Kapitel 1: Schatten
Albus Dumbledore hatte in dieser Nacht kaum eine Auge zu gemacht. Er hatte noch fast die ganze Nacht an seinem Schreibtisch zugebracht und über seinen Aufzeichnungen und dem Buch Rowena Ravenclaws gebrütet. Ein Ergebnis gab es nicht wirklich. Nur seine wachsende Sorge.
Und jetzt saß er beim Frühstück in der Großen Halle. Seine Kollegen am Lehrertisch unterhielten sich fröhlich und unwissend miteinander, die Schüler waren ebenfalls ausgelassen. Sie redeten vermutlich immer noch über das Quidditch-Spiel, das bereits vor drei Tagen stattgefunden und Gryffindor ein Stück näher an den Hauspokal gebracht hatte. Dumbledore hatte daran schon jeden Gedanken verloren. Die Erkenntnisse der vergangenen Nacht lagen ihm schwer im Magen und so brachte er es auch nicht über sich, etwas zu essen. Er nippte nur gedankenverloren an einer Tasse Tee.
„Albus, ist alles in Ordnung mit dir?" erklang Minerva McGonagalls besorgte Stimme an seiner Seite. „Du siehst etwas blass aus."
„Oh, mir geht es gut. Nur etwas wenig Schlaf," winkte er ab und zwang sich zu einem unbeschwerten Lächeln.
„Hm," machte Minerva kaum hörbar. Sie musterte ihn und wusste sofort, dass er ihr etwas vormachte. Etwas bedrückte ihn und es war ungewöhnlich, dass er sich ihr da nicht anvertraute. Die Professorin war schon versucht, ihn weiter zu fragen, aber dann entschied sie sich doch zu schweigen. Was auch immer es war – er brauchte wohl noch etwas Zeit.
Dumbledore war an diesem Morgen so abwesend, dass ihm gar nicht auffiel, wie besorgt seine Kollegin war. Er sah vor seinem geistigen Auge nur immer wieder die Sterne, die er in der Nacht durch das magische Teleskop beobachtet hatte. Und während er weiter darüber nachdachte, wanderte sein Blick unbewusst zum Gryffindor-Tisch und fixierte den 16jährigen Harry Potter. Der Junge saß bei seinen besten Freunden Hermione Granger und Ron Weasley und unterhielt sich angeregt mit ihnen. Ja, sie lachten und unterhielten sich wirklich blendend.
Dumbledore haderte mit sich, ob er den Jungen vor dem Unterricht vielleicht noch zu sich rufen und mit ihm sprechen sollte. Allerdings verwarf er den Gedanken gleich. Er hatte gesehen, was da am Nachthimmel vor sich ging und er hatte einige beunruhigende Dinge in einem 1000 Jahre alten Buch gelesen, die durchaus dazu passten, aber – aber war das genug, um einen Jungen, der schon so viel in seinem Leben hatte durchmachen müssen zu beunruhigen?
Also entschloss er sich, Harry im Augenblick nichts zu sagen. Er wollte erst noch weiter nachforschen. In der verbotenen Abteilung der Bibliothek vielleicht. Ja, das würde er tun. Und dann würde er mit Minerva McGonagall sprechen müssen. Als Hauslehrerin von Gryffindor, als seine Kollegin, als eine gute Freundin und enge Vertraute musste die Wahl einfach auf sie fallen. Im Augenblick aber...
Dumbledore erhob sich. „Wenn ich noch einen Augenblick um eure Aufmerksamkeit bitten dürfte," sagte er laut genug, um alle Schüler zum Verstummen zu bringen. „Danke." Er lächelte. Es war das erste wirkliche Lächeln, das er an diesem Morgen zustande brachte.
„Also," fuhr er in einem fröhlicheren Tonfall fort. „Halloween naht. Es sind nur noch ein paar Tage und Mr. Filch, Hagrid und einige der Lehrer werden deshalb ab morgen mit dem Schmücken der Halle und des Schlosses beginnen. Ich bitte euch, keinen Schabernack mit den Kürbissen und dem übrigen Schmuck zu treiben. Des Weiteren möchte ich euch daran erinnern, dass es den Erst-, Zweit- und Drittklässlern beim diesjährigen Halloween-Ball erlaubt ist, bis 11:00 Uhr auf dem Fest zu bleiben. Die übrigen Klassen dürfen bis zum Ende bleiben. Und vergesst nicht, dass wir euch alle in Festgarderobe sehen wollen. Anzug, Kleid oder Festrobe. Irgendwas... Gut. Das war alles. Ich wünsche euch einen schönen Tag."
Die Schüler klatschten höflich und die Halle begann sich langsam zu leeren.
Hermione Granger saß nach dem Mittagessen im Gemeinschaftsraum von Gryffindor. Wie üblich war sie in ein Schulbuch vertieft. Sie las gerade in einem der Bücher für Zaubertränke. Ihre Augen gingen dabei hektisch hin und her. Sie las so schnell sie konnte und bemühte sich, ihre übliche Gründlichkeit nicht darunter leiden zu lassen. Das Problem war nur, dass sie an diesem Nachmittag nicht nur eine Stunde Zaubertränke hatte, sondern auch noch Kräuterkunde und für letzteres wollte sie unbedingt noch ihre Hausarbeit, die wie immer um einen halben Meter Pergament länger war, als die aller anderen, noch mal durchgehen. Außerdem stapelten sich noch weitere fünf Bücher auf dem Tisch vor ihr.
„Hermione," flüsterte plötzlich eine Stimme.
Hermione sah von ihrem Buch auf und schaute sich suchend um. Auf dem Sofa saßen Seamus Finnegan und Lavender Brown, die ebenfalls Hausaufgaben machten. An den übrigen Tischen hatten sich ein paar Zweit- und Drittklässler verteilt, ansonsten war der Gemeinschaftsraum leer. Aber wer hatte sie gerufen?
„Hermione!" erklang es ungeduldiger und jetzt sah sie auch wer es war – Parvati Patil. Ebenfalls eine Sechstklässlerin. Sie stand an der Treppe, die zu den Mädchenschlafsälen führte und winkte Hermione in einer drängenden, hektischen Geste zu sich. Hermione runzelte die Stirn. Sie begriff nicht, was Parvati von ihr wollte und weshalb sie sich so komisch verhielt.
Parvati rief jetzt nicht mehr, jetzt hatte sie ja Hermiones Aufmerksamkeit, aber sie sah sie eindringlich an und gestikulierte ihr wieder zu ihr zu kommen.
Hermione schlug seufzend das Buch für Zaubertränke zu, stand auf und ging zu Parvati, die sie sofort mit auf die Treppe zu den Schlafsälen zog.
„Was ist denn los?" fragte Hermione etwas genervt. „Ich hab noch eine Menge zu tun und in einer halben Stunde beginnt Zaubertränke!"
„Jaja," winkte Parvati ab. „Das hier ist jetzt viel wichtiger," erklärte sie und zog Hermione mit in ihren gemeinsamen Schlafsaal.
„Was ist denn nun? Und warum konntest du nicht im Gemeinschaftsraum mit mir reden?"
„Das geht die Kleinen nichts an," erklärte sie und meinte damit natürlich die Zweit- und Drittklässler, die sich im Gemeinschaftsraum aufhielten.
Hermione schüttelte verständnislos den Kopf. „So wie du dich aufführst, könnte man ja fast meinen, es geht um Leben und Tod."
„Hermione," begann Parvati in belehrendem Tonfall. „Das hier ist unglaublich wichtig. Es geht immerhin um den Halloween-Ball."
„Was?!" entrüstete sich Hermione. „Du willst nur über diesen blöden Ball reden und holst mich dafür von meinen Hausaufgaben weg? Bist du verrückt?"
„Das ist nicht nur ein irgendein Ball!" Jetzt wurde auch Parvati lauter. „Bei Merlin – du bist doch auch ein Mädchen. Es gibt doch bestimmt auch jemanden, dem du gefallen willst!"
Hermione schrak leicht zusammen. Jungs. Es ging natürlich um Jungs – und Parvati würde bestimmt gleich anfangen, ihr ihre diesbezüglichen Pläne zu erzählen und Hermione bei der Gelegenheit gleich ausfragen. Das war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. „Parvati, ich muss jetzt wirklich mit meinen Aufgaben weitermachen," begann Hermione und ging zur Tür.
Parvati stellte sich ihr in den Weg. „Hermione, mehr als auswendig lernen, kannst du diese dämlichen Bücher nicht! ... Außerdem brauche ich deine Hilfe." Parvati legte den Bitte-Bitte-du-bist-doch-meine-beste-Freundin-Blick auf.
Hermione seufzte. Sie legte nicht wirklich viel Wert auf den Kram, mit dem Parvati sie gleich nerven würde, aber sie musste zugeben, dass ihre Mitschülerin in einer Hinsicht Recht hatte – sie kannte wohl tatsächlich fast das ganze Zaubertränke-Buch – so wie alle anderen – auswendig. Und außerdem würde Professor Snape sie so oder so wieder in die Pfanne hauen und Gryffindor würde wieder Punkte verlieren, anstatt zu gewinnen. Also konnte Hermione auch bei Parvati bleiben und sich anhören, was sie zu sagen hatte. „Na schön," willigte sie schließlich ein und setzte sich auf ihr Bett.
Parvati strahlte jetzt über das ganze Gesicht und setzte sich Hermione gegenüber auf ein Bett und lehnte sich zu ihr vor. „Danke! Du bist die Beste!"
„Also, was ist es? Willst du, dass ich mit dir ein Kleid für den Ball einkaufen gehe? Wenn ja, wirst du nicht viel Glück haben. Von Klamotten, Make-up und diesem Zeug verstehe ich nicht viel. Hm, eigentlich gar nichts..." sprudelte es aus ihr hervor, so dass Parvati gar nicht zu Wort kam. „Und falls Lavender und du euch in den Kopf gesetzt habt, mich für den Ball zu stylen oder so was in der Art, dann sag ich euch gleich, dass ich da nicht mitspiele –" Weiter kam sie nicht.
„Hm," machte Parvati nachdenklich. „Keine schlechte Idee!" ...und erntete damit einem Bösen Blick von Hermione. „Eigentlich geht es darum, dass du mir helfen sollst, einen bestimmten Jungen als Begleiter für den Ball zu kriegen," erklärte sie schließlich zögernd.
„Oh," entfuhr es Hermione überrascht. Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Sie war jetzt eigentlich recht verwirrt, denn warum sollte Parvati, die ja nun wirklich nicht auf den Mund gefallen war, ausgerechnet sie, Hermione Granger, den Bücherwurm, in einer solchen Angelegenheit um Hilfe bitten?
„Ja..." sagte Parvati und wurde plötzlich etwas nervös, was Hermione noch mehr irritierte. „Also... na ja..." Ihre Wangen färbten sich rosa.
Hermione sah sie nur verblüfft an. Sie hatte Parvati wohl noch nie dermaßen verlegen erlebt. „Ja, wer ist es denn nun?"
„Kannst du dir das nicht denken?"
„Nein," erwiderte Hermione mit verwirrten Kopfschütteln.
„Harry...," sagte Parvati fast stimmlos und etwas lauter: „Harry Potter."
Hermione klappte der Mund leicht auf, ihre Augen wurden größer und sie saß einige Sekunden wie versteinert da. Harry. Harry Potter. Parvati Worte klangen in ihren Ohren. Ihre Gedanken überschlugen sich fast. Parvati und Harry? Sie war versucht den Kopf zu schütteln. Parvati war in Harry verliebt?
Parvati hatte sich nie etwas davon anmerken lassen. Mehr noch – sie war ja im 4. Schuljahr mit Harry auf dem Weihnachtsball gewesen, als dieser keine andere Partnerin gefunden hatte und hatte sich nur ständig über Harrys mangelnde Tanzbereitschaft beschwert. Was Hermione aber fast noch mehr verwirrte, war dieses seltsames Gefühl, das bei dem Gedanken „Harry und Parvati" in ihr aufstieg.
„Also, ähm, würdest du mir helfen?" fragte Parvati nervös. „Ihn fragen, mit wem er zum Ball gehen will, ihn vielleicht ein bisschen... lenken oder so... mich mal erwähnen?"
Hermione hatte sich immer noch nicht ganz gefasst. „Ähmmm... ja," brachte sie schließlich heraus. „Ich seh' mal was ich tun kann." Sie starrte abwesend vor sich hin, während sie aufstand. „Wir sehen uns in Zaubertränke. Ich muss jetzt noch meine Aufgaben fertig machen."
„Ist gut!" rief ihr Parvati glücklich hinterher.
Zaubertränke war an diesem Tag wieder der ganz normale Horror gewesen. Professor Snape hatte seinen typischen düsteren Blick aufgelegt gehabt und den Slytherins ihre Schlamperein und den Unsinn, vor allem die Streiche für die Gryffindor-Schüler, durchgehen lassen – und im Gegenzug natürlich Neville aufgrund eines weiteren geschmolzenen Kessels zusammengestaucht und Hermione nach einer zu guten Antwort auf eine Frage den Rest der Stunde ignoriert. So hatte Slytherin nach dieser Stunde 20 Punkte mehr und Gryffindor hatte wenigstens keinen weniger, denn die Punkte, die Snape Neville abgezogen hatte, hatte Hermione zuvor ja schon zurückgeholt. So war Snapes Laune noch tiefer, als in den tiefsten Kerker gesunken und Neville war wieder zu einem Nervenbündel geworden. Nur die Tatsache, dass nun Kräuterkunde war und er hier nach Hermione Klassenbester war, hielt ihn davon ab, sich irgendwo zu verkriechen.
„Sehr gut, Mr. Longbottom," strahlte Professor Sprout. „10 Punkte für Gryffindor... Und," begann sie finster mit einem genervten Blick zu Draco Malfoy und seinen Anhängseln Crabbe und Goyle, „10 Punkte Abzug für Slytherin. Ich weiß nicht, ob es Ihnen vielleicht entgangen ist, Mr. Malfoy, aber diese besondere Gattung der nachtblühenden Mohnblume dient zur Herstellung eines starken Schlaftranks und das Dornen-Ausrupfen, das Sie gerade betreiben, verhindert die Ausbildung der darunter liegenden Schutzhaut, in der sich Dorma-Stoffe unter dem Schutz dieser Dornen bilden können." Sie musterte Dracos fast kahlstängelige Pflanze. „...oder hätten bilden sollen. Vielleicht täten Sie gut daran, meinen Ausführungen etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken."
Während Draco wie ein begossener Pudel dastand, die Lippen zusammenpresste und Professor Sprout mit seinem Wenn-das-mein-Vater-erfährt!-Blick bedachte, hatten sämtliche Gryffindor-Schüler die größte Mühe, sich ein Grinsen oder gar ein lautes Loslachen zu verkneifen – und da waren sie nicht die einzigen. Unbemerkt von den beschäftigten Schülern und auch unbemerkt von Professor Sprout stand Albus Dumbledore im Eingang des Gewächshauses. Er schmunzelte über das eben Geschehene. Allerdings wurde diese Amüsiertheit von einem sorgenvollen Blick überschattet, mit dem er Harry Potter bedachte. In seinen Händen hielt er das von Rowena Ravenclaw verfasste Buch, das er schon den halben Tag mit sich rumschleppte – wobei er eigentlich gar nicht genau wusste, warum er das tat. Vielleicht, so dachte er, hatte ihn sein Unterbewusstsein dazu gedrängt... und vielleicht, dachte er weiter, sollte er diesem Drängen nachgeben und endlich Minerva McGonagall aufsuchen.
