Dies Irae –

Kapitel 5: Bestimmung

Minerva McGonagall hatte an diesem Tag keinen Unterricht mehr zu geben. Das gab ihr unglücklicherweise Zeit über diese ganze Sache mit dem Fluch nachzudenken. Sie hatte das Buch von Rowena Ravenclaw bei sich behalten, als Albus Dumbledore ihr Büro verlassen hatte und sich die Texte noch mal genau angesehen. Viel hatte es allerdings nicht gebracht.

Es war offensichtlich, wie groß der Hass Feyt Slytherins auf Hogwarts – vor allem auf Godric Gryffindor – gewesen sein musste und genau diese Tatsache ließ auch den Schluss zu, dass das Haus Gryffindor wohl zuerst betroffen sein würde, sollte sich der Fluch erfüllen. Gerade deshalb wünschte sich die Professorin, Dumbledore würde die Lehrer und die Gryffindor-Schüler informieren. Es mussten ja nicht alle sein. Es reichte schon, wenn...

Minerva sah auf. „Hast du es dir noch einmal überlegt?"

Albus Dumbledore schloss die schwere, alte Holztüre hinter sich. „Das nicht gerade, aber ich dachte, dass du vielleicht doch Recht hast."

Minervas Lippen formten die Andeutung eines Lächelns, ein Lächeln der Erleichterung. „Wenn sich der Fluch gegen Gryffindor richtet, sollten die Gryffindor-Schüler darüber informiert werden. Und die Lehrer sollten es wissen."

„Ich will nicht, dass hier eine Panik ausbricht," antwortete Dumbledore ruhig. „Das ist vor vier Jahren beinahe passiert. Als die Kammer geöffnet wurde."

„Und seither hatten wir kein Jahr, in dem nicht irgendetwas Schreckliches geschehen ist und Harry Potter Feuerwehr gespielt hat," seufzte die Professorin.

„Wir haben alle unsere Aufgaben und unsere Bestimmung."

„Dann informieren wir die drei also?"

Dumbledore nickte. Es fiel ihm nicht gerade leicht. Die Zeiten wurden immer härter. Schon Voldemorts gelegentliche Aufstiegsversuche hielten die Zauberwelt in Atem und egal wie man es drehte und wendete – Hogwarts war immer ein Knotenpunkt. Auszeiten, Verschnaufpausen, gab es kaum mehr. Und nun auch noch dieser Fluch. Dumbledore seufzte innerlich. Das Universum hatte einen verdammt miesen Sinn für Humor. Wenn man es überhaupt als solchen bezeichnen sollte.

An diesem Abend war es an jenem Tischende in der Großen Halle, an dem Harry, Hermione und Ron saßen, seltsam still. Lediglich Parvati, die neben Hermione und schräg gegenüber von Harry saß, rutschte unruhig auf ihrem Platz hin und her. Hermione hatte ihr erzählt, dass sie Harry in Bezug auf den Ball angesprochen hatte – und nun wartete Parvati natürlich gespannt darauf, dass Harry etwas zu ihr sagte.

„Mione," flüsterte sie so, dass nur ihre Freundin sie hören konnte. „Meinst du, er wird mich fragen?"

„Ich weiß nicht," gab Hermione zurück. „Vielleicht geht er auch alleine hin."

Parvati kicherte. „Ach was. Keiner wird allein hingehen."

Hermione antwortete nicht. Sie zog nur leicht die Augenbrauen hoch. Parvati schätzte Harry eindeutig falsch ein. Harry gehörte nicht zu der Sorte Menschen, die sich uneingeschränkt Regeln und Normen unterordneten – das hatte er gemeinsam mit ihr und Ron schon zur Genüge bewiesen. Und schon gar nicht, wenn es um ein Fest ging, bei dem man nur möglichst mit Begleitung erscheinen sollte.

Sie musterte Harry, der ihr direkt gegenüber saß. Sein Gesichtsausdruck war rätselhaft, aber Hermione vermutete, dass er tatsächlich gerade über Parvati und den Ball nachdachte oder vielleicht auch über... Hermione zuckte zusammen, als Harrys Blick den ihren traf. Sie wusste selbst nicht, warum sie so hektisch reagierte, aber seit diesem Gespräch am Nachmittag hatte sich etwas verändert.

„Mr Potter," erklang plötzlich Professor McGonagalls Stimme. „Bitte kommen Sie mit."

Harry stand verwirrt auf und suchte erst Hermiones, dann Rons Blick. Beide sahen ihn mit derselben Irritation an. Sie hatten nichts angestellt, aber der merkwürdige Tonfall der Lehrerin ließ ein ernstes Gespräch vermuten.

„Sie bitte auch, Mr Weasley, Miss Granger," fuhr die Professorin fort.

Hermione und Ron standen ebenfalls auf und folgten Minerva McGonagall aus der Großen Halle. Das Essen war inzwischen zwar beendet, doch alle Schüler saßen noch an ihren Tischen und waren in Privatgespräche vertieft. Diese Gespräche verstummten nun angesichts der seltsamen Prozession, die in Form der drei Gryffindor-Schüler und der Hauslehrerin von Gryffindor aus der Halle zog.

Und kaum hatte sich die große, schwere Tür geschlossen, tuschelten alle darüber, was wohl los sei. Nur wenige bemerkten, dass Professor Dumbledore unbemerkt vom Lehrertisch verschwunden war.

„Professor McGonagall," begann Harry, als die Tür hinter ihnen zu war. „Wo gehen wir hin? Und worum geht es denn?"

„Professor Dumbledore wird alles erklären," antwortete die Lehrerin ohne sich umzudrehen oder langsamer zu gehen.

Harry wandte sich mit einem fragenden Blick zu Ron und Hermione um, die schräg hinter ihm liefen. Beide zuckten mit den Schultern. Sie hatten auch nicht die geringste Ahnung, worum es gehen könnte. Aber eines war allen drein inzwischen klar – es war keine Standpauke. Der Ernst in Minerva McGonagalls Stimme wies statt der üblichen Strenge aufrichtige Sorge auf.

Die drei Schüler bezwangen ihre Neugier und folgten der Lehrerin stumm durch die Gänge. Vor der Geheimtür zu Professor Dumbledores Büro machten sie schließlich halt.

„Spaghettieis," sagte die Professorin und der große, steinerne Phönix mit den ausgebreiteten Flügeln in der Rundnische vor ihnen, begann sich langsam nach oben zu drehen und eine Wendeltreppe mit sich nach oben zu ziehen.

Minerva McGonagall stieg auf eine der Stufen und ließ sich mit nach oben tragen. Harry, Hermione und Ron folgten ihrem Beispiel, ohne dass eine Aufforderung nötig war. Oben angekommen, öffnete die Professorin die Tür zum Büro des Schulleiters und ließ den drei Schülern den Vortritt, eher sie selbst eintrat und die Tür hinter sich schloss.

Professor Dumbledore saß hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm lagen Pergamente, auf die er etwas schrieb. Er sah auf, legte die Feder beiseite und bedeutete Harry, Hermione und Ron an, näher zu treten.

„Professor –" begann Harry, doch weiter kam er nicht.

„Es ist sehr ernst," unterbrach ihn Albus Dumbledore. Nach diesem Satz machte er eine Pause, in der eine beängstigende Stille herrschte. „Es ist – leider – eine Tatsache, dass ihr drei sehr erprobt seid im Kampf gegen die dunklen Mächte. Das ist auch der Grund, weshalb ihr jetzt hier seid." Dumbledore musterte die drei Sechstklässler. Er sah die Beunruhigung und Verwirrung über seine Worte in ihren Augen. Aber er sah auch Mut und Stärke. Sie hatten genug erlebt, um keine Angst und Panik aufkommen zu lassen.

„Ich möchte euch nicht lange auf die Folter spannen," fuhr der Professor schließlich fort. „Und eigentlich möchte ich euch auch nicht unnötig belasten, aber... nun, leider wird das diesjährige Halloween-Fest nicht so werden, wie wir es eigentlich geplant hatten."

Dumbledore nahm ein ihm und Minerva nur zu gut bekanntes Buch von einem Stapel auf seinem Schreibtisch und schlug es auf. Er drehte die aufgeschlagene Seite Harry, Hermione und Ron zu, so dass sie einen lateinischen Text sahen, der eine Zeichnung umfloss.

Während Harry und Ron stirnrunzelnd darauf schauten und nicht verstanden, was der Professor ihnen damit sagen wollte, wurden Hermiones Augen ein Stückchen größer.

„Professor, ist das das Buch der Prophezeiungen von Rowena Ravenclaw?" vergewisserte sich Hermione.

Dumbledore nickte. „Ich dachte mir schon, dass du es erkennen würdest." Er ließ den drei Schülern noch einen Augenblick Zeit, sich die Seite genau anzuschauen, ehe er weitersprach. „Dieser Text berichtet von einem Fluch," erklärte er. „Er wurde vor tausend Jahren ausgesprochen. Rowena Ravenclaw war selbst dabei und hat alles aufgeschrieben und aufgezeichnet." Er deutete auf das Bildnis der Sterne im Buch. „Das sind die Sternbilder Cyngus, der Schwan, die schöne Königstochter Andromeda und Pegasus, das geflügelte Pferd. Diese drei Sternbilder tauchen nur im Herbst in dieser Anordnung auf."

„Was ist mit den Punkten, die das Dreieck bilden?" fragte Harry neugierig.

„Das sind Deneb, Mirach und Enif. Deneb ist der hellste Stern im Bild des Schwan. Mirach ist einer der hellsten Sterne in Andromeda und Enif ist der hellste Stern im Bild Pegasus."

„Versteh ich nicht," zuckte Ron mit den Schultern. „Wenn das immer die hellsten Sterne sind und die hier im Buch einfach nur zu einem Dreieck verbunden sind – also, was soll daran Besonderes sein, wenn die im Herbst immer so aussehen."

„Wie ich bereits sagte – dieses Halloween wird wohl anders als geplant," antwortete Dumbledore. „Die roten Punkte markieren hier nicht die Sterne, sondern Pluto, Mars und Saturn, die sie überlagern."

„Überlagern?" wiederholte Hermione. „Professor, das ist doch nahezu unmöglich. Ich meine, drei Planeten, die drei Sterne so wie hier aufgezeichnet verdecken, das – das ist doch..." Sie gestikulierte wild umher. „Die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas geschieht, ist nahezu null."

„Tatsächlich gibt es ein solches Phänomen nur alle paar tausend Jahre," schaltete sich Minerva McGonagall in das Gespräch ein.

„Dann ist das hier ein Zufallstreffer?" gab Harry zurück.

Professor McGonagall sah ihn verwirrt an. „Wie meinen Sie das, Mr. Potter?"

„Der, der diesen Fluch ausgesprochen hat, hat es doch so geplant, dass er sich erfüllt, wenn diese Planetenkonstellation am Himmel steht, richtig?"

Dumbledore nickte. „So ist es."

„Vielleicht wusste er nicht, wann es tatsächlich dazu kommen würde. Ein Zufallstreffer. Er dachte sich wohl, dass es einfach irgendwann in der Zukunft, also unserer Zeit, geschehen würde," führte Harry seinen Gedanken aus.

„Und wenn er es doch wusste?" warf Ron ein. „Vielleicht sollte es genau unsere Zeit, also Harrys Zeit, treffen. Vielleicht –"

„Ach Ron," begann Hermione und unterbrach ihn damit. „Nicht alles, was passiert, muss immer gleich darauf aus sein, Harry zu schaden. Aber es könnte natürlich sein, dass sich der Urheber dieses Fluchs in Astronomie auskannte und ungefähr die Zeit bestimmen konnte, wann er sich erfüllen sollte."

„Ähm..." machte Ron und räusperte sich. „Wer ist eigentlich der Urheber?" Er sah Dumbledore fragend an.

Der Professor seufzte. „Feyt Slytherin, Salazar Slytherins Sohn."

„Natürlich!" stieß Ron aus. „Ein Slytherin! War ja klar. Ich sag's euch," sprach er an Harry und Hermione gewandt, „der wollte bestimmt seinem späteren Erben den Weg ebnen! Wahrscheinlich konnte er in die Zukunft sehen und hat gesehen, dass Ihr-wisst-schon-wem etwas zustoßen würde und –"

„Ron, bitte!" schnitt ihm Hermione erneut das Wort ab. „Das ist doch lächerlich! Was du da sagst, ist doch völlig aus der Luft gegriffen. Und überhaupt – da müsste Feyt Slytherin ja schon ein perfekter Wahrsager gewesen sein, was er aber laut den Geschichtsbüchern nicht war."

„Ich gebe Miss Granger Recht," sagte Professor Dumbledore. „Mit Lord Voldemort hat dieser Fluch nichts zu tun."

Ron und Hermione zuckten bei diesem Namen unwillkürlich zusammen, während Harry ruhig da stand, und Minerva McGonagall kaum merklich reagierte. Sie wusste ja, dass Dumbledore sich nicht davor fürchtete, diesem Namen auszusprechen und war darauf gefasst, dass er es tat.

„Es ist nun mal so, dass Salazar Slytherin Hogwarts wutentbrannt verlassen hat," erzählte Dumbledore. „Camenae Darray, eine Lehrerin, war von ihm schwanger – was er aber nicht wusste. Er erfuhr vor seinem Tod nicht, dass er einen Sohn hatte. Dieser Sohn bekam den Hass auf die drei verblieben Gründer in die Wiege gelegt und anerzogen. An seinem 17. Geburtstag verfluchte er Hogwarts, um Rache für seinen Vater zu nehmen und verließ die Schule. So hat es Rowena Ravenclaw niedergeschrieben." Der Professor deutete auf das aufgeschlagene Buch.

„Vermutlich kannte er sich mit den Sternen aus," sagte Professor McGonagall. „Er wollte der Zukunft von Hogwarts schaden und den Traum der Gründer damit zerstören. Dass es in diesem Jahr geschehen soll und gerade Sie und ihre Mitschüler treffen soll, ist wohl tatsächlich ein Zufall."

„Es wird in der Halloween-Nacht passieren, nicht wahr?" meldete sich Hermione zu Wort.

„Ja." Dumbledore nickte und sah auf das Buch hinab. „Um Mitternacht werden die Sterne genau wie auf der Zeichnung stehen."

„Und was wird dann passieren?" fragte Ron.

„Eine gute Frage, Mr. Weasley," seufzte Professor McGongall. „Leider steht darüber nichts in diesem Buch."

„Feyt Slytherin wird wohl kaum herausposaunt haben, was genau geschehen soll," meinte Harry. „Dann hätten wir uns ja vorbereiten können." Er sah Dumbledore an und plötzlich wurde ihm einiges klar. „Darum sind wir hier, oder? Weil Sie nicht wissen, was passieren wird, weil Sie und die anderen Lehrer keine Vorbereitung treffen und uns beschützen können. Wenn Sie es könnten, hätten sie es uns gar nicht gesagt, nicht wahr?"

„Möglicherweise," gab der alte Zauberer zu. „Wir wollen hier keinen unnötig ängstigen. Darum wird es auch niemand außer euch erfahren. Die anderen Schüler sollen das Fest genießen und werden hoffentlich nichts mitbekommen."

„Sie glauben, dass wir alleine damit fertig werden?" fragte Hermione unsicher.

„Wir wissen nicht, was auf uns zukommt," antwortete Dumbledore. „Aber ihr drei habt schon so viel zusammen durchgestanden und wir –" er sah Minerva an – „haben auch schon einiges durchgemacht. Wir werden uns gemeinsam dieser Herausforderung stellen."