Doch in dem Haus war keine Menschenseele und die Eingangstüre stand weit offen. Nicht einmal jetzt fragte sich Chris nach dem Grund dafür und trat durch die Eingangstür nach draußen.

Es dämmerte, doch Chris konnte nicht sagen, ob es nun hell oder dunkel wurde. Dicke Schneeflocken tanzten in der Luft, versperrten ihm teilweise die Sicht auf die umliegenden Häuser. Auch hier schien niemand zu sein, doch als Chris auf den Boden blickte, entdeckte er Fußspuren im frischen Schnee, die aber bald wieder verblassen würden. Neugierig ging er los, um der Spur zu folgen.

Nach und nach dämmerte es ihm, wer die Fußspuren in den Neuschnee gemacht hatte, denn er kannte nicht viele, deren Schuhgröße sich um eineinhalb Größen unterschied. Er hatte ja schon immer gedacht, dass sein Bruder einfach nicht normal war und das war einer der Beweise dafür. Die Spur führte ihn schlussendlich immer näher des Stadtzentrums.

Der Weg war ziemlich lang, doch die Zeit verging schnell. In einer Gegend, die ihm gänzlich unbekannt war, hörten die Spuren plötzlich auf. Wohin war Neal verschwunden? Chris drehte sich um, überlegte, ob er vielleicht zu weit gelaufen war, doch durch das immer stärker werdende Schneetreiben waren auch seine Fußabdrücke schon fast verblasst.

Ein wenig desorientiert drehte er sich nach links und nach rechts, doch die Häuser und Geschäfte, die er sah fanden keinen Anklang in seinem Gedächtnis. //Ist das überhaupt noch meine Stadt?//, fragte er sich.

Von irgendwoher kamen dumpfe Geräusche, doch Chris konnte sie weder einordnen, noch konnte er sagen, wo sie ihren Ursprung hatten. Sie waren einfach da. Mittlerweile konnte er kaum noch mehr als ein paar Meter weit sehen, eine weiße Mauer hatte sich vor ihm aufgebaut. Verwirrt drehte er sich einmal im Kreis, doch etwas anderes als Schnee konnte er nicht erkennen.

Plötzlich schossen zwei Schatten aus dem Weiß des Schnees hervor. Sie streiften Chris nur flüchtig und waren dann schon wieder in den dichten Flocken verschwunden.

Das seltsame Erscheinen und Verschwinden dieser Schatten war dermaßen kurz, dass Chris überlegte, ob er sich das Ganze vielleicht nur eingebildet hatte. Etwas in ihm drängte darauf, es herauszufinden. Sofort lief er in die Richtung, in der die Schatten verschwunden waren, auch wenn es mehr als riskant war so schnell zu rennen, wenn man seine Umgebung kaum erkennen konnte.

Er musste sich aber nicht lange anstrengen, denn schon nach einigen Augenblicken konnte er erneut schemenhafte Umrisse erkennen. Sofort verlangsamte er seine Schritte und zu seiner Überraschung schien sich der Schneefall genau in diesem Augenblick zu vermindern, so dass er die Konturen nun als zwei Menschen deuten konnte. Zwei Menschen die er kannte, denn es handelte sich um Neal, seinen Bruder, und die andere Gestallt konnte man bei der schmutzigen Bekleidung nur als Otoko deuten.

Neal und Otoko zusammen? Das konnte doch nicht gut gehen. Chris rief die beiden, doch anscheinend hörten sie ihn nicht, denn keiner reagierte auf ihn. Seltsam, denn er selbst konnte die beiden deutlich streiten hören, auch wenn er die Worte selbst nicht verstand.

Otoko hatte seine Hände zusammengekrampft und in seinem Blick lag Hass. Erst als Chris wieder ein Stück näher trat, vermochte er die Wörter zu verstehen, die Neal dem Streuner entgegenwarf.

"Du verdammter, elender Wichser!! Es ist deine Schuld, nur deine, dass Chris im Gefängnis sitzt!" Zitternd vor Wut stand Neal vor dem anderen und war nahe daran die Kontrolle zu verlieren, während es Otoko anscheinend fast genauso ging.

Chris hatte eigentlich dazwischen gehen wollen, doch nachdem er das gehört hatte, ließ er es. Er war doch schon wieder aus dem Gefängnis entlassen worden, oder etwa nicht? Und warum nahmen ihn die beiden gar nicht wahr?

"Was kann ich dafür, wenn er zur Polizei geht?! Ich will nicht ins Gefängnis!! Ich kann dort nicht hin!!! Und nun gib mir endlich mein Geld zurück!!", keifte Otoko und griff nach Neals Hand.

Doch Neal wich dem anderen aus. "Ich verabscheue dich, du widerlicher Pisser!! Und dein Geld bekommst du erst recht nicht, das ist doch sowieso alles geklaut!" Damit zeriss der Jüngere die wenigen Geldscheine in seiner Hand, bis sie nur noch kleine Papierfetzen waren, und ließ sie in den Schnee fallen.

"Hör auf damit, Neal! Lass ihn in Ruhe." Chris ging auf die beiden zu, wollte seinen kleinen Bruder packen und ihn wegreißen, doch er griff einfach durch ihn hindurch. Jetzt erst begriff er, was das hier alles war: nichts anderes, als ein einfacher Traum.

Ungläubig starrte Otoko auf die grünlichen Papierfetzen zu seinen Füssen. Ein unheimliches, tiefes Knurren entwich Otokos Kehle, bevor er den Kopf wieder hob und blitzschnell auf Neal losging. "Du verdammtes Schwein!!! Ich habe es nicht geklaut!!! Es gehört mir!!! Verdammt! Ich hasse dich!!!"

Chris sah mit einer Mischung aus Furcht und Verwirrung zu, wie die beiden sich prügelten. Wenn er wusste, dass es ein Traum war, wieso wachte er dann nicht auf? Sein einziger Trost war, dass die Situation nicht echt und somit Neal in keiner Gefahr war... Aber wie er seinen Bruder kannte, wäre es gut möglich, dass sich sein Traum erfüllte, sollte Neal Otoko zufällig treffen.

Auch wenn es nur ein Traum war, wurde es Chris übel vor Angst, als er sah, wie der sonst so gebrechlich wirkende Otoko wie im Rausch auf seinen Bruder einschlug.

Zitternd schloss er die Augen. //Wieso hört der Traum nicht auf, wieso nicht?!// Als er plötzlich das Geräusch von brechenden Knochen hörte, sah Chris wieder auf. Der Anblick, der sich ihm bot, war grauenhaft: Neal lag schwer atmend auf dem Boden, sein Gesicht blutüberströmt. Otoko hingegen stand über dem besiegten Jungen und blickte ihn verächtlich an.

Der Drogenabhängige verpasste ihm einen letzten Tritt. "...Du hättest dich niemals mit mir anlegen sollen......" Fast geschmeidig kniete Otoko zu dem schwerverletzten Neal runter und raunte leise. "Du hättest niemals als sein Bruder geboren werden sollen, denn das bist du nicht wert..." Seufzend richtete er sich wieder auf und schlenderte langsam durch den Schnee davon. Neal würdigte er keines Blickes mehr.

Entsetzt starrte Chris Otoko hinterher. Nein, das würde niemals passieren. Dafür würde er schon sorgen. Er warf einen kurzen Blick auf Neal, aber der sah so schrecklich aus, dass Chris sich sofort wieder abwendete. Sobald er wieder aus dem Gefängnis heraus war, würde er mit Otoko reden.

19.

Es fühlte sich seltsam an, wieder den gewohnten Weg nach Hause zu gehen, seine Straße zu erreichen und schließlich vor seinem Haus zu stehen. Chris hatte sich in den letzten zwei Wochen so an den geregelten Alltag im Gefängnis gewöhnt. Trotzdem war er natürlich froh, endlich wieder draußen zu sein. Mit seinen Mitgefangenen hatte er die zwei Wochen über gar keine Probleme gehabt, was ihn irgendwie doch gewundert hatte. Aber was brachte es, wenn er sich darüber den Kopf zerbrach? Es war vorbei und er würde nie wieder dorthin zurück gehen.

Als Chris die Wohnungstür aufschloss hörte er schon seine Mutter in der Küche, aber sie rief nicht freudig nach ihm, nein, denn die einzigen Geräusche, die zu Chris drangen, waren verzweifelte Schluchzer. Wahrscheinlich hatte seine Mutter nicht einmal gemerkt, dass er nach Hause gekommen war.

Schnell zog er sich Schuhe und Jacke aus und warf seinen Rucksack in eine Ecke. Er fragte sich, warum seine Mutter weinte und hatte sich vorgenommen, es sofort herauszufinden. In der Küche entdeckte Chris sie beim Ausräumen der Spülmaschine. "Mama? Was ist denn?"

Seine Mutter gab einen erschreckten Laut von sich und drehte sich zu ihm. "C-chris....? D-Du bist wieder hier? Oh.... es tut mir so leid, i-ich wollte dich eigentlich abholen kommen... es tut mir leid......", sagte sie mit brüchiger Stimme und hielt die Hand vor den Mund.

Sofort nahm er seine Mutter in die Arme. "Schon gut, schon gut. Sag schon, was ist denn passiert?"

"Chris....!" Erneutes Schluchzen folgte, bevor seine Mutter endlich weitersprechen konnte. "Dein Bruder... E-er liegt im Koma...."

"W-was? Aber... das kann doch nicht sein..." Sofort kam Chris wieder der Traum von Neal und Otoko ins Gedächtnis. Hatte Otoko etwa schon...? Er wollte den Gedanken gar nicht zu Ende denken. "Was ist passiert?" Wenn es wirklich Otoko war, dann konnte der kleine Scheißkerl aber wirklich etwas erleben.

"I-ich weiß es nicht! D-die Polizei hat ihn in diesem dreckigen Stadtviertel in einer Nebengasse gefunden... E-er ist von irgenwelchen Sch-schlägertypen so zugerichtet worden...."

"Aha...", antwortete Chris tonlos. Er drehte sich um, blieb aber noch stehen. "Ich weiß, wer es war... Und er wird dafür bezahlen." Entschlossen ging Chris aus der Küche und verließ gleich darauf das Haus.

Seine Mutter ließ er verzweifelt und verwirrt zuhause zurück. Sie wollte ihren ersten Sohn nicht auch noch im Koma sehen, aber als sie dessen Stimme hörte, wusste sie, dass sie ihn nicht zurückhalten konnte.
//Ich muss ihn finden, ich muss ihn finden!! Diesen verdammten Scheißkerl, der meinem Bruder das angetan hat! Otoko, diesmal kenne ich keine Gnade, das schwöre ich dir!// Beinahe kochend vor Wut rannte Chris durch die Gegend, in der er Otoko vermutete und versuchte den Jungen ausfindig zu machen. Auch wenn er keine Beweise hatte, dass es der junge Drogenabhängige gewesen war, wusste er es auch so. Schließlich hatte Otoko mehrere Male gedroht, Neal etwas anzutun.

Er war schon fast eine geschlagene Stunde auf der Suche nach Otoko, als er dessen Gestalt endlich hinter eine Mülltonne zusammengekauert auffand. Die eisblauen Augen des Jungen verloren sofort ihre Trübheit und begannen sogar ein wenig zu glänzen. "C-chris....", hauchte er leise und wollte aufstehen.

Doch ehe er dazu kam, war Chris schon bei ihm und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. "Du verdammtes Schwein, was hast du dir nur dabei gedacht?! Das wirst du bereuen, das schwöre ich dir!!" Sofort schlug er weiter auf den fast Wehrlosen ein und bemerkte dabei nicht, dass sein jetziges Verhalten dem glich, was er Otoko vorwarf.

Verwirrt und total geschockt, konnte sich der blonde Junge nicht wehren, so dass die harten Schläge ihre Wirkung kein bisschen verfehlten. Wimmernd hielt er die Hände vor den Kopf. "H-hör auf!! Das tut weh!!", schrie er auf.

"Stell dir vor, genau das soll es auch!" Die jämmerliche Gegenwehr des schwächlichen Jungen nützte fast nichts und so prügelte Chris weiter auf ihn ein und ließ seine ganze Wut an ihm aus.

Bald schon mischten sich Otokos Tränen mit seinem eigenen Blut. //Hör auf, bitte, bitte hör auf!!// Er hätte nie gedacht, dass ihm sein Wunsch so sehr Schmerzen bringen könnte. Verzweifelt griff er nach Chris' Händen. "Bitte! Hör auf!"

Erschöpft und schwer atmend kam Chris sogar Otokos Bitte nach. Er blickte ihn immer noch wütend an, doch er hielt sich zurück und schlug ihn nicht mehr. "Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?", fragte er gepresst. "Wieso hast du Neal das angetan?"

Schluchzend versuchte der Geschlagene die schmerzvoll brennenden Stellen an Gesicht und Körper mit seinen Armen abzuschirmen. "...I-ich habe... d-doch g-g-gar nichts.... g-getan...", stotterte Otoko.

"Ach ja? Mein Bruder liegt im Koma, verdammt! Mach mir doch nichts vor, ich weiß, dass du es warst!!" Zähneknirschend umfasste Chris Otokos Hals. "Und dafür wirst du büßen, das schwöre ich dir!"

"Nein!! Ich hab ihm nichts getan!!", schrie der blonde Junge und umfasste Chris Handgelenke hart. "Lass mich los! Lass mich verdammt nochmal los!!" Kaum hatte Otoko es zu Ende gesagt, hatte er sich auch schon von Chris' Händen befreit. Nun wieder ängstlich zitternd wich er zurück. "...I-ich h-hab i-ihn doch g-gar nicht g-gesehen...."

"Sicher, das sagst du jetzt!" Chris ging weiter auf Otoko zu, welcher immer weiter zurückging, bis der Junge gegen eine Hauswand stieß. "Hier ist Endstation für dich... Seit ich dich kenne, läuft bei mir alles drunter und drüber und glaube mir, dafür werde ich mich jetzt bei dir bedanken!"

Panisch schüttelte Otoko den Kopf. Er wollte bestraft werden, aber nicht für etwas, das er nicht getan hatte. Er war nicht mehr so wie früher. Das war nicht der Chris, dem er seinen Wunsch geäußert hatte. Nicht nur die Kälte ließ ihn zittern, denn er hatte wahnsinnige Angst vor Chris. Er wusste nicht, was er hätte tun sollen. Wegrennen konnte er nicht, dazu war er zu schwach. "....o-onegai.... hör auf damit....." Er löste sich von der Mauer und griff nach Chris, zog ihn in seine Arme und klammerte sich an ihn.

Voller Abscheu blickte Chris auf Otoko herunter. "Wieso?", schluchzte er plötzlich leise. "Wieso hast du das getan? Er konnte doch nichts dafür."

Seinen Kopf an Chris' Schulter verbergend flüsterte Otoko mit brüchiger Stimme. "...I-ich war ....e-es nicht... I-ich h-habe deinen Bruder n-n-nicht angef-fasst...."

Chris schüttelte den Kopf. "Nein... Du musst es gewesen sein..." Langsam klang seine Stimme wieder fester. "Du bist der Einzige, der einen Grund hatte!" Wütend über sich selbst, dass er sich mal wieder von Otoko hatte einwickeln lassen, stieß er den mageren Jungen von sich. "Du Mistkerl willst doch unbedingt deine Strafe, ja? Die wirst du jetzt bekommen!"

Durch den Stoss geriet Otoko ins Straucheln und er sank auf die Knie. "...I-ich will n-nicht für e-etwas b-bestraft werden, a-an dem i-ich nicht Schuld bin!!!", schrie er erneut, doch seine Stimme versagte ihm fast den Dienst.

"Hör auf es abzustreiten!!" Chris hörte auf, sich Gedanken darüber zu machen, ob Otoko vielleicht doch die Wahrheit sagte oder dass er Neal mit seinem Verhalten kein bisschen half. Alles was er fühlte, war der verzehrende Hass auf Otoko und auch auf sich selbst, weil er seinen Bruder nicht hatte schützen können. Das Einzige, was er jetzt wollte, war Otoko weh zu tun. Und das tat er auch.
Wenig später lag Otoko keuchend am Boden. Sein ganzer Körper schien in eisigen Flammen zu verbrennen und er wusste weder wo unten noch oben war. Er schmeckte sein eigenes Blut und spürte, wie es sich warm in seinem Munde sammelte. "....H-hör...... a-au....f......", krächzte der Junge, obwohl er nicht sicher war, ob es Chris überhaupt hören würde.

Abfällig schaute Chris auf Otoko herunter. "Du hast es nicht anders verdient.", erwiderte er schwer atmend. Völlig erschöpft ließ er sich an der Wand heruntersinken und setzte sich in den nassen Schneematsch. "Du bist nur ein Stück Dreck... mehr nicht..."Mit zittriger Hand griff Otoko nach Chris Jacke. "....W-wie....so.... s-sagst du... s-so etwas... I-ich.... ich..." Hustend entledigte er sich des gesammelten Blutes in seinem Mund. "....i-ich dachte, ...d-du... s-seisst a-anders.... W-wieso....s-sagst du so e-etwas....?"

Chris zog seine Hand weg. "Du hast dich eben in mir geirrt."

Ein leises Lachen kam über Otokos Lippen, was ihn aber gleich darauf zusammenzucken ließ, da seine Rippen nicht mehr alle so waren wie sie hätten sein sollen. ".......I-ich d-dachte, i-ich könnte..... glücklich....s-sterben... d-durch dich..... A-aber d-das scheine i-ich nicht v-verdient zu haben........"

"Wie du siehst, nicht..." Langsam und erschöpft richtete sich Chris wieder auf. "Genieß die Zeit, die dir noch bleibt... Allzu lang wird sie nicht mehr sein."

Zittrig atmete Otoko ein. "...M-m-matte.... Ch-chris... V-verspri-ichst du m-mir... b-bitte.... v-verg-giss m-mich n-nicht... j-ja......? I-ich b-bitte d-dich...."

//Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht.// Zögernd betrachtete Chris Otoko. Auf einmal bekam er doch Schuldgefühle, doch jetzt konnte er es sowieso nicht mehr rückgängig machen. "Ich vergess dich nicht.", antwortete er leise und ging.
Wenn man von dem stetigen, fast hypnotisierenden Piepsen absah, herrschte eine fast unheimliche Stille in den weißen Raum. Neals Bett war von unzähligen Gerätschaften umgeben, von ihm selbst waren nur die Arme und ein Teil des Gesichts zu sehen, denn da er schwere Kopfverletzungen erlitten hatte, war fast der ganze Kopf einbandagiert.

Chris saß schon seit einer Weile auf dem Stuhl vor Neals Bett und betrachtete seinen Bruder genau. Niemand wusste, wann und ob er wieder aufwachen würde. Ein leiser Piepston, der sich ein wenig von den anderen Unterschied, ertönte plötzlich. Im ersten Moment konnte Chris ihn überhaupt nicht einordnen, doch dann fiel ihm auf, dass es sein Handy war. Schnell holte er das kleine Gerät heraus und drückte auf eine Taste. "Ja?"

"Chris! Gut dass ich dich erreiche! Wo bist du?!", fragte die Stimme seiner Mutter aufgeregt.

"Bei Neal im Krankenhaus. Was ist denn los?", fragte Chris und versuchte seine Aufregung, die er noch wegen des Vorfalls mit Otoko hatte, zu verbergen.

"Bei Neal?" Der Name ihres verletzten Sohnes ließ Chris' Fragen unwichtig werden. "Wie geht es ihm? Hat sich etwas geändert?"

"Nein, gar nichts. Leider. Warum rufst du an?"

"I-ich wollte wissen wo du bist... Du bist so schnell rausgerannt, dass ich gar nichts mehr sagen konnte.... Die Polizei hat vorhin angerufen. Sie kennen die Täter nun. Es gab Zeugen."

"Was?!" Gleich würde sie ihm sagen, dass es Otoko war. Da war er ganz sicher. "Wer ist es gewesen?"

"Sie haben es mir nicht genau gesagt.... Irgend eine Straßengang die ihnen schon immer aufgefallen ist, haben sie gesagt... Sie suchen noch nach ihnen, aber sie wissen ungefähr, wo sie sich aufhalten...."

Plötzlich fühlte er sich, als ob es im Raum eiskalt war. Seine Hände begannen leicht zu zittern und sein Hals war staubtrocken. "W-was? A-aber...", stammelte er. "...Es war nicht Otoko?"

"W-wer? Was meinst du damit?", fragte seine Mutter verwirrt.

"E-es war nicht der Penner, wegen dem ich im Knast war?" Chris Stimme wurde zum Ende des Satzes hin immer leiser. Hatte er den anderen etwa zu unrecht bestraft? Auf einmal fühlte er sich nicht mehr nur miserabel, nein, er fühlte sich mehr als schlecht. Er hatte genau das getan, was er Otoko vorgeworfen hatte.

"I-ich weiss nicht... V-vielleicht ist er mit ihnen in dieser Bande... Ich weiß es wirklich nicht. Die Polizei hat diesen Namen nicht erwähnt....... Wieso fragst du das?"

//Ich hätte ihm glauben sollen, warum habe ich ihm nicht geglaubt?// Nach kurzem Zögern antwortete er tonlos: "Ist nicht wichtig... Ich habe noch etwas zu erledigen... Bis dann..." Bevor seine Mutter noch etwas sagen konnte, legte er auf und verließ beinahe fluchtartig den Raum. Er musste seinen Fehler so gut es ging wieder gutmachen... Wenn es noch möglich war.

Als Chris aus dem Krankenhaus stürmte, schien die Kälte zugenommen zu haben, nicht nur die Kälte in der Luft, sondern auch die Kälte in Chris selbst.
Eine Viertelstunde später kam Chris völlig außer Atem wieder in der Straße an, in der er Otoko liegengelassen hatte. In der Zeit, die er im Krankenhaus verbracht hatte, hatte es wieder zu Schneien begonnen und so waren seine Fußspuren von vorhin schon wieder verschwunden. Otoko selbst war nur als kleine von einer weißen Schicht überzogene Gestalt zu erkennen und hatte sich anscheinend seit Chris ihn verlassen hatte gar nicht bewegt. Fassungslos rannte er die letzten Meter zu dem Jungen.

Der reagierte nicht auf die Geräusche, die Chris machte und zitterte leise wimmernd vor sich hin. Anscheinend war er nicht mehr richtig bei Bewusstsein.

//Mein Gott, wieso habe ich das nur getan?!// Entsetzt drehte Chris Otoko auf den Rücken und zog seinen Oberkörper zu sich. "Otoko? Hey, hörst du mich?"

Ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen drang über Otokos spröde Lippen. Nur langsam bewegte er seinen Kopf, als er Chris' Name hauchte. Er konnte es nicht glauben, war Chris wirklich zurückgekommen?

Ein leises Schluchzen entwich Chris' Kehle. "Es tut mir so leid, Otoko! Es tut mir so leid!" Vorsichtig schob er die Arme unter Otokos Beine und seine Arme, um ihn hochzuheben. "Ich mache es wieder gut, das verspreche ich."

Mit verschleierten Augen sah Otoko zu Chris hoch. ".......w-w.... w-wieso....?", stammelte er so leise, dass es Chris kaum verstehen konnte.

Langsam stand Chris mit Otoko im Arm auf. "Ich hätte dir glauben sollen, dass du es nicht warst." Er überlegte kurz, was er nun machen sollte und entschied sich, Otoko lieber zu sich nach Hause zu nehmen. Hoffentlich hatte er ihn nicht allzu schwer verletzt.

Hustend krallte sich Otoko an Chris fest. "....D-du glaubst..... m-mir...?", fragte er und auf seinen Lippen lag ein leichtes, aber müdes Lächeln.

"Ja. Ich hätte es von Anfang an tun sollen." Chris drückte den leichten Körper des anderen an sich und ging auf dem kürzesten Weg nach Hause.

20.

Dunkelheit umgab ihn. Er fühlte sich leicht, als ob er fliegen würde. Doch dann schien sich sein Körper plötzlich zusammenzuziehen. Sein Brustkorb und sein Kopf begannen zu schmerzen und seine Lungen brannten, verlangten nach Luft. Als er einatmete, wurde er sich der Wärme um sich herum bewusst und öffnete die Augen. Viel sah er nicht, aber er erkannte den Raum dennoch.

Chris war derweil in der Küche beschäftigt und machte für Otoko eine Suppe. Nachdem er heimgekommen war, hatte er den bis dahin bewusstlos gewordenen Jungen gewaschen, seine Wunden gereinigt und sie verbunden. Die blasse Haut des Drogenabhängigen hatte sich an mehreren Stellen dunkel verfärbt und sah überhaupt nicht gut aus, aber soweit Chris es beurteilen konnte, war nichts gebrochen.

//E-er hat mich zu sich nach Hause genommen......?// Leicht verwirrt blickte er auf die Verbände an seinem Körper. ".....u-und m-mich sogar v-verarztet.......?" //......Dabei dachte ich, ich könnte jetzt sterben.... d-da er mir vergeben hat.....// Ein leichter Schwindel breitete sich wieder in ihm aus, als er sich aufrichten wollte und so sank er wieder in die weichen Kissen und wartete, denn irgendwas musste ja passieren.

Bald darauf kam Chris mit einem Tablett in den Händen ins Zimmer. Als er bemerkte, dass Otoko inzwischen wach war, stellte er es hastig ab, schloss die Tür hinter sich und kam zu Otoko ans Bett. "Wie geht es dir?", fragte er sanft.

Der Gefragte ging aber nicht auf die Frage ein. "...W-wieso h-hast du mich w-wieder hierher g-gebracht....? ....H-hast d-du jetzt e-ein schlechte G-gewissen....?"

Chris nickte schuldbewusst. "Ja... Es tut mir leid, was ich vorhin getan habe..."

Erneut blickte Otoko auf seinen Verband an der Brust. ".....U-und d-deshalb.... w-willst du m-mich l-leben lassen....?"

Wieder ein Nicken von Chris. "Verzeih mir... bitte..."

Zitternd legte Otoko seine Hand auf Chris' Wange. "......H-habe i-ich dich d-denn b-beschuldigt.....?"

Beinahe ängstlich sah Chris in Otokos Augen. "... Es ist dein gutes Recht..."

"I-ich w-will d-dich a-a.... aber nicht b-beschuldigen.... N-nicht nach a-all dem, was i-ich dir angetan h-habe...."

Mit einem erleichterten Seufzen schloss Chris die Augen. "Danke..."

"I-ich könnte dich n-nicht beschuldigen... Selbst wenn ich wollte..... M-mein Herz verbietet es mir....", flüsterte Otoko und schlang die Arme um Chris.

Chris wehrte sich nicht gegen die Umarmung und beugte sich leicht über das Bett, damit Otoko sich in seinem Zustand sich nicht weiter aufrichten musste. Er behielt die Augen geschlossen, auch wenn er sich nicht so sehr wohl dabei fühlte.

"....Arigatou..... N-niemand s-sonst hätte s-so e-etwas je f-für mich getan.... J-jeder a-andere hätte mich d-dort liegen gelassen..... I-ich... l-" Doch weiter kam Otoko nicht, denn das Telefon klingelte mit einem schrillen Laut, so dass Otoko zusammen zuckte.

Vorsichtig befreite Chris sich aus Otokos Umarmung. "Moment..." Schnell holte er sein Handy aus der Tasche und drückte auf den Abhebknopf. "Ja?"

"Chris? Mann! Gut dich wieder mal zu hören! Wie geht es dir?", fragte eine Mädchenstimme.

"J-janine?", fragte Chris überrascht. In den letzten zwei Wochen hatte er überhaupt nicht an sie und Michael gedacht. Schnell fing er sich wieder. "Mir geht es ganz gut, danke."

"Schön zu hören... Wir haben uns Sorgen gemacht! War es sehr schlimm?"

"Anfangs ja, aber ich habe es überlebt..." Bis auf die kleine Narbe an seiner Augenbraue hatte er keine äußeren Anzeichen aus der Zeit im Gefängnis behalten. Er zögerte. "... Man hat Neal verprügelt, als ich weg war... Er liegt im Koma."

Eine Sekunde lang war nur Schweigen zu hören. "....O-oh... D-das tut mir echt leid! Shit! Dir bleibt echt nichts erspart. Sollen wir vorbeikommen?"

"Nein, schon ok... Ich hab gerade viel zu tun... Wir sehen uns ja am Dienstag in der Vorlesung, nicht wahr?" Der Professor hatte ihm gesagt, dass er erst dann wieder in die Uni kommen sollte, damit er sich zumindest ein wenig erholen konnte.

"Oh ok... Wenn es so ok für dich ist... Und... wenn was sein sollte, du kannst uns jederzeit anrufen, ok?"

"Sicher. Grüß Michael, ja?" Chris warf einen kurzen Blick zu Otoko, der inzwischen die Augen geschlossen hatte. //Es wäre schlecht, wenn sie ihn jetzt sehen würden... Nicht nach all dem was passiert ist...//

"Werd ich machen! Pass auf dich auf! Bye!" Janine klang sehr besorgt, aber sie wollte Chris nicht auf die Nerven gehen und hängte dann auf.

Nachdem auch er aufgelegt hatte, legte Chris sein Handy weg. "Möchtest du etwas essen?", fragte er Otoko und hoffte, dass er nicht wieder eingeschlafen war.

"E-essen...? J-ja.... gerne.... W-wenn du was da hättest...", stammelte er und lächelte leicht unsicher.

Ebenso unsicher erwiderte Chris das Lächeln. Schnell drehte er sich um und holte das Tablett, das er vorhin hineingetragen hatte. "Ich hab hier Suppe... und einen warmen Tee... Ich weiß nicht, ob du es magst." Er nahm die Schüssel und stellte sie auf seinen Nachttisch. "Kannst du selbst essen oder soll ich dir helfen?"

"N-nein, g-geht schon...." Mit einem leichten Glänzen in den Augen blickte Otoko auf das Essen. "....S-so was h-hab i-ich schon lange n-nicht mehr g-gehabt... D-danke!" Er griff nach dem Löffel und tauchte ihn in die Suppe ein. Doch weiter ging er nicht. "...I-ist das w-wirklich f-für mich......?"

"Klar." Chris' Lächeln wurde sicherer. "Du kannst sie ruhig essen."

Otoko senkte den Kopf und biss sich auf die Lippe. "D-danke... ich weiss nicht, wie ich dir jemals danken könnte... V-vielleicht sollte ich meinen Traum vergessen und dich wirklich in Ruhe lassen...." Eine Träne löste sich von den eisblauen Augen und rann über Otokos Wange.

"N-nein... Ich glaube nicht, dass ich das noch will... Ich meine, dass du mich in Ruhe lässt..." Zögernd wischte er dem anderen die Träne weg. "Ich will wieder gutmachen, was ich dir angetan habe... und das kann ich nicht, wenn du gehst..."

Doch das brachte Otoko nun wirklich zum Weinen. Er ließ den Löffel los und legte seine Hand auf seinen Mund.

"E-es tut mir leid..." Chris stellte die Schüssel weg und setzte sich zu Otoko aufs Bett. "Ich wollte dich nicht verletzen... Vorhin, da habe ich die Beherrschung verloren, aber ich verspreche dir, dass das nie wieder vorkommt." Vorsichtig küsste er Otoko auf die Stirn.

"Nein! Nein! E-es tut mir leid! D-du hast mich bestraft, aber für etwas, wofür ich nichts konnte, a-aber das wusstest du nicht! Jeder andere hätte wohl auch so gedacht! Bitte mach dir keine Vorwürfe mehr!" Schluchzend schmiegte sich Otoko an Chris warmen Körper.

Langsam legte Chris die Arme um den anderen. "Es war falsch... Du wirst nie wieder wegen mir leiden müssen..."

Langsam hob Otoko den Kopf. Seine wässrigen Augen schienen nur noch heller zu sein. Er öffnete den Mund, doch er brachte kein Wort über die Lippen. Statt dessen beugte er sich vor und berührte hauchzart mit seinen Chris' Lippen.

Chris war wie erstarrt. Weder seine Gedanken noch sein Körper gehorchten ihm und so blieb er in der Position sitzen, wie er war.

Es war nur eine Sekunde, doch für Otoko schien dieser kleine Kuss eine Ewigkeit zu dauern. Sofort zog er seinen Kopf wieder zurück und hauchte dann: "....Ich liebe dich......."

Chris schluckte trocken. "M-mich? A-aber ...wieso?"

Wieder blickten Otokos Augen Chris unsicher an. "....W-weil i-ich denke, d-dass das L-liebe ist.... o-oder n-nicht?"

"... Ich weiß es nicht..." Chris' Nervosität wuchs mit jedem Wort von Otoko. Sein Blick wanderte zu der Suppenschüssel. "... Deine Suppe wird kalt. Du solltest etwas essen..."

"....T-tut m-mir leid.... I-ich w-wollte d-dich nicht... es.... G-gomen ne....", stammelte er und sah zu der Suppe.

"N-nein... Es ist schon ok..." Chris sah Otoko unsicher an. "Es... ist ok..."

Schweigend griff Otoko nun zum Löffel und begann zu essen. Schon nach wenigen Minuten war die Suppe gelöffelt.

Chris sah ihm dabei nachdenklich zu. //Er sagte, er liebt mich... Aber wieso kommt er jetzt auf einmal damit?// Er fühlte sich unwohl bei dem Gedanken daran, aber als er sich an den kurzen Kuss erinnerte, musste er lächeln.

Leicht unsicher sah sich der blonde Junge um. "D-die... Suppe war g-gut... D-danke...."

Schnell räumte Chris die Schüssel weg und hielt Otoko die Tasse vor die Nase. "Magst du den auch noch?"

Verwirrt blinzelte Otoko in die dampfende Tasse. "W-was i-ist das?"

"Warmer Tee. Er schmeckt gut, probier ihn."

"O-ok..." Mit zittrigen Händen umschloss er die Tasse. Er genoss die Wärme, die durch die Tasse strahlte und zog sie dicht zu sich, ohne jedoch zu trinken.

Etwas verwirrt sah Chris Otoko an. "Willst du nicht?"

"D-doch...." Hastig hob er die Tasse zu seinem Mund und trank in kleinen Schlücken. Dann presste er die Tasse wieder an sich. "E-er ist s-sehr gut... d-danke.."

Nun glaubte Chris zu verstehen, was Otoko da tat. "Ist dir kalt?"

"....N-nur ein wenig....", nuschelte der Blauäugige.

Vorsichtig nahm Chris dem anderen die Tasse aus der Hand. "Das bringt nicht so viel." Er schaffte es, ein verschmitztes Lächeln auf seine Lippen zu bringen, auch wenn er sich innerlich wahnsinnig unsicher fühlte. "Ich weiß etwas besseres." Chris stand auf und kletterte über Otoko auf die andere Seite des Bettes. Hinter dem Jungen ließ er sich nieder und umarmte ihn sanft.

Aus großen eisblauen Augen starrte Otoko den größeren Jungen an. "M-macht d-dir das nichts a-aus?", fragte er mit leichtem Erstaunen in der Stimme.

"Nein...Ich kann dich doch nicht einfach hier in der Kälte sitzen lassen... Wenn dir kalt ist, ... dann wärme ich dich." Um seinen Worten etwas mehr Nachdruck zu verleihen, festigte er seine Umarmung, doch nur so weit, dass er Otoko nicht an den verletzten Stellen berührte.

Erst hatte sich Otoko noch versteift, doch dann begann er sich langsam an Chris' Körper zu schmiegen. Er erinnerte sich, dass ihn Chris schon einmal so im Arm gehalten hatte und ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippenm

//Irgendwie seltsam... Vor vielleicht drei Stunden wollte ich ihn um jeden Preis verletzen... und jetzt das hier...// Nachdenklich betrachtete er die leicht verfilzten, bleichen Haare. "Sag mal, willst du die nachher vielleicht waschen?" Er wollte Otoko nicht das Gefühl geben, dass er ihn nicht hier haben wollte, aber andererseits zog er es doch vor, wenn der andere sein Zimmer nicht zu sehr verunreinigte. Die dreckigen durchnässten Sachen des Jungen hatte er ja inzwischen schon durch Kleidungsstücke von Neal ausgetauscht.

"...J-ja.... w-wenn e-es keine U-umstände macht.....?" Otoko zupfte eine Strähne seines Haares nach vorne und betrachtete sie.

"Sicher nicht. Ich wollte dir nachher die Verbände sowieso noch einmal entfernen und Salbe draufschmieren. Es sollte immer ein bisschen feucht sein, zumindest steht das auf der Verpackung." Langsam wurde es auch Chris zu kalt. Kein Wunder, die Heizung in seinem Zimmer war während der letzten zwei Wochen abgeschaltet gewesen. Er ließ Otoko los und beugte sich vor, um sie wieder einzuschalten.

Etwas tollpatschig drehte sich Otoko zur Seite, damit Chris sich zu der Heizung vorbeugen konnte. "....O-ok..."

Nachdem er die richtige Temperatur eingestellt hatte, stieg Chris vom Bett. "Willst du so lange noch schlafen? Ich müsste noch ein wenig für mein Studium tun."

"W-warte.... W-war es sch-schlimm im G-gefängnis......?"

Chris blickte den anderen nachdenklich an. "...Anfangs, ja... aber es ging mit der Zeit..."

"I-ich h-habe A-angst vor d-dem G-gefängnis.... I-ich w-will d-dort niemals r-rein.....", stammelte Otoko mit gesenktem Kopf.

"...Ich werde nicht mehr versuchen dich dort hinzubringen.", erwiderte Chris leicht bedrückt.

"....u-und.... d-du.. w-wirst sie auch n-nicht holen?"

Ein Kopfschütteln antwortete Otoko. "...Nein."

Seufzend legte sich Otoko hin und zog langsam die Decke über sich. ".....T-tut m-mir leid, dass ich dir m-misstraut h-habe...."

"Schon ok. Wir haben beide Fehler gemacht." Chris nahm seine Tasche und packte die Unterlagen aus. Jetzt fiel ihm ein, dass er die Sachen ja eigentlich mit ins Gefängnis hätte nehmen können. Warum war er nicht früher auf diese Idee gekommen? Aber ändern konnte er es sowieso nicht mehr. Chris warf einen letzten Blick zu Otoko, dann fing er an.

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