Dies Irae –

Kapitel 4: Jagdsaison

Das Gespräch mit Minerva McGonagall hatte Albus Dumbledore gleichermaßen beruhigt, als auch noch besorgter um Hogwarts' Schüler gemacht. Es beruhigte ihn, dass die Professorin nun wusste, was mit ihm los war und was der Schule drohte – aber es beunruhigte ihn, dass auch ihr keine Möglichkeit eingefallen war, etwas gegen diesen Fluch zu unternehmen. Es wäre vielleicht kein ganz so großes Problem, wenn sie nicht nur zwei Tage hätten, um eine Lösung zu finden, eine Verteidigung aufzubauen – aber die Zeit war in diesen Tagen zu ihrem größten Feind geworden. Sie arbeitete gegen sie. Halloween nahte unaufhörlich.

 Die Große Halle wurde mittlerweile von Mr. Filch, Professor Flitwick und Professor Sprout mit Kürbissen aller Größen geschmückt und die Schüler hatten extrem gute Laune. Festlaune. In den Gängen gab es kaum ein Gespräch, dass nicht davon handelte, wie man wen erschrecken könnte oder wer mit wem zum Ball gehen und was tragen würde.

Es gab nur sieben Schüler, denen Halloween jetzt schon der reinste Horror war. Hermione Granger war wütend auf sich selbst, dass sie sich von Parvati Patil als Vermittlerin hatte einspannen lassen, Harry Potter und Ron Weasley hatten keine Lust auf den Ball und auch noch keine Begleiterinnen, Ginny Weasley saß Trübsal blasend herum, weil niemand sie einlud, Draco Malfoy war von den Slytherin-Mädchen genervt, die alle darum buhlten, dass er sie als Begleiterin zum Ball einlud – und dann waren da noch Malfoys „Bodyguards", Vincent Crabbe und Gregory Goyle, die wandelnden Tonnen mit dem IQ einer Haarbürste, die lieber die Küche plünderten, als sich mit Mädchen abzugeben (die eh nichts von ihnen wissen wollten).

Ron Weasley saß gelangweilt und genervt auf dem Sofa vor dem großen Kamin im Gemeinschaftsraum von Gryffindor. Er starrte in die Flammen und verzog das Gesicht.

„Du brauchst gar nicht so zu schmollen," erklärte seine Schwester Ginny mit verschränkten Armen und baute sich neben ihm auf. „Immerhin könntest du eine Tanzpartnerin finden, wenn du endlich mal den Mut fändest, ein Mädchen zu fragen! Ich dagegen hätte Grund mich zu verkriechen – der, mit dem ich gern hingehen würde, macht nicht die geringsten Anstalten mich zu fragen und sonst will mich auch keiner als Begleiterin!"

Ginny funkelte ihn böse an, machte auf dem Absatz kehrt, stürmte aus dem Gemeinschaftsraum davon und verfluchte einmal mehr die Tatsache, dass sie die Jüngste und einziges Mädchen unter sieben Geschwistern war. Klar, dass sich keiner traute, sie zum Ball einzuladen – sie hatte sechs große Brüder, auch wenn sich gerade nur einer davon in Hogwarts befand.

Während Ginny mit diesen Gedanken und einem Lasst-mich-bloß-in-Ruhe-Gesichtausdruck durch die Gänge von Hogwarts lief, gesellte sich plötzlich ein neuer Gedanke dazu. Abgesehen von einem Begleiter hatte sie auch kein Ballkleid oder einen Festumhang. So nahm sie sich in diesem Augenblick zu ihrer eigenen Überraschung vor, nicht auf den Halloween-Ball zu gehen und diese Tatsache als Begründung aufzuführen. Außerdem beschloss sie dazu noch, einfach keine Lust mehr auf den Ball zu haben.

„Ist doch nur ein blöder Ball," murmelte sie vor sich hin.

„Führst du jetzt schon Selbstgespräche, Weasley?" erklang die selbstgefällige Stimme von Draco Malfoy.

Ginny blieb wie angewurzelt stehen und rollte mit dem Augen. „Lass mich in Ruhe, Malfoy." Ihr gelang es allerdings nicht genug ernsthafte Schärfe in diese Worte zu legen. Es klang eher müde und deprimiert.

„Ah – verstehe," grinste er überheblich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Potter hat dich wieder mal von der Bettkante gestoßen, was?"

Normalerweise wäre Ginny bei einer solchen Bemerkung hochrot und stocksauer geworden – aber jetzt... in diesem Augenblick herrschte diese seltsame Bleierne in ihren Kopf. Und Malfoys Worte waren ihr egal. „Such dir doch jemand anderen, den du beleidigen kannst. Ich bin heut nicht in Stimmung," erklärte sie in einer seltsamen Mischung aus Schärfe und Gleichgültigkeit. Ohne ihn weiter zu beachten, ließ sie ihn dann mit sichtlich irritierter Miene zurück.

Draco stand da und sah Ginny nach. Er konnte nicht glauben, was da gerade passiert war. Er konnte nicht verstehen, was mit Ginny los war. Sonst hatte er sie immer so herrlich mit dem Thema „Harry Potter" ärgern können – und jetzt? Sie ignorierte ihn einfach. Das war nicht normal.

Ohne zu verstehen, warum, setzte er sich plötzlich in Bewegung und betrat den Gang, durch den Ginny verschwunden war.

Hermione lächelte, als sie zum Quidditchfeld von Hogwarts kam. Hoch oben in der Luft schwebte die gesamte Mannschaft von Gryffindor in der Luft. Harry war natürlich auch dabei. Wo auch sonst hätte er sein sollen, wenn kein Unterricht war? Vor allem jetzt, da er Team-Captain war.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Hermione ständig versucht hatte, Harry dazu zu bringen lieber mal in die Bibliothek zu gehen und etwas für den Unterricht zu tun, anstatt soviel zu trainieren – inzwischen war ihr aber längst klar geworden, dass Harry und Quidditch so sehr zusammengehörten, wie das Meer und der Strand. Und das Bild, das sich ihr gerade bot, war einfach die natürliche Ordnung der Dinge, eine Sache des Herzens...

Hermione atmete tief ein und wünschte sich, das nicht gedacht zu haben, denn sofort auf diesen Gedanken folgte die Erinnerung an das, was sie Parvati versprochen hatte – weswegen sie zum Quidditch-Stadion gekommen war – und die Worte der Fetten Lady.

Hermione presste die Lippen aufeinander und schloss einen Augenblick fest die Augen. „Los jetzt," befahl sie sich selbst und betrat den Rasen des Stadions, über dem die Spieler etwa 20 Meter hoch in der Luft waren. Hermione sah nach oben. „Hey, großer Captain, muss ich erst auf einen Besen steigen oder kommst du freiwillig runter?" neckte sie.

Die Mannschaft kicherte und begann zu tuscheln, wie sie es immer taten, wenn Ron und Hermione oder gar nur Hermione, der sie ja schon längst eine Beziehung mit Harry angedichtet hatten, beim Quidditch-Training auftauchte, um mit Harry zu sprechen.

Harry seinerseits war schneller bei Hermione am Boden, als sie blinzeln konnte. Inzwischen hatte sie sich an diese Blitzauftritte gewöhnt, zuckte aber immer noch leicht zusammen.

„Ist was passiert?" fragte er ernst, worauf er aber schief zu grinsen begann. „Oder willst du in die Mannschaft eintreten?"

„Oh sicher doch," erwiderte sie scherzend. „Ich werde dann Sucherin und neuer Captain und schmeiß dich dann in spätestens zwei Wochen raus." Ihr Lächeln begann zu verblassen. „Nein, ich wollte etwas mit dir besprechen. Kommen die da oben ne Viertelstunde allein klar?"

„Keine Angst, wir zerlegen schon nicht das Stadion!" rief Alexia Barrows, die Hüterin aus der vierten Klasse.

Hermione schüttelte den Kopf. „Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, Gespräche anderer zu belauschen?"

Alexia grinste sie herausfordernd an. „Meine Mutter hat mir beigebracht, dass es unerlässlich für die Gerüchteküche ist, Gespräche zu belauschen."

Hermione und Harry konnten nicht anders, als bei dieser Bemerkung schmunzeln. Alexia war die perfekte Nachfolgerin der Weasley-Zwillinge – frech, witzig, beliebt... und verdammt unverschämt.

Ohne ein weiteres Wort gingen sie gemeinsam einige hundert Meter vom Quidditch-Feld weg und beobachten einige Augenblicke schweigend, die rot-gold gekleideten Spieler auf ihren Besen, die nun in der Luft hin und her wetzten und mit ein paar Quaffeln trainierten.

„Also, um was geht's? Und wo hast du Ron gelassen?" fragte Harry nach einer Weile.

„Der ist im Gemeinschaftsraum, versucht sich vor den Hausaufgaben für Verwandlung und Zaubertränke zu drücken und murmelt dauernd vor sich hin, dass er den Halloween-Ball hasst," lachte Hermione. „Ich weiß gar nicht, was er hat," fuhr sie fort. „wenn er mal den Mut hätte Padma zu fragen, hätte er im Handumdrehen eine Partnerin."

„Padma Patil?" wiederholte Harry erstaunt. „Die Padma, mit der er damals auf dem Weihnachtsball war und die stocksauer war, weil er nicht mit ihr tanzen wollte?"

„Genau die," bestätigte Hermione. „Parvati meinte neulich, ihre Schwester sei total in ihn verschossen."

Harry musste unwillkürlich lachen. „Wow..."

Hermione spürte, dass ihr die Blässe ins Gesicht stieg. Parvati. Sie waren schon beim Thema. Sie musste ihm jetzt nur noch sagen, dass...

„Geht's dir nicht gut? Du siehst so blass aus," unterbrach Harry ihren Gedanken.

„Alles okay," winkte sie schnell ab. „Nur leichte Kopfschmerzen." Sie rang sich ein Lächeln ab. „Und was ist mit dir?"

„Was meinst du jetzt?"

„Na, den Ball." Erwartungsvoll sah sie ihn an und versuchte seinen Blick einzuschätzen.

„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt hin soll," erklärte er. „Und überhaupt – wer sagt denn, dass man nicht allein hingehen kann?"

„Die Etikette?"

Harry brummte widerwillig. „Dann mach mir einen Vorschlag. Mit wem soll ich hingehen?"

Jetzt hatte sie den Salat. Sie hatte Harry an die richtige Stelle dieser Unterhaltung manövriert – es war ja wie von selbst gegangen – und brauchte jetzt nur noch Parvati vorzuschlagen. Damit würde sie ihre Schuldigkeit getan und ihr Versprechen Parvati Patil gegenüber gehalten haben. Hermione seufzte lautlos.

„Warum fragst du nicht Parvati? Ihr wart ja schon mal zusammen auf dem Weihnachtsball."

Harry sah Hermione verblüfft an. Er konnte nicht glauben, dass sie das gerade gesagt und auch noch ernst gemeint hatte. „Das war vor fast zwei Jahren. Und Parvati meinte, es wäre der furchtbarste Abend ihres Lebens gewesen."

„Na ja," begann Hermione, „Meinungen können sich ändern. Das sieht man ja an Padma." Sie lächelte. „Und soweit ich weiß, kannst du inzwischen tanzen."

Harry sagte nichts, sein Blick wies nur so eine seltsame Gefühlsnuance auf, die Hermione nicht recht einzuordnen wusste – und dann begann er sie auf eine Art und Weise anzusehen, die ihr ganz schön unangenehm wurde.

„Also, ich hab nachher noch Arithmatik," erklärte sie. „Ich muss jetzt gehen. Überleg dir das mit Parvati doch, ja?" Sie legte ein fröhliches Lächeln auf und lief mit schnellen Schritten davon.

Harry sah ihr etwas verwirrt nach. „Parvati," murmelte er vor sich hin und erinnerte sich sofort an den Weihnachtsball. Er und Ron hatten damals keine Partnerinnen gehabt und so hatte Harry zuerst Cho Chang gefragt, die Sucherin von Ravenclaw, die ein Jahr über ihm war – und in die er damals etwas verknallt gewesen war. Aber Cho war schon von Cedric Diggory, dem damaligen Sucher von Hufflepuff, eingeladen worden... Plötzlich kam Harry wieder alles hoch und er verfiel in eine ganz melancholische Stimmung. Cedric und Cho hatten gut zueinander gepasst. Aber Cedric hatte am Ende jenes Schuljahres die letzte Runde des Trimagischen Turniers nicht überlebt. Er war Lord Voldemort zum Opfer gefallen, während Harry überlebt hatte...

Nach Chos Absage hatte Harry einfach Parvati gefragt, die ihm gerade zufällig über den Weg gelaufen war. Parvati hatte dann ihre Zwillingsschwester Padma, die in Ravenclaw war, mit Ron für den Ball zusammengebracht hatte. Und als er und Ron sich geweigert hatten, mehr als einmal mit den Schwestern zu tanzen, hatten sich beide Mädchen wütend andere Tanzpartner gesucht und geschworen, nie wieder mit Harry und Ron auszugehen – und da kam Hermione und schlug ihm ausgerechnet Parvati als Begleiterin für den Ball vor...

Aber was war eigentlich mit Hermione selbst? Mit wem würde sie zum Ball gehen, fragte sich Harry plötzlich. Ob er vielleicht sie fragen sollte? Sie war immerhin seine beste Freundin. Außer Ron gab es niemanden, der ihm näher stand. Man nannte sie ja schon scherzhaft „Die drei Musketiere" – und dazu noch waren längst Gerüchte im Umlauf, dass etwas zwischen ihm und Hermione oder gar zwischen Hermione und Ron lief. Und zumindest an einem dieser Gerüchte war Alexia Barrows nicht ganz unschuldig.

Wie er so weiter darüber nachdachte, malte er sich aus, was für ein Gesicht Alexia machen würde, wenn er mit Hermione an seiner Seite auf dem Ball erscheinen würde. Er lächelte vor sich hin. Allein Alexia einmal sprachlos zu sehen, wäre es schon wert gewesen, auf diese Party zu gehen. Aber... aber Hermione war eine Freundin, nicht seine Freundin. Und so wie Ron ihm als Bruder erschien, schien sie ihm wie eine Schwester. Das ließ nur den Schluss offen, dass Alexia Barrows eine zu blühende Phantasie hatte.

Aber trotzdem ließen ihn all diese Gedanken während des ganzen Quidditch-Trainings und auch darüber hinaus nicht los.