Dies Irae –
Prolog: Die Sterne lügen nicht
Die Dunkelheit war über Howarts hereingebrochen und Mitternacht nahte. Die Sterne leuchteten hell. Es war keine einzige Wolke am Himmel. Eine klare Oktobernacht. Die Schüler waren längst im Bett, ebenso die Lehrer – nur einer saß noch hinter seinem Schreibtisch. Albus Dumbledore, der Schulleiter von Hogwarts. Nicht dass es für ihn unüblich war, um diese Zeit noch wach zu sein, aber gerade jetzt hätte er so oder so nicht schlafen können.
Im Augenblick waren auf seinem Schreibtisch etliche Sternenkarten von unterschiedlichem Vergilbtheitsgrad ausgebreitet. Sie waren teilweise in Englisch, teilweise in Latein beschriftet. Und alle zwei Minuten wühlte Albus die unterste Karte nach oben und grübelte. Dann warf er einen Blick in ein sehr altes Buch, das einst Rowena Ravenclaw, eine der vier Gründer von Hogwarts, selbst verfasst hatte, griff einen Federkiel, kritzelte etwas auf ein Pergament und holte die nächste Karte hervor. So ging es eine ganze Weile weiter.
Fawkes, Dumbledores Phönix, verfolgte die erste Zeit noch gespannt die Arbeit seines Besitzers – er hatte bemerkt, dass es etwas sehr Wichtiges und Bedeutungsvolles war, was der alte Zauberer da tat – , aber nach einer Weile wandte sich der rot-gold gefiederte Vogel ab, verbarg den Kopf in seinem Federkleid und schlief ein. Damit folgte er dem Beispiel der Porträts der ehemaligen Schulleiter, die die Wände des Büros bedeckten. Die Hexen und Zauberer in den Bildern schnarchten munter vor sich hin.
Dafür bekam Albus Dumbledore nun aber von anderer Seite Aufmerksamkeit. Der alte, braune, schäbig aussehende Sprechende Hut, der im Rundregal hinter dem Schreibtisch lag, wiegte seinen „Kopf" hin und her, während er sich ebenfalls die Karten ansah. Und jedes Mal, wenn Dumbledore etwas auf das Pergament kritzelte, nickte der Hut bedächtig.
Schließlich ließ der Professor die Feder sinken. Er überflog seine Aufschriebe und warf einen letzten Blick in das alte Buch. Er ließ die Karten und Pergamente liegen, wie sie waren, stand auf und ging zu einem kleinen, hoch liegenden Fenster mit einem Teleskop. Es war ein magisches Teleskop. Und ziemlich verstaubt. Dumbledore hatte es viele Jahre nicht mehr gebraucht – und eigentlich wünschte er sich auch, es nicht brauchen zu müssen.
Er zögerte noch einen Augenblick und griff dann nach dem Rohr, beugte sich hinunter und sah hinein. Im ersten Moment sah er nur Schwärze. Diese wurde dann aber sogleich von einem Lichter- und Sternwirbel abgelöst und Dumbledore musste heftig blinzeln, damit ihm bei diesem Anblick nicht schwindelig wurde.
Das Wirbeln wurde schließlich schwächer, das Teleskop justierte sich und die Sterne, die Albus durch das Rohr sah, schienen wie auf einem See sanft im Kreis zu treiben.
„Sternbild Andromeda," sagte der Zauberer und die Sterne verschwammen vor seinem Auge, ehe sich ein klares Bild des Sternenhimmels formte und die gewünschte Konstellation zeigte.
„Hmmm..." machte Albus nachdenklich. Eigentlich erschien ihm alles normal und er wollte schon vom Teleskop ablassen, er glaubte sich geirrt zu haben, als...
Er sah näher hin. Da war eine Art Schatten, ein planetenähnliches Objekt, das nicht weit von einem der hellsten Sterne Andromedas, Mirach, entfernt war. Es bewegte sich nicht sichtbar, aber gehörte offensichtlich nicht da hin – nicht um diese Jahreszeit. Nicht im Oktober. Nicht so kurz vor Halloween... vor Samhain...
„Sternbild Cygnus," sagte Albus ruhig. Die Sterne verschwammen wieder und das Teleskop gab wenige Sekunden später das Bild Cygnus preis. Albus hielt einem Augenblick lang dem Atem an und fixierte Deneb, den hellten Stern Cygnus' – und er seufzte. Da war er. Ein Schatten, heller als der andere, halb verdeckt. Aber er war da.
Der alte Zauberer richtete sich wieder auf. Im Bild Pegasus brauchte er erst gar nicht nachzusehen. Er wusste auch so, dass er dort das Gleiche vorfinden würde. Langsam und bedächtig ging er wieder zu seinem Schreibtisch hinüber. Abgesehen vom Schnarchen der Porträts herrschte eine beunruhigende Stille im Raum. Dumbledore ließ seinen Blick über die Bilder gleiten und überlegte, welcher dieser Zauberer ihm vielleicht einen Rat in dieser Angelegenheit geben könnten. Und er kam zu dem Ergebnis – keiner. Das war ein ziemliches Problem...
„Haben Sie etwa nicht an seine Existenz geglaubt?" fragte der Sprechende Hut.
Dumbledore sah auf. Der Hut hatte lange nicht gesprochen. Er tat es auch nur sehr selten. Der Zauberer blieb vor seinem Schreibtisch stehen und sah zum Sprechenden Hut auf.
„Hoffnung ist eine gute Sache," meinte der alte Zauberer und antwortete damit nur indirekt auf die Frage des Huts.
„Wenn ein Slytherin seine Finger im Spiel hat, ist es immer sehr ernst und gefährlich," erwiderte der Hut.
„Ich hatte immer befürchtet, dass diese Geschichten zutreffend sind, dass es diesen... Fluch wirklich gibt, aber viele haben das Ganze als Unsinn abgetan. Kein Wunder. Nach so langer Zeit. Aber..." Er sprach nicht weiter.
Der Hut nickte vor sich hin. „Aber die Sterne lügen nicht."
„Die Sterne lügen nicht," wiederholte Dumbledore langsam und setzte sich hinter den Schreibtisch, um ebenso langsam die Sternenkarten wieder einzurollen.
