Dies Irae –
Kapitel 6: Entscheidungen
Ein weiterer Tag zog über Hogwarts hinweg und Halloween stand unmittelbar vor der Tür. Genau wie der Ball. Und während es bei allen nur noch darum ging und kaum ein Schüler noch im Unterricht aufpasste, wälzte Hermione Granger in der Bibliothek Unmengen an Büchern, in der Hoffnung etwas über den Fluch herauszufinden.
Sie musste allerdings recht schnell feststellen, dass in der Literatur jener Zeit wenig bis gar nichts in Bezug auf Feyt Slytherin auftauchte. Das Buch von Rowena Ravenclaw war nach wie vor die beste und einzig wirkliche Quelle. Zwar hatte Hermione das auch schon vorher gewusst – Professor McGonagall hatte ja selbst schon nachgeforscht und nichts gefunden –, aber damit wollte sie sich jetzt nicht abfinden. Sie suchte weiter, weiter und weiter.
„Ich finde was!" murmelte sie bestimmt vor sich hin, während sie sich immer weiter durch die Bücherregale durcharbeitete.
„Ist dir eigentlich klar, dass du in der Bibliothek immer anfängst Selbstgespräche zu führen? Ist ein bisschen unheimlich."
Hermione erschrak so sehr, dass sie beinahe die zwei Bücher, die sie gerade aus einem Regal ziehen wollte, fallen gelassen hätte. „Harry!" kreischte sie, „hatte ich dir das letzte Mal nicht gesagt, dass du mich gefälligst nicht so erschrecken sollst?!"
„Tschuldigung," antwortete er leise, konnte sich ein schiefes Grinsen allerdings nicht verkneifen.
Hermione legte einen finsteren Blick auf, den sie aber nicht lange aufrechterhalten konnte. Schließlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie schüttelte wortlos den Kopf.
„Was gefunden?" fragte Harry
„Nicht wirklich," antwortete sie seufzend. „Wir müssen wohl so damit fertig werden."
Harry zuckte mit den Schultern. „Wär' ja nichts Neues," meinte er kaum hörbar, doch Hermione hörte es und wusste genau, was er meinte. Sie waren schon oft genug in solche „Geschichten" rein geraten – sogar freiwillig. Aber diesmal, da man sie einweihte und mit einbezog, konnten sie sich nicht einmal auf das, was auf sie zukam, vorbereiten.
Harry starrte einige Sekunden ins Leere, dann schüttelte er seine Frustration ab. „Also, wenn du hier eh nichts findest, dann kannst du ja mit mir rauskommen. Lass uns Ron suchen und irgendwas unternehmen."
„Ich würd' lieber noch etwas weitersuchen. Vielleicht fällt mir die Lösung schon mit dem nächsten Buch in die Hand."
„Hermione, morgen ist Halloween. Jetzt sei doch mal etwas fröhlicher und schau wenigstens für ein paar Stunden in kein Buch." Er lächelte. „Das wird dich schon nicht umbringen."
Hermione verzog den Mund. Es war so typisch für Harry – und alle anderen – sie mit ihrem Büchertick aufzuziehen. Sie las und lernte nun mal gerne, aber sie kannte auch das rechte Maß. Zumindest seit sie Harry und Ron kennen gelernt hatte. Das hier war aber etwas anderes. Hier ging es nicht ums Lernen für eine schulische Prüfung. Hier ging es um Menschenleben.
„Es würde andere aber vielleicht umbringen," sagte sie leise und ihrer Stimmung entsprechend. Das letzte bisschen Fröhlichkeit, das sie gerade noch gezeigt hatte, war mit einem Mal aus ihrem Wesen entschwunden und sie dachte nur noch daran, was passieren könnte, wenn sie nicht...
„Hermione," begann Harry und schnitt ihre Gedanken damit ab, „es ist nicht das erste Mal, dass wir in einer solchen Situation sind. Das hat sogar Professor Dumbledore gesagt. Und immerhin vertraut er uns so sehr, dass er uns eingeweiht hat. Wir haben alle verfügbaren Informationen bekommen und sind unter diesen Umständen bestmöglich vorbereitet." Er suchte direkten Blickkontakt mit ihr. „Also – warum verkriechst du dich hier?"
Hermione erwiderte seinen Blick im ersten Augenblick, aber kaum dass er diese Frage gestellt hatte, zuckte sie unwillkürlich zusammen und riss ihren Blick zur Seite. Es war, als hätten seine Worte mit einem Schlag etwas freigelegt, was sie vor sich selbst zu verbergen versuchte.
Es ist nur ein Ball, sagte ihr Kopf. Doch ihr Herz war anderer Meinung. Hermione erkannte plötzlich, dass sie sich hier regelrecht vor dem Ball versteckte, dass sie sich in Arbeit vergrub, um nicht...
„Hermione." Harry trat näher an sie heran und legte ihr vorsichtig seine rechte Hand auf die Schulter. „Bist du okay? Du bist schon wieder so blass. Wie gestern Mittag. Du wirst doch nicht etwa krank, oder?"
Sie sah ihn an und lächelte gequält. „Nein, krank bestimmt nicht." Es war keine Lüge, aber auch nicht die Wahrheit.
„Gut. Du willst doch nicht etwa den Halloween-Ball im Krankenflügel verbringen, oder?" lachte Harry.
„Wäre das so schlimm?" erwiderte sie müde. „Ich will da eh nicht hingehen."
„Warum?" fragte er verwirrt über ihre Niedergeschlagenheit.
„Warum?" wiederholte sie und hielt seinem irritierten Blick stand. „Weil ich diese Pärchenveranstaltungen nicht mag. Der Halloween-Ball ist, abgesehen von der Valentinstags-Party, das Schlimmste oder bessergesagt Lächerlichste im ganzen Schuljahr. Alle jagen nur einem Partner und einer Partnerin und damit einem festen Freund oder einer festen Freundin hinterher. Auf so was hab ich keine Lust."
„Ist es, weil dich keiner eingeladen hat?"
„Nein. Wenn ich wirklich wollte, würd' ich auch allein hingehen," erklärte Hermione und der Trotz in ihrer Stimme war offensichtlich.
„Ja, aber warum willst du denn dann nicht hingehen?" Harry machte eine hilflose Geste, denn das ganze Gespräch ergab für ihn absolut keinen Sinn mehr. Er verstand einfach nicht, was sie hatte und an was es lag. War es wegen dem Fluch? War sie einfach nur unzufrieden wegen dem Ball? Oder etwas ganz anderes? Oder beides? Harry wusste nur eines sicher – Hermione hat sich wohl noch nie so irrational benommen.
„Ich will einfach nicht!" lautete ihre scharfe Antwort, auf seine erneute Frage.
„Du bist mir heut echt ein Rätsel," erwiderte Harry resignierend. „Gestern hast du noch versucht, mich dazu zu bringen, hinzugehen, als ich nicht wollte."
„Meinungen ändern sich."
„Ja, das seh' ich." Harry schüttelte aus Unverstehen den Kopf.
„Gut, dann – würdest du mich jetzt bitte weitermachen lassen?" entgegnete Hermione ungeduldig.
„Nein," erklärte er und ehe sie sich's versah, hatte er ihr die Bücher aus der Hand genommen.
„Harry!" stieß sie hervor und bemühte sich nicht rumzubrüllen.
„Na schön," erwiderte er defensiv, „ich wollte gestern nicht auf den Ball – ich hatte und hab keine Partnerin. Du willst heute nicht hin – und hast auch keinen Partner. Wie wär's, wenn wir zusammen hingehen?"
Hermione erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde. „Nein," kam die Antwort dann aber schneller, als sie wirklich nachdenken konnte. Trotzdem war sie sich darüber vollkommen sicher.
Harry sah sie überrascht an. Er hatte aufgrund ihrer Laune zwar mit einer möglichen Ablehnung gerechnet, aber dass sie so schnell kam... Er wollte etwas sagen – aber er konnte nicht.
Hermione war nicht weniger erstaunt – und es war ihre Antwort auf seine Frage. Für einen kurzen Augenblick wollte sie ihre Antwort erklären oder gar zurücknehmen, aber stattdessen...
„Ich muss jetzt gehen," sagte sie leise, sah ihn kurz an und ging dann an ihm vorbei.
Wenige Augenblicke später hatte sie die Bibliothek verlassen.
„Albus, ich muss mit dir sprechen."
Albus Dumbledore sah überrascht von seinem Schreibtisch auf. Vor ihm stand Severus Snape, der es nicht für nötig gehalten hatte, anzuklopfen, bevor es das Büro des Schulleiters betreten hatte. Doch der alte Professor sagte nichts dazu. Er deutete lediglich auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch.
„Setz dich, Severus."
Professor Snape folgte seiner Aufforderung wortlos.
„Nun?" erkundigte sich Dumbledore.
„Ich will wissen, was an der Schule vorgeht," erklärte der jüngere Professor in seiner üblich scharfen Tonlage.
„Was glaubst du denn, was vorgeht?" erwiderte Dumbledore und war tatsächlich leicht amüsiert, obwohl er wusste, dass das eigentlich gar nicht angebracht war.
„Albus!"
„Nun gut." Dumbledore stand auf und wandte sich zum Rundregal hinter dem Schreibtisch, in dem der Sprechende Hut in einem der oberen Fächer lag und die Geschehnisse mit wiegendem „Kopf" mitverfolgte. Der Professor griff in einem der mittleren Fächer sofort nach dem Buch von Rowena Ravenclaw und reichte es Severus Snape.
„Das Buch der Prophezeiungen? Was soll ich damit?" fragte dieser verwirrt und legte es einfach auf den Tisch.
Albus seufzte angesichts von Severus' Ungeduld. Er nahm das Buch, schlug die Seite über den Fluch von Feyt Slytherin auf und legte es seinem Gegenüber hin. Snape überflog die Seite und sah sich die Zeichnung der Sterne an, dann kehrte sein Blick zu Albus Dumbledore zurück.
„Und was willst du mir nun damit sagen?"
„Du bist doch deswegen hier," meinte Dumbledore und deutete auf das Buch.
„Ich bin hier, weil Minerva besorgt irgendwelche Fluchbücher wälzt, du geheimnisvoll durch die Gänge schleichst und Potter und seine Anhängsel wieder irgendwas aushecken."
„Ja," erwiderte Dumbledore ganz selbstverständlich. „Inwiefern kannst du mir nicht folgen?"
„Albus, was geht hier vor?" fragte Snape in forderndem Tonfall mit erneutem Blick auf das Buch, doch las erst jetzt wirklich bewusst den Text. Einen Augenblick lang machte ihn das stutzig – und Dumbledore sagte nichts. „Das ist doch wohl nicht dein Ernst, oder?" fuhr er schließlich ungläubig fort.
„Die Anzeichen sprechen dafür," entgegnete der alte Zauberer. „Es gibt nun mal Flüche, zwischen deren Ausspruch und Erfüllung sehr viel Zeit vergehen kann."
„Natürlich gibt es die, aber Albus – das hier ist nichts weiter, als ein nett aufgemachtes Märchenbuch. Und du weißt genau, dass das Ministerium genauso denkt."
„Ich habe bereits Minerva gesagt, dass einiges hier drin der reinen Wahrheit entspricht. Die Kammer des Schreckens, zum Beispiel."
„Aber das muss nicht heißen, dass das auch hier zutrifft." Snape sah ihn ungerührt an. „Außerdem – tausend Jahre lang ist nichts geschehen. Wahrscheinlich existiert dieser... dieser Nemesis-Fluch gar nicht!"
Dumbledore sah ihn ernst an. „Er existiert. Die Sterne stehen richtig. Es wird geschehen... Morgen um Mitternacht, um genau zu sein."
Severus wollte schon zu einer Erwiderung ansetzten, aber entschied sich dann, nichts zu sagen.
Dumbledore schwieg ebenfalls für einige Augenblicke. „Minerva und du seid die einzigen unter den Lehrern, die Bescheid wissen. Ich möchte sonst niemanden beunruhigen oder da mit hinein ziehen," erklärte er schließlich ruhig. „Und ja – Harry Potter, Ronald Weasley und Hermione Granger sind ebenfalls informiert. Minerva und ich dachten, das wäre angebracht, da anzunehmen ist, dass unter anderem diese drei angegriffen werden."
„Ich bitte dich, Albus," begann Snape und rollte mit den Augen. „Warum glaubst du eigentlich, dass Potter immer gleich in Gefahr oder dazu da ist, solche „Dinge" zu klären?" Er schüttelte den Kopf. „Selbst wenn sich dieser Fluch morgen Nacht wirklich erfüllt – wer sagt denn, dass Potter und seine Freunde die Richtigen sind, um die Schule zu schützen?"
„Es ist anzunehmen, dass der Fluch zuerst Gryffindor trifft. Daraus folgt, dass Gryffindor sich verteidigen muss – und Harry, Hermione und Ron sind sehr erprobt, was Herausforderungen dieser Art angeht. Ich habe größtes Vertrauen in sie. Wenn jemand in dieser Lage die Schule schützen kann, dann diese drei." Er suchte direkten Blickkontakt mit Snape. „Und Minerva, du und ich werden sie unterstützen."
„Ich halte dieses Vorgehen für sehr gewagt," erwiderte Snape und sein Tonfall zeigte, dass er mit Dumbledores Entscheidung ganz und gar nicht einverstanden war. „Aber ich werde natürlich alles tun, um Hogwarts und seine Schüler zu beschützen."
