Dies Irae –
Kapitel 12: Die Gunst der Götter
Morrigan stand mit finsterem Blick da. Angesichts der Göttin, vor der das Gryffindor-Mädchen niederkniete, kochte sie innerlich. Feyt, der sich an ihrer linken Seite aufgebaut hatte, stand nur unbewegt da und wusste nicht, was sagen oder tun. Er starrte die Frau in dem hellen Kleid, vor der seine Kampfgegnerin kniete, mit einer Mischung aus Irritation und Wut an.
„Verschwinde, Branwen!" fauchte Morrigan schließlich wütend.
Branwen sah sie ganz ruhig an, dann wanderte ihr Blick szu Hermione, die immer noch vor ihr kniete. Sie bedeutete ihr, sich zu erheben. „Ich folge nur dem Ruf dieses Mädchens." Sie vollführte mit ihrem rechten Arm einen Bogen, um auf alles, was gerade geschah hinzuweisen. „Zurecht, wie ich nun sehe."
„Das hier geht dich rein gar nichts an!" erwiderte Morrigan aufgebracht. „Das Mädchen hatte nicht das Recht, dich zu rufen!"
„Das sehe ich anders," erklärte Hermione trotzig. „Feyt hat Euren Beistand. Es ist nur fair, wenn ich Lady Branwens Beistand erbitte." Hermione funkelte die dunkle Göttin an. „Und immerhin verlange ich keinen Blutpakt!"
Branwen neigte zustimmend den Kopf. Sie hob in einer ausbreitenden Geste die rechte Hand in Sichthöhe. Eine Windbrise entstand, die glitzernd durch den Regen zog. Die Brise wurde zu einem kleinen Wirbel, in dem sich mit einem Mal der Sprechende Hut materialisierte und sanft zu Boden getragen wurde.
Hermione richtete einen fragenden Blick an Branwen. Ihr Blick wies sie an, zum Hut zu gehen. So hob Hermione ihr nasses Kleid etwas an und lief langsam zum Sprechenden Hut, der inzwischen auch schon völlig nass geworden war.
Als sie sich nun näherte, erschien plötzlich ein silbernes Funkeln in ihm. Hermione ging in die Knie und griff danach. Sie spürte plötzlich etwas Festes in ihrer Hand und zog. Es war ein mit Rubinen besetzter Schwertgriff – sie zog ein langes, silbernes Schwert aus dem Hut. Und nicht irgendeines, wie ihr sofort auffiel. Die Buchstaben standen zwar auf dem Kopf, doch Hermione wusste genau, was da geschrieben stand – Godric Gryffindor. Sie schloss einen Augenblick die Augen und atmete tief durch, bevor sie sich wieder vollends aufrichtete und Feyt zuwandte.
Alle außer Branwen sahen diesem Geschehen erstaunt zu. Inzwischen hatten sie das Schwert auch als das von Godric Gryffindor erkannt.
Branwen nickte zufrieden. „Es ist nicht Excalibur, aber es ist genau das Richtige für dich – für eine Gryffindor."
„Na gut," presste Feyt hervor. „Dann kämpfen wir."
Kaum hatte er zuende gesprochen, da stürzte er auch schon auf Hermione zu. Sie parierte den ersten Schlag so gut sie konnte. Und auch die weiteren, die Slytherin auf sie einhageln ließ. Hermione war sich sicher, dass sie in diesem Kampf eine noch schlechtere Figur machte, als Harry zuvor. Sie hatte noch weniger Schwertkampferfahrung – sie hatte gar keine.
Harry versuchte aufzustehen und nach dem Schwert, das noch am Boden lag, zu greifen. Er schaffte es nicht. Der Schmerz schoss wie eine Klinge durch seine Wunde und schnürte ihm die Luft ab. Er sah ein, dass er für Hermione nichts tun konnte. Bei jedem Aufprall der Schwertklingen zuckte er zusammen. Er kroch zu Ron und versuchte ihn zu wecken. Er rüttelte ihn vorsichtig.
„Harry, du musst seine Wunde heilen!" rief Hermione kurz bevor Feyts Klinge erneut auf ihr Schwert niederfuhr. „Der Erste-Hilfe-Kurs! Erinner' dich!"
Harry rollte mit den Augen. Er hatte wegen des Quidditch-Trainings nur die Hälfte des Kurses mitgemacht. Er wünschte sich in diesem Augenblick, dass er mit Hermione die Rollen tauschen könnte. Sie wüsste bestimmt sofort den richtigen Spruch für Ron. Oder wenn Madam Pomfrey da wäre...
„Sanare!" erklang plötzlich eine tiefe Stimme an seiner Seite.
Es war Severus Snape, der neben ihm kniete und seinen Zauberstab über Rons Wunden hielt. Die Wunde schloss sich, Ron begann sich zu regen.
„Danke, Professor," brachte Harry verblüfft heraus.
Snape sah ihn nur an und wiederholte den Spruch, während er mit seinem Zauberstab auf Harrys Wunde deutete. Dann stand der Professor ohne ein weiteres Wort auf und ging zu Dumbledore und McGonagall zurück.
„Harry?" erklang Rons fragende Stimme.
Harry half Ron schnell, sich aufzusetzen.
„Was ist passiert?" brachte Ron heiser heraus und sah wie versteinert dem Kampf zwischen Hermione und Feyt Slytherin zu.
„Das reicht!" brüllte Morrigan, ehe Harry Ron antworten konnte.
Feyt brach seinen Angriff auf Hermione ab. „Mylady, soll ich es beenden? Soll ich sie gleich töten?"
Morrigan antwortete ihm nicht. Ihr Blick war ganz auf Branwen fixiert. „Das ist meine Nacht," donnerte sie. „Du wirst nicht weiter eingreifen!" Zwischen ihren Händen schossen rubinrote Energiefäden hin und her. „Geh!"
„Ich bleibe," erwiderte die andere Göttin ruhig.
Morrigans Blick verfinsterte sich weiter, ihr Gesicht schien regelrecht zu einer Fratze puren Hasses zu werden. Sie sagte nichts weiter, aber die Energie, die ihre Hände umspann, gewann an Intensität.
„Tu das nicht, Schwester," sagte Branwen sanft und leise. „Du weißt, was du mit einem solchen Kampf riskierst. Die Welten sind sich heute zu nahe. Wenn du..."
Morrigan breitete die Arme aus und ließ die Energie auf Branwen los. Die roten Energieblitze schossen auf Branwen nieder. Feyt und Hermione sprangen schnell zur Seite. Harry und Ron, die noch am Boden saßen, wandten sich schützend ab. Die Lehrer errichteten Schutzschilde um sich, ähnlich dem Hermiones.
Branwen ihrerseits konnte den Angriff der Göttin recht leicht abblocken. Die rubinfarbenen Energieentladungen wurden von einem blau-schimmernden Netz, das vor ihrem Körper erstand, absorbiert. Branwen sah Morrigan fragend an. Sie wusste, dass ihrer Schwester klar war, dass ein solcher Angriff nichts bringen würde. Sie verstand nicht, was Morrigan damit bezweckte.
„Morrigan, bitte!" rief sie aus. „Das führt doch zu nichts!"
„Ach ja?!" Morrigan griff sie erneut an. Die Wucht des Angriffs war stärker und überraschte Branwen sichtlich.
„Was tust du?" fragte sie die wütende Göttin verwirrt und ihr Blick wanderte besorgt in den Himmel, an dem sich Veränderungen ankündigten.
Morrigan schleuderte ihre Energieentladungen weiter auf Branwen ein, doch nicht nur auf sie. Die schwarze Göttin war so in Rage geraten und Branwen war so mit ihrer Verteidigung beschäftigt, dass beide nicht merkten, dass Morrigans rote Blitze nach allen Seiten, vor allem aber auch in den Himmel schossen. Die Regenwolken begannen daraufhin einen seltsamen Tanz. Blitz und Donner jagten einander – in blau und rot. Sie verursachten einen ohrenbetäubenden Lärm und schlugen schließlich, einer nach dem anderen, in das seltsame energetische Portal auf dem Schulhof ein.
Als sie den ersten Schock über den Kampf der Göttinnen überwunden hatte, lief Hermione zu Harry und Ron, die gerade aufgestanden waren. Die Blitze konzentrierten sich in zwischen alle auf das Tor. Die Energie, die Morrigan Branwen entgegenschleuderte und die Energie, die Branwen zu ihrem Schutz aufbrachte, wurden von dem Portal regelrecht angezogen und verschluckt – als ob es zu einem schwarzen Loch geworden wäre.
„Was passiert da?" fragte Ron verwirrt.
„Ich weiß nicht..." brachte Hermione heraus. „Aber schau dir Morrigan und Branwen an. Sie wissen es auch nicht." Sie deutete auf die Göttinnen, die von ihren Angriffen abgelassen hatten und sich besorgt und irritiert ansahen.
Harry schüttelte den Kopf. „Nein, schaut doch! Sie wissen es – oder ahnen es – darum sind sie besorgt."
„Morrigan," flüsterte Branwen fassungslos.
Morrigan gewann ihren harten Blick zurück und wollte trotz dieser Geschehnisse weitermachen. Die Blitze waren mittlerweile alle von dem Energiewirbel verschlungen worden. Morrigan sah das als ihre Chance. Alles andere war ihr jetzt egal. Sie beachtete nicht einmal mehr Feyt, dem nun sogar auch ein wenig Angst anzusehen war. Zwischen ihren Händen sammelten sich erneut blutrote Blitze und Branwen stellte sich wieder auf ihre Verteidigung ein. Sie ignorierten beide, dass sich am Himmel wieder das gleiche Geschehen wie zuvor anschickte..
Hermione, Harry, Ron und die Lehrer sahen es – und auch noch etwas anderes. Verblüfft sahen sie zu, wie aus kleinen Lichtpunkten ganz allmählich eine Lichtsäule wurde, die nach ihrem Verblassen eine Frau mit einem silbern-schimmernden Kleid und langem silber-blondem Haar preisgab. Sie war von einer sanft wogenden Aura umgeben, die den Regen abwies. Eine weitere Göttin.
Sie trat langsam auf Morrigan und Branwen zu. „Haltet ein!"
Die beiden Göttinnen wandten sich ihr zu und wirkten mit einem Mal so kleinlaut wie zwei Kinder, die etwas angestellt hatten und ertappt worden waren.
Die gerade erschienene Göttin sah beide scharf an. „Ich fasse nicht, was ihr beide hier tut!" Ihre Stimme halte wie Donner über den Schlosshof, dennoch war ihr Klang ebenso wie die Branwens. Sie sah auf das Energie-Portal, das Feyt gebracht hatte. Das Wirbelmuster war noch aufgebracht von den Blitzen, die hineingeschossen waren. Die Göttin deutete auf das Tor. „Das Chaos ist nun perfekt," sagte sie und zeitgleich veränderte sich das Wirbelmuster abermals.
„Ich habe einen Pakt zu erfüllen, Nicneven," erklärte Morrigan trotzig und sah Branwen mit loderndem Blick an. „Sie wollte mich davon abhalten."
„Morrigan hatte nicht das Recht –"
„Ruhe!" donnerte Nicneven und ließ damit alle Anwesenden, Morrigan und Branwen eingeschlossen, zusammenzucken. „Ihr wusstet, dass es den Göttern verboten ist, in der Samhain-Nacht Streits untereinander auszutragen! Die Welten sind sich nie so nahe wie in der letzten Jahresnacht!" Sie wandte sich Morrigan zu. „Dein Pakt mit Slytherin war schon ein Spiel mit dem Feuer – aber dieser Angriff," gestikulierte sie. „Morrigan, wie konntest du! Der Damm der Welten ist gebrochen."
„Dann werde ich ihn eben wieder schließen," erwiderte Morrigan überheblich.
Branwen gab nur ein verächtliches „Tsss" von sich und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du verstehst mich offensichtlich nicht, Schwester," entgegnete Nicneven und deutete mit ihrem Blick zum Portal, dessen Wirbel immer schneller wurde. „Das Tor führt nicht länger ins Totenreich. Der Damm aller Welten ist gebrochen – und da dieser Rache-Fluch mit deiner Macht verknüpft ist und du nun dieselbe Macht, die dieses Tor geschaffen hat und nun erneut freigesetzt hast, wurde eine Brücke geschlagen."
Morrigan brachte nur ein ersticktes „Was?" hervor und starrte entgeistert auf das Portal. Die Blicke aller anderen folgten ihrem nach. Der Wirbel veränderte seine Farbe – und eine Frau trat heraus. Hermiones und Harrys Augen weiteten sich vor Schreck und Überraschung. Ron klappte die Kinnlade herunter. Die Lehrer waren ebenfalls fassungslos.
Es war eine junge Frau, von Regen durchnässt. Sie hatte langes, dunkelblond-gelocktes Haar, sie trug einen uniformähnlichen, schwarz-blauen Body, an dessen Stehkragen und Zierärmeln Rangabzeichen angebracht waren – es war Hermione. Eine zweite Hermione.
Aber das war längst nicht alles. Kurz nach ihr traten plötzlich noch drei Personen aus dem Energiewirbel heraus. Ronald Weasley, Serverus Snape und Harry James Potter. Auch sie waren uniformiert – und durchnässt. Alle vier wiesen Schrammen und Narben auf, die Kleidung war teilweise schmutzig und zerrissen.
Die drei Männer traten neben die Hermione, die ihnen vorausgegangen war. Sie erwiderten die überraschten Blicke ihrer Doppelgänger.
Nicneven sah den Aufmarsch seufzend zu. Aber sie machte keine Anstalten irgendetwas zu tun.
„Was auch immer hier geschieht," begann Albus Dumbledore. „Als Schutzgöttin der Hexen seid Ihr verpflichtet einzugreifen, Nicneven."
„Nein," erwiderte diese ohne nachzudenken.
„Warum nicht?" entrüstete sich der Harry dieser Welt.
Nicneven sah ihn ruhig an. „Diese Geschehnisse gehören dem Nemesis-Fluch an. Morrigans und Branwens Auseinandersetzung hat die Polarität dieses Tors verändert. Es war von Morrigan dazu gedacht, Feyt Slytherin in das Reich der Lebenden übertreten zu lassen. Doch die ganze Macht und Energie, mit der Morrigan Branwen angegriffen und Branwen zurückgeschlagen hat, hat es verändert." Sie schloss einen Augenblick die Augen. „Morrigan hat euch erklärt, was dies für eine Nacht ist. In der Samhain-Nacht nähern sich die Welten an. Aber nicht nur die Welten der Toten und der Lebenden – nein, auch alle Parallelwelten." Sie sah zu den Neuankömmlingen. „Das Tor führt nun in eine Parallelwelt."
