Dies Irae –

Kapitel 2: Look at the stars

Minerva McGonagall sah erleichtert auf, als ihr Freund und Kollege Albus Dumbledore ihr Büro betrat. Sie war seit seinem merkwürdigen Benehmen beim Frühstück ziemlich besorgt um ihn gewesen und nun sehr froh, dass er zu ihr kam. Er hatte noch kein Wort gesprochen und wie ein großes, wandelndes Geheimnis das Turmzimmer betreten, aber die Professorin wusste, dass er gekommen war, um sich ihr anzuvertrauen und dieses Etwas, worum es ging, mit ihr zu besprechen. So, wie es schon so oft der Fall war. Der Unterschied war diesmal nur, dass Dumbledores Miene so große Sorge und Ratlosigkeit aufwies, wie es höchstens in den dunklen Zeiten während Voldemorts Herrschaft der Fall gewesen war.

„Hast du heute Nacht mal den Sternenhimmel angesehen?" fragte Dumbledore mit seltsamen Unterton in der Stimme.

„Den Sternenhimmel?" wiederholte McGonagall überrascht. Natürlich hatte sie erwartet, dass der Professor sofort mit der Tür ins Haus fallen würde – es war nicht seine Art, lange um den heißen Brei herumzureden –, aber was hatte diese seltsame Frage nun zu bedeuten? „Nachts schlafe ich für gewöhnlich," erklärte sie trocken und verbarg ihre Irritation.

Dumbledore trat an McGonagalls Schreibtisch heran und legte das alte Buch, das er schon den ganzen Tag mit sich herumtrug, vor seine Kollegin. Ein Blick genügte – sie erkannte sofort, worum es sich handelte. Allerdings begriff sie den Zusammenhang nicht.

„Wird das eine Schnitzeljagd oder erklärst du mir freiwillig, warum du mich erst nach den Sternen fragst und mir dann dieses Buch vorlegst, Albus?"

„Was sagt dir der Begriff ‚Nemesis'?" erwiderte Dumbledore ruhig.

„Nemesis ist das griechische Wort für Rache. Im alten Griechenland gab es die Göttin Nemesis, die die Menschen, die gesündigt hatten, bestrafte," erklärte sie. Dann machte sie eine hilflose Geste. „Aber worauf bitte willst du denn hinaus?"

„Wenn du das Buch hier kennst, solltest du es eigentlich wissen."

„Albus," begann Minerva und machte sich nicht die Mühe die Ungeduld in ihrer Stimme zu verbergen. Sie stand auf. „Wenn du gekommen bist, um ein dummes Ratespielchen mit mir zu spielen – dafür bin ich jetzt wirklich nicht in Stimmung. Ich hatte beim Frühstück, dass Gefühl, dass dich etwas bedrückt und dass du jetzt vielleicht gern mit mir darüber reden würdest, aber –"

„Minerva", unterbrach sie der alte Zauberer. „Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht verärgern. Es ist nur..." Er seufzte.

Professor McGonagall sagte jetzt nichts. Sie hatte nicht erwartet, dass es ihm so schwer fallen würde, über das zu reden, was ihn so sehr mitnahm. Es musste etwas sehr Bedeutsames sein, womöglich sehr gefährlich – und etwas, das ihn in eine schwierige Lage brachte, ihn möglicherweise auch zu einer hilflosen Randfigur machte, die nichts tun konnte.

Wie Minerva diesen Gedanken so weiterspann, begann sie langsam zu verstehen. Dieses Verhalten war für Dumbledore tatsächlich neu, so neu wie die Ursache. Und sie war sich sicher, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag. Es musste etwas auf sie zu kommen, in das Albus Dumbledore nicht im geringsten eingreifen konnte. Bisher hatte er immer handeln können. Im Kampf gegen Voldemort hatte er auch an vorderster Front gestanden... Voldemort? überlegte Minerva.

Sollte es etwa mit ihm zu tun haben? Das konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen – das hätte Dumbledore sonst bereits erwähnt. Er war immerhin der Letzte, der Angst vor dem Voldemort hatte. Schon gar nicht vor seinem Namen.

„Voldemort ist es zur Abwechslung mal nicht," sagte der Professor und riss Minerva aus ihren Gedanken.

Die Professorin war sichtlich überrascht, aber sie sagte nichts. Sie nickte nur. Eine Unart dieser Zeit, dachte sie. Immer wenn etwas Schreckliches geschah oder sich anschickte, zu geschehen, war der erste Gedanke eines jeden – Voldemort. Angesichts der Vergangenheit der Zauberwelt ein logischer Schluss, aber ein Trugschluss.

Aber – Tom Riddle war der Erbe Slytherins," fuhr der alte Zauberer fort. „Und meine Sorge gilt der Tat eines Slytherins. Einem Vorfahren Toms."

Dumbledores Aussage stürzte Minerva McGonagalls Gedanken wieder in Ungewissheit und Verwirrung. Gerade hatte sie geglaubt, zu verstehen, was los war – und nun das. In diesem Augeblick fielen ihr nun etliche Fragen ein, aber ihr wurde sofort klar, dass ein einzige Frage, ein einziges Wort, genügte. „Wer?"

„Feyt Slytherin," lautete die richtige Antwort auf die richtige Frage.

Minervas Lippen öffneten sich und sie sah Dumbledore mit einer Mischung aus Schock, Überraschung, Irritation – und Verstehen an. Sie ließ sich in ihren Sessel zurücksinken und blieb einige Augenblicke unbewegt sitzen, ehe sie das alte Buch vorsichtig aufschlug und von einer Sekunde zur anderen genau wusste, warum Dumbledore es hergebracht hatte.

„Ganz genau," nickte Dumbledore, als Minerva kurz darauf auch schon eine bestimmte Seite aufgeschlagen hatte.

Ein blauer, handgeschriebener, in Latein verfasster Text umfloss eine Zeichnung dreier orange gezeichneter Sternenkonstellationen. In jeder war ein Stern rot hervorgehobenen. Die drei roten Sterne waren im selben Farbton zu einem Dreieck verbunden.

Minerva sah schweigend auf die aufgeschlagene Seite. Sie las den Text nicht. Sie kannte ihn bereits. Dumbledore senkte den Blick und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. Er machte ein paar Schritte zum Fenster schräg hinter Minervas Schreibtisch und sah hinaus. Einige Augenblicke herrschte vollkommene Stille.

Schließlich drehte sich die Professorin in ihrem Stuhl zu Dumbledore. „Bist ist du dir vollkommen sicher? Es ist nur eine Legende. Ein Märchen."

Dumbledore sah sie ernst an. „Das war ‚Die Kammer des Schreckens' auch."

Minerva biss sich auf die Unterlippe. „Harry Potter?"

„Sehr wahrscheinlich," erwiderte Dumbledore leise. „Mit Blut hat es begonnen, mit Blut wird es enden," übersetzte er eine Passage des Textes.

McGonagall schüttelte den Kopf. „Das kann nicht wahr sein. Das darf nicht wahr sein... oh, Albus," flüsterte mit zitternder Stimme, „hat der Junge denn nur überlebt, um nun aufgrund dieser Prophezeiung zu sterben?" Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte erneut den Kopf. Sie weigerte sich, es hinzunehmen, es zu glauben. „Aber... aber er hat die Kammer überlebt und mehr als eine Begegnung mit Voldemort persönlich. Sein Wille und seine Kraft haben immer ausgereicht. Und er hat zwei treue Freunde, die ihm immer beistehen..."

„Es ist nicht klar, was genau geschehen wird, aber der Bewegung der Sterne nach, wird es an Halloween geschehen."

„Wir könnten die Schüler, vor allem die Gryffindor-Schüler, nach Hogsmeade oder nach London in die Winkelgasse bringen. Irgendwohin, wo genug erwachsene, erfahrene Zauberer sind, um sie zu schützen."

„Der Ort spielt keine Rolle, Minerva. Oder zumindest nur eine untergeordnete Rolle... das hier ist ein Rache-Fluch. Ein realer Fluch, der sich vor allem gegen das Haus Gryffindor, aber auch gegen ganz Hogwarts richtet." Dumbledore trat an den Schreibtisch heran und blickte auf die Zeichnung im Buch. „Rowena Ravenclaw hat sich soviel Mühe gegeben und alles, was sie darüber wusste in dieses Buch der Prophezeiungen eingearbeitet, aber..."

„Aber keiner hat wirklich daran geglaubt," beendete Minerva seinen Satz. Sie stand auf und sah Albus direkt an. „Und ehrlichgesagt wundert es mich auch nicht im Geringsten. Dieses Buch," gestikulierte sie, „ist eine Sammlung von Flüchen, Prophezeiungen und Legenden. Nicht einmal die Hälfte ist wahr."

„Aber auch von einer gewissen geheimen Kammer ist darin die Rede – und keiner hat daran geglaubt, bis es zu spät war. Eine gewisse Arroganz unter den Zauberern tat und tut Drohungen und Flüche jener Zeit als übertriebe Märchengeschichten ab. Jetzt holen uns die Folgen ein."

„Sollten wir nicht das Ministerium und das Lehrerkollegium davon unterrichten? Drei Tage sind nicht gerade viel Zeit, aber dann sind wir wenigstens nicht ganz unvorbereitet."

„Und wie willst du dich vorbereiten? In diesem Buch steht nicht, ob ein weiteres Monster die Schüler angreifen wird oder ob auf einmal das ganze Schloss in sich zusammenstürzen soll. Alles was wir wissen, ist dass Slytherins Tag der Rache an Halloween ist. Wenn die Sterne richtig stehen."

„Wirst du nun das Ministerium davon in Kenntnis setzen oder nicht?"

„Nein."

„Warum nicht?"

„Sie haben nie an diesen Fluch geglaubt und werden es jetzt auch nicht," erklärte der Professor. „Und seien wir doch mal ehrlich – entweder wir werden alleine damit fertig oder außer uns sterben noch jede Menge fähiger Auroren."

„Deine Entscheidung. Du bist der Schulleiter."

Während des Abendessens schwebten schon die ersten Kürbisse an den Decken und die Hausgeister schwebten vergnügt umher. Halloween war ihr Fest. Das Fest der Toten. An diesem Tag sagte auch keiner etwas gegen ihre Streiche. Selbst Peeves' makabere und manchmal nicht ganz ungefährliche Scherze wurden an diesem einen Tag im Jahr widerspruchslos geduldet. Auch wenn keiner Lust hatte, mit Wasser oder gar Schleim überdeckt zu werden oder etwas weitaus Schlimmeres. In diesem Jahr allerdings wäre es der 16jährigen Hermione Granger tausendmal lieber gewesen, Opfer eines solchen Streichs zu werden, als für Parvati Patil die Liebesbotin zu spielen. Schon gar nicht bei Harry Potter.

Parvati und Harry, schoss es ihr immer wieder durch den Kopf. Als Parvati sie um Hilfe gebeten hatte, war sie erst mal nur überrascht gewesen, aber schon im nächsten Augenblick hatte sich da ein Gefühl eingeschlichen, dass sie nicht so recht hatte einordnen können – jetzt wurde es aber langsam klarer. Sie hatte es Parvati versprochen und sie wollte ihr Versprechen ja auch nicht brechen, nur... Sie wollte nicht, dass Parvati und Harry zusammen auf den Ball gingen. Und schon gar nicht, dass sie dadurch – danach – ein Paar werden könnten.

Hermione versuchte diese Gedanken damit zu rechtfertigen, dass Parvati Harry gar nicht gut genug kannte, dass sie es wohl einfach toll finden würde, mit jemandem, der berühmt war, zu gehen und dass die beiden im Grunde gar nichts gemeinsam hatten...

„Schätzchen, wenn du noch länger Löcher in die Luft starrst, wird dich noch eines davon verschlucken."

Hermione sah erschrocken auf und merkte plötzlich, dass sie wohl schon eine ganze Weile vor dem Portrait der Fetten Lady, die den Eingang in die Räumlichkeiten der Hauses Gryffindor bewachte, stand. Die gemütliche, beleibte Frau sah Hermione mütterlich an.

„Damokles," murmelte Hermione und das Portrait schwang zur Seite. Aber sie blieb unbewegt stehen.

„Was hast du denn Liebes?" fragte die Lady und das Portrait schwang wieder zu.

„Parvati möchte, dass ich sie und Harry zusammenbringe," antwortete sie, obwohl sie es eigentlich gar nicht sagen wollte.

Die Fette Lady lächelte verträumt. „Haaach ja, die Liebe..."

Hermione verzog nur leicht die Mundwinkel und erwiderte nichts.

„Ohhh," machte die Lady. „So ist das!"

„Was meinen Sie?"

Die Lady lächelte wissend. „Pass nur auf, Liebes. Verrenn' dich nicht in etwas, wo du nur mit einem gebrochenen Herzen wieder raus kommst."

Hermione schrak leicht zusammen. „Ich weiß nicht, was Sie meinen," erklärte sie hastig. „Damokles!" Und kaum hatte sie das Passwort genannt, war sie schon in der Öffnung hinter dem Portrait verschwunden.

Die Fette Lady seufzte nur und schüttelte den Kopf. „Warum machen es sich diese Kinder immer nur so schwer..."