Dies Irae –
Kapitel 9: Nemesis
Die Professoren Dumbledore, McGongall und Snape starrten fassungslos auf den ungebetenen Gast, diese unheimliche, schwarz-gekleidete Frau, die wie der Tod höchstpersönlich anmutete. Der Augenblick ihres Erscheinens hatte ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt – sie mussten diese „Angelegenheit" im Beisein aller Schüler regeln und hatten nun keine Möglichkeit mehr, sie zu schützen.
„Und nun?" fragte Minerva heiser.
Dumbledore hörte und sah, wie schockiert sie über diese Entwicklung war. Es ging ihm kaum anders. Auch Severus' entsetzter Blick wandte sich zu ihm. Er wünschte sich, ihr und Severus und allen Schülern etwas Beruhigendes sagen zu können, aber...
„Ich weiß es nicht," antwortete Dumbledore resignierend.
Mit diesen Worten stand er auf und verließ den Lehrertisch. McGonagall und Snape folgten ihm sofort. Die anderen Lehrer sahen ihnen nur sprachlos nach, die Schüler gingen zur Seite, um ihnen den Weg freizumachen. Es wollte ohnehin keiner mehr auf der Tanzfläche bleiben. Die Fremde war allen zu unheimlich. Lediglich Harry, Hermione und Ron rührten sich keinen Zentimeter. Wie die drei Lehrer, die nur wenige Meter von ihnen entfernt stehen bleiben, strahlten sie äußerlich Ruhe und Stärke aus, während es in ihrem Inneren vollkommen anders aussah.
„Ah." Die Fremde neigte den Kopf und lächelte kalt. „Wie ich sehe, erwartet man mich bereits." Sie musterte die Schüler und Lehrer, die sich ihr stellen wollten. „Nun dann, Ihr scheint zu wissen, was dies für eine Nacht ist – doch will ich Euch meine Einführung nicht vorenthalten."
Die Frau breitete ihre Arme weit aus und zeitgleich mit dieser Geste zogen die Wolken am Himmel schneller. Für weniger Sekunden war der klare Sternenhimmel zu sehen, an dem die drei Schicksalssterne dieser Nacht heller leuchteten, als je zuvor. Dann zogen langsam wieder die dunklen Regenwolken heran und kündigten ihre Begleitung für die folgenden Stunden an.
„Dies irae, dies illa, solvet saeculum in favilla," hallte die gespenstische Stimme der todesengelgleichen Frau von den Wänden wider.
„Wer seid Ihr?" erkundigte sich Dumbledore ruhig.
Sie sah in herablassend an und schien erst zu überlegen, ob er es wert war, dass sie mit ihm redete. „Wer ich bin, tut nichts zur Sache, doch wenn ich einen Namen nennen soll, so möge er für diese Nacht Nemesis sein."
„Was gedenkt Ihr nun zu tun?" erwiderte Snape in seiner gewohnt kühlen, aggressiven Tonlage.
Nemesis sah ihn amüsiert an. „Nun, ich bin von Feyt Slytherin entsandt, seine Rache auszuführen, die da wäre: Tod für alle hier in diesen Hallen – doch zuerst..." Sie machte zwei Schritte auf Harry, Hermione und Ron zu. „...werde ich euch prüfen."
„Sie wollen uns nicht gleich töten?" entgegnete Ron mit zitternder Stimme.
Nemesis lachte leise. „Wir haben doch die ganze Nacht Zeit," erwiderte sie vergnügt. „Also..." Ihr Blick wanderte von Ron, über Hermione zu Harry. „Ihr drei seid also das Beste, was Hogwarts mir entgegenzusetzen hat? Wie jämmerlich."
„Ihr solltet nicht so leichtfertig urteilen," erklärte Dumbledore herausfordernd.
Die Fremde funkelte ihn finster an. „Und Ihr solltet mir gegenüber nicht so respektlos sprechen – oder Ihr seid der Erste, der stirbt, alter Mann." Sie wandte ihren Blick von Dumbledore ab und ließ ihn in der Halle umherschweifen, damit alle den Ernst in ihren Augen sehen konnten. „Das gilt für alle," fügte sie eisig hinzu.
Trotz ihrer Angst und obwohl sie zu zittern begann, machte Hermione einen kleinen Schritt nach vorne und hob den Kopf. „Das riskier ich," entgegnete sie mit fester Stimme und wusste genau, dass sie in diesem Augenblick mit dem Feuer spielte. Aber sie tat es – weil sie einen schwindend kleinen Strohhalm gefunden hatte, an den sie sich jetzt einfach klammern musste.
Nemesis wandte sich ihr zu. „Gryffindor, nehme ich an."
Hermione neigte den Kopf zur Bestätigung.
„Und was ist es deiner Meinung nach Wert, nun dein Leben zu riskieren?" fragte Nemesis in einer Mischung aus überzogener Gleichgültigkeit und brennendem Interesse.
„Eure Identität, Mylady," antwortete Hermione und hoffte die Fremde durch diese Titulierung etwas besänftigen zu können.
Nemesis hob die Augenbrauen. „Ich bin die Verkörperung der Rache Feyt Slytherins – was gibt es weiter zu sagen?" gestikulierte sie.
Hermione schluckte, doch inzwischen zitterte sie nicht mehr ganz so sehr und sie fühlte regelrecht, wie Ron und Harry ihr in Gedanken Mut machten und Kraft gaben. „Vor tausend Jahren glaubten alle Menschen, egal ob Zauberer oder Muggel, an Götter," begann sie. „Vor tausend Jahren wurde dieser Fluch gesprochen und damals gab es nur eine Göttin, die Flüche wie diesen erhörte und die Macht hatte, sie zu ihrer Erfüllung zu bringen." Hermione schloss einen kurzen Augenblick die Augen. Plötzlich durchströmte sie ein Gefühl der Sicherheit, denn sie konnte nun auf ihr Geschichtswissen zurückgreifen und fühlte sich nicht mehr ganz so hilflos und angreifbar. „Die Geisterkönigin Morrigan, die Göttin des Schicksals, des Todes und der Rache. Ja... Ihr seid Morrigan."
Die selbstsichere Miene der Fremden, die sich Nemesis nannte, verblasste einen Augenblick, als Hermione ihren kleinen Vortrag beendet hatte, doch sie gewann ihre Fassung schnell wieder. Sie nickte sogar anerkennend. „Ich bin beeindruckt." Jetzt schenkte sie Hermione ihre ganze Aufmerksamkeit. „Ja, ich war einst Morrigan. Aber dieser Name wurde viele Jahrhunderte nicht mehr ausgesprochen. Ich wurde vergessen – wie alle alten Götter. Aber die Sterne, mit denen ich einst das Blut Feyt Slytherins und diesen Fluch verbunden habe, haben mich heute Nacht wiedergeboren. Und ein letztes Mal darf ich die sein, die ich einst war, Rache nehmen und die Totenglocke läuten." Morrigan trat näher an Hermione heran. „Und keiner wird mich aufhalten," flüsterte sie – und man hörte es trotzdem im ganzen Saal so deutlich, dass es allen eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
„Auch wenn Ihr eine Göttin seid," erklang plötzlich Harrys furchtlose Stimme. „Hier sind duzende Hexen und Zauberer anwesend. Es wäre ein Leichtes, euch zu widerstehen. Ihr kommt gegen uns nicht an." Es war ein Bluff. Das wusste er und das wussten auch alle anderen. Er hoffte nur, dass es Morrigan nicht wusste.
Die Göttin sah ihn amüsiert an. „Aber wer redet denn von mir? Ich bin es nicht, die letztendlich euer aller Tod bedeuten wird."
Donner grollte in diesem Augenblick und die Wolken am Himmel verfinsterten sich noch weiter. Weitere Blitze zuckten über die verzauberte Decke.
„Sie werden euer Untergang sein. Sie werden euer Geleit sein. Habt ihr etwa eure Hausaufgaben nicht gemacht?" Sie lächelte finster und begann zu flüstern: „Dies irae, dies illa, solvet saeculum in favilla."
„Dies irae... dies illa..." wiederholte Hermione und murmelte die Worte stirnrunzelnd ein zweites Mal vor sich hin. Sie hatte diesen lateinischen Satz bereits im Buch der Prophezeiungen gelesen. Die freie Übersetzung lautete: Der Tag der Rache, der Tag der Zähren, wird die Welt in Asche kehren. Sie hatte schon beim ersten Lesen gewusst, dass sie diesen Satz irgendwoher kannte, aber sie konnte ihn gedanklich einfach nicht mehr einzuordnen. Auch in den Zauberbüchern in der Bibliothek hatte sie ihn nirgends gefunden... Plötzlich sah sie erschrocken auf.
„Hermione?" fragte Harry besorgt, der merkte, dass etwas in ihr vorging.
„Ich weiß es jetzt!" wisperte sie aufgeregt. „Keine Zauberbücher... es kommt aus der Muggelwelt."
„Hä?" machte Ron verwirrt.
Hermione ignorierte ihn und ignorierte auch Harry. „Es ist ein Requiem, nicht wahr?" fragte sie an Morrigan gewandt. „Ein christliches Requiem."
Morrigan antwortete nicht, doch Hermione sah ihr an, dass sie auf dem richtigen Weg war. Sie hatte mit ihrer Aussage die selbstsichere Fassade der Göttin für einen kurzen Augenblick bröckeln lassen. Ihre Gedanken rasten nun. Dies irae. Dies illa. Diese Worte gingen ihr immer wieder im Kopf herum. Feyt Slytherin hatte Hogwarts also mit dem Text einen Requiems verflucht. Ein Requiem, in dem es um Tod und Rache ging, Sünde und ... Vergebung.
Vergebung? Gnade? Hermione war nun durch ihre eigenen Gedanken verwirrt. Vergebung, Gnade oder gar Demut waren meist Fremdworte für einen Slytherin. Warum sollte Feyt Slytherin ausgerechnet ein solches Requiem aussuchen? Sie kniff die Augen zu und dachte fieberhaft nach. Nicht über die Antwort auf diese Frage, sondern wie das Requiem weiter lautete. Sie wusste, sie kannte es. Vor ihrer Hogwarts-Zeit war sie mit ihren Eltern sonntags immer in die Kirche gewesen. Dieses Requiem hatte dort schon oft Erwähnung gefunden – sie musste sich nur wieder daran erinnern.
Sie murmelte inzwischen die von Morrigan genannte Zeile immer wieder leise vor sich hin. Alle sahen erstaunt – und etwas ängstlich – zu ihr. Morrigan rührte sich nicht.
„Mione?" sagte Harry leise und berührte sie vorsichtig am Arm.
„Ja," antwortete Hermione abwesend. „Ich versuche nur..." Sie wollte ihm gerade erklären, auf was sie gekommen war, da unterbrach sie sich selbst. Sie wandte sich der immer noch selbstgefällig schauenden Morrigan zu. Ein Teil war ihr nun wieder eingefallen. Sie hoffte, dass das genügen würde. „Rex tremendae majestatis," begann sie plötzlich und erntete damit einen schockierten Blick der Göttin, „qui salvandos salva gratis. Salva me, fons pietatis."
(König schrecklicher Gewalten, frei ist deiner Gnade schalten, Gnadenquell, lass Gnade walten.)
„Die Rache kennt keine Gnade," erwiderte Morrigan, doch die Kälte in ihrer Stimme war gemäßigt.
„Warum dann dieses Requiem, Mylady?" gab Hermione zurück und stellte nun die Frage, die sie beschäftigte, seit sie es erkannt hatte. „Warum hat Feyt Slytherin seinen Fluch mit diesem Requiem gebunden? Ein Requiem, das von Gnade, Vergebung und Demut spricht?"
„Weil er es nicht kannte," entgegnete Morrigan hart. „Weil ich es erwählt habe."
„Ihr?" wiederholte Hermione verwirrt.
„Ihr habt von einer Prüfung gesprochen," überlegte Harry laut.
„Dann sollten wir das Requiem also erkennen?" fragte Ron verunsichert.
„Ja." Morrigan nickte. „Wir Götter neigen dazu, die Menschen zu prüfen."
„Und nun?" erwiderte Harry.
„Und nun liegt es an euch, zu sehen, was ihr aus dieser Erkenntnis macht." Sie blickte in die verwirrten Gesichter der drei Schüler und lachte leise auf. „Ihr habt doch nicht etwa geglaubt, es würde reichen, das Requiem zu erkennen und der Fluch wäre gebrochen?" Morrigan erhob ihre Arme in die Luft und wurde urplötzlich zu einem schwarzen Raben, der in den Wolken der verzauberten Decke verschwand. „Es beginnt gerade erst," hallte ihre Stimme von fern. „Eine Möglichkeit gibt es, den Fluch von euch abzuwenden... Eine... Findet ihr sie nicht im Laufe dieser Nacht, wird es für Hogwarts keinen Morgen geben…"
Nachdem die Göttin fort und ihre Stimme verklungen war, war es totenstill in der Großen Halle. Keiner sagte etwas, keiner rührte sich. Der Schock lag allen tief in den Knochen – vor allem in Hinsicht darauf, dass sie bald wiederkommen würde.
„Nun ja," begann Dumbledore schließlich langsam und trat an Harry, Hermione und Ron heran. Er sah sie ermutigend und stolz an. „Die erste Runde haben wir überstanden."
„Die zweite wird bestimmt nicht lange auf sich warten lassen," erwiderte Harry leise.
„Einen kleinen Vorteil haben nur wenigstens," fügte Professor McGongall in Gedenken an das Requiem hinzu. „Ich weiß zwar nicht, ob es sich noch lohnt – aber ich verleihe Gryffindor für den Mut von Harry Potter und Ronald Weasley jeweils 30 Punkte und für die Stärke und Klugheit von Hermione Granger weitere 40 Punkte."
Die drei lächelten matt und die Schüler klatschten zaghaft. In dieser Situation waren auch keine Jubelstürme zu erwarten. Die Freude über die Punkte wurde von viel schwerer wiegender Angst und Unsicherheit überschattet. Sie konnten sich erst darüber freuen, wenn sie diese Nacht überstanden hatten – überstehen würden.
„Professor Dumbledore," begann Harry schließlich. „Warum wurde dieser Fluch durch einen lateinischen Text ausgesprochen? Wir benutzen doch kurze Zauberformeln. Selbst die Unverzeihlichen Flüche sind sprachlich einfach gehalten."
Dumbledore nickte vor sich hin. „In jener alten Zeit war die Zauberei eine sprachliche Kunstform. Zauber lagen in den Reden verborgen, Zauberer suchten sich Wendungen oder Texte aus, um ihre Zauber zu formulieren. Und so wie jede Sprache der Welt sich im Laufe der Zeit gewandelt und vereinfacht hat, ist es auch hier geschehen. Unsere heutigen Zauberformeln sind meist Verkürzungen der damaligen – und dieser spezielle Fluch ist nun eben durch dieses lateinische Requiem und ein Sternenbild gebunden und ausgesprochen worden. Es ist somit kein normaler Fluch, es ist vielmehr eine dunkle Prophezeiung."
„Das heißt, jeder Zauberer, jede Hexe, könnte Zauber schreiben?" warf Hermione nachdenklich ein.
„Jeder. Auch Flüche. Aber das Erschaffen solcher Flüche ist verboten. Früher jedoch war es eine beliebte Waffe in Familienfehden. Dabei war es kaum möglich diesen Flüchen zu entgehen. Viele sind ihnen erlegen. Ganze Familien wurden ausgerottet. Heute gibt es aber kaum mehr solche Flüche – sie sind nur noch böse Erinnerungen an vergangene Zeiten. Märchen. Gruselgeschichten."
„Aber diesen hier gibt es noch. Und er ist kein Märchen," sagte Hermione leise
„Leider ist er das nicht. Das haben wir ja gesehen. Wir wollen hoffen, dass wir einen Ausweg finden und sich diese Prophezeiung nicht erfüllt."
„Professor? Wie oft gelang das schon? Wie oft konnten Flüche dieser Art gebrochen werden?" schaltete sich Ron ein.
„Ich fürchte, nicht sehr oft. Einmal, zweimal... wie ich bereits sagte – es gab viele Opfer..."
„Wir sollten die Schüler in ihre Gemeinschaftsräume bringen," schlug Professor McGonagall vor. „und die Lehrer aufteilen, um sie zu beschützen."
Dumbledore nickte. „Ja, das ist vermutlich das Beste. Severus, übernimm bitte die Einteilung."
Snape nickte nur kurz und ging schnellen Schrittes zum Lehrertisch.
McGonagall trat auf die freie Tanzfläche. „Alle Schüler kehren jetzt bitte in ihre Gemeinschaftsräume zurück. Die Lehrer werden bald zu Ihnen kommen."
„Professor, was geht hier vor?" erkundigte sich Alexia.
„Bitte gehen Sie in Ihren Gemeinschaftsraum, Miss Barrows. Sie werden morgen alles erfahren."
Alexia sah hilflos und fragend zu Harry, Hermione und Ron, von denen alle wussten, dass sie bei Dumbledore und McGonagall bleiben würden. Unter Murren verließen die verängstigten Schüler schließlich die Große Halle. Die Lehrer folgten ihnen und am Ende waren nur noch die drei Gryffindor-Schüler, Dumbledore, McGonagall und Snape da.
„Wir sollten in den Schlosshof gehen," sagte der alte Professor und die fünf anderen folgten ihm wortlos.
