Dies Irae –

Kapitel 14: Ein Fluch fordert

Die Göttinnen standen abermals schweigend da. Neben ihnen schwebte der durch einen Zauber gefesselte Feyt Slytherin. Einige Meter von ihnen entfernt standen beide Hermiones, von denen die, die in dieser Welt zuhause war, gerade erkannt hatte, was zu tun war, um den Fluch endgültig zu brechen. Jemand musste sterben. Aber wer? Ihr Blick ging durch die Runde: Harry, Ron, Dumbledore, Snape, McGonagall, der andere Snape, der andere Ron, der andere Harry und die andere Hermione, die sie mit seltsam melancholischem Blick ansah – und sich von ihr abwandte.

Hermione sah daraufhin verblüfft zu, wie ihre Zwilling zu dem Professor Snape ging, der mit ihr und ihrem Harry und Ron durch das Tor gekommen war. Trotz des sanften Regens und des Windes, der ihr nasses Haar hin und her peitschte, war zu erkennen, dass die andere nun weinte.

„Es tut mir Leid, Severus..." flüsterte die andere Hermione fast stimmlos. Sie wandte sich von ihm ab und sah ihr Ebenbild an. „Ich werde gehen," erklärte sie mit fester, gefasster Stimme.

Hermione sah die andere erst verwirrt an, dann riss sie ihre Augen ein Stück weiter auf, als sie erkannte, was sie meinte. „Nein!" entfuhr es ihr und machte einen Schritt in den Weg ihrer Doppelgängerin.

Die andere blieb stehen, senkte den Kopf und schloss die Augen. „Wir haben keine Wahl... Ich habe keine Wahl. Ich muss." Sie sah Hermione ernst an. „Die Göttinnen weigern sich, hier einzugreifen." Sie warf einen verachtenden Blick zu Morrigan, Branwen und Nicneven. „Sie könnten das hier bestimmt ganz leicht beenden, aber sie... sie wollen einfach nicht." Sie schüttelte den Kopf. „Kein Wunder, dass sich die Menschen von solch egoistischen Wesen losgesagt haben... Du hast es eben selbst gesagt – einer muss sterben."

„Lass mich gehen," platzte Hermione heraus.

„Nein," sagte ihre Doppelgängerin sanft und lächelte fast. „Du musst leben."

„Aber du kannst dich nicht einfach opfern! Warum willst du das tun?" fragte Hermione in einem Anflug von Panik. Sie konnte und wollte nicht verstehen, warum die andere Hermione so handelte. Und sie hatte plötzlich den Drang ihren Zwilling zu beschützen. Es musste einen anderen Weg geben. Sie war in diesem Augenblick tatsächlich ihre Schwester geworden.

Die andere Hermione atmete deutlich schwerer und kämpfte gegen ihre Tränen an. „Weil ich keine Kraft mehr habe. Ich kann nicht mehr... wenn du wüsstest, wie es um unsere Welt steht..."

„Voldemort?" Hermione fasste es nicht, dass sie diesem Namen so einfach und ohne lange nachzudenken aussprach.

Ihr Zwilling schwieg. Das war Antwort genug. „Er hat vor fünf Jahren wieder die Macht übernommen," sagte sie schließlich leise. „Und er begnügte sich nicht mit der Zauberwelt... Alles liegt in Trümmern. Wir hatten Hogwarts lange verloren. Erst vor einem Monat konnten wir es zurückerobern. Aber um welchen Preis... Dumbledore... McGonagall... So viele sind dabei ums Leben gekommen." In den Augen dieser Hermione brannten nun die Schmerzen der Erinnerung. „Jeder unserer kleinen Siege ist mit Unmengen an Blut erkauft. Ich habe schon vor drei Jahren meine Eltern verloren. Er ließ sie vor meinen Augen hinrichten – und ließ mich dann gehen... Allein Harry, Ron und Severus haben mich in den Stunden am Leben erhalten, in denen ich mich am liebsten umgebracht hätte..." Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie liefen stumm über ihre Wangen, während sie sprach.

„Professor Snape?" wiederholte Hermione ungläubig. Sie selbst wagte es nicht seinen Vornamen auszusprechen, aber ihre Doppelgängerin benutzte nun schon das zweite Mal diese vertrauliche Anrede für den Professor.

Die andere Hermione sah sie verwirrt an. „Ja, natürlich. Er ist doch..." begann sie, ehe sie begriff. „Du weißt es nicht?"

„Ich weiß was nicht?"

„Er ist mein Bruder," erwiderte sie ganz selbstverständlich. „Mein Halbbruder."

„Was?!" entfuhr es Hermione heiser. Sie glaubte, sich verhört zu haben.

„Mione!" rief der Severus Snape der Parallelwelt aus und kam ein paar Schritte näher.

„Warum weißt du das nicht?" Hermiones Zwilling schüttelte den Kopf und sah zu ihrem Bruder.

„Unsere Welten haben sich unterschiedlich entwickelt. Unsere Welt wird von Voldemort tyrannisiert, diese Welt hat es geschafft, seine Rückkehr zu vereiteln. Hier kam es nie zu den Ereignissen, die uns unsere Herkunft offenbart haben," erklärte Severus. „Und sieh sie doch an – sie leben hier in Frieden." Er griff an das Schwert an seinem Gürtel. „Wir dagegen tragen Waffen und kämpfen Tag für Tag."

„Merlin," hauchte Hermione schockiert. Sie wagte es kaum, ihren Blick dem Severus Snape ihrer Welt zuzuwenden – aber als sie es schließlich doch tat, erkannte sie dieselbe Fassungslosigkeit in seiner Miene, die ihrer augenblicklichen Verfassung entsprach.

Die andere Hermione holte unterdessen tief Luft und wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihrem Bruder und ihrem Zwilling ab. Sie ging ruhigen Schrittes zu den drei Göttinnen. „Was habe ich zu tun?" erkundigte sie sich mit gefasster Stimme.

Nicneven sah sie milde an. „Deine Freunde müssen durch das Tor gehen. Sie müssen in ihre Welt zurückkehren. Sie dürfen nicht hier bleiben."

Die Göttin machte eine Geste mit ihrer Hand und auf ihrer ausgebreiteten Handfläche erschien ein kleiner Dolch aus Silber. Es war jener mit Schlangen und Smaragden verzierte Dolch, mit dem Feyt Slytherin einst den Pakt mit Morrigan besiegelt hatte. Hermione nahm ihn.

„Tritt in das Tor. Wenn dein Blut fließt, wird es sich schließen."

Hermione nickte und hielt den Dolch fest mit beiden Händen umschlossen und seiner Klinge nach unten vor ihrer Brust. Sie deutete den Göttinnen gegenüber eine Verbeugung an, die sie ihrer Meinung nach gar nicht verdient hatten, und ging einige Schritte auf die wartenden Hexen und Zauberer zu.

„Geht," flüsterte sie ihren Freunden zu.

Ihr Ron wollte protestieren, wurde aber von ihrem Severus mit einem Blick zum Verstummen gebracht und am Arm mitgezogen. Der Harry ihrer Welt machte unmittelbar vor ihr Halt und sie ließ den Dolch sinken.

„Vielleicht..." begann er und musste sich sehr beherrschen, um seine Tränen zurückzuhalten. „Vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit. Die Göttinnen..." Er verstummte, als ihn Hermione fest ansah. „Ich kann nicht ohne dich weiterleben," flüsterte er heiser.

Sie senkte ihren Blick und blinzelte, um nicht zu weinen. Aber eine Träne entwischte ihr doch. Er hob sanft seine Hand und wischte sie von ihrer Wange.

„Albus und Minerva haben mit ihrem Blut für Hogwarts bezahlt," sagte sie leise. „Heute bezahle ich mit meinem Blut für euch."

„Aber wir könnten unsere Welt wieder zu dem machen, was sie einmal war. So wie diese Welt hier ist. Ohne ihn. Wir können es schaffen... Wir sind stark genug... Ich weiß es."

„Und ich weiß, dass ihr es schaffen werdet," lächelte sie und Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Aber mein Platz ist hier. Ich muss das jetzt tun." Sie sah ihm tief in die Augen. „Und das weißt du auch, Harry." Sie presste die Lippen zusammen, sah zu Boden und ihn schließlich wieder an. „Ihr werdet unsere Welt befreien... und du..." Sie strich ihm mit ihrer Hand über die Wange. „Du wirst dich neu verlieben – und glücklich werden."

Es war eine dieser hohlen Phrasen, von der beide wussten, dass es bestimmt nicht so sein würde – aber trotzdem... Das zu sagen, machte es wenigstens etwas erträglicher.

„Ohne dich?" Seine Augen spiegelten den gleichen Schmerz wieder, den auch die ihren angesichts dieses Abschieds zeigten.

„Ohne mich," erwiderte sie, schaffte es aber nicht, so stark und tapfer zu klingen, wie sie wollte. Sie ließ die Hand, die noch immer seine Wange streichelte in seinen Nacken gleiten und zog seinen Kopf zu sich. Sie küsste ihn – sie legte sanft ihre Lippen auf die seinen und versprach ihm damit ihre ewige Liebe.

„Harry," erklang Severus' feste Stimme.

Die Übrigen, die, die in diese Welt gehörten, schwiegen. Aber sie waren nicht gerade wenig überrascht, über alles, was sie hörten und sahen. Alles in dieser Nacht war... überwältigend – ob in gutem oder schlechtem Sinne. Und sie sahen nun zu, wie der unfreiwillige Besuch aus der Parallelwelt in dem Energietor verschwand.

Ihre Hermione folgte ihnen mit dem Dolch in der Hand, blieb jedoch unmittelbar vor dem Tor stehen und drehte sich noch einmal zu ihrem Zwilling um.

„Aber manche Dinge sind in allen Welten gleich... Schwester," flüsterte sie.

Sie erhob den Dolch und fuhr sich mit der Klinge tief durch die linke Handfläche. Ihr Blut quoll hervor, Tränen liefen ihr wieder über das Gesicht, aber sie schloss mit einem zufriedenen und beinahe glücklichen Lächeln die Augen. Ein einziger Schritt rückwärts genügte und sie stand direkt in der Energie, die sich mit ihrem Blut verband. Der Dolch entglitt ihrer unverletzten Hand und löste sich in den blauen Schlieren auf. Das Blau wurde vom Blut gefärbt und zu einer blau-rot-violetten Marmorierung, in der sich der Körper Hermiones auflöste und überging. Dabei zischten Blitze aus dem Tor 'gen Himmel. Die Energie schwächte sich immer mehr ab und löste sich schließlich ganz auf.

Dumbledore, McGonagall, Snape, Ron, Harry und Hermione sahen in den Himmel. Erst jetzt fiel ihnen auf, dass es aufgehört hatte, zu regnen. Und mit den letzten Energieschlieren, die in den Himmel zogen, begannen sich die dichten Wolken aufzulösen.

Harrys Schneeeule Hedwig erhob sich vom Turm der Eulerei aus in den noch regnerischen Himmel. Sie zog ihre Kreise am Himmel über Hogwarts und man hätte fast meinen können, dass sie damit die Wolkendecke wegzog.

Die Sterne kamen wieder zum Vorschein und alle erkannten, dass die drei unheilvollen Sterne über Hogwarts an Intensität verloren. Die Planeten Mars, Pluto und Saturn zogen wieder von ihren schicksalsträchtigen Plätzen am Himmel ab. Und weit in der Ferne wurde der Himmel schon etwas heller. Es war überstanden. Die Samhain-Nacht war überstanden. Der Fluch war aufgehoben.

„Nun dann," brach Nicneven die Stille. „Die Götter werden nicht länger gebraucht. Diese unselige Zusammenkunft sei hiermit beendet."

Morrigan und Branwen verneigten sich vor Nicneven. Morrigan verwandelte sich in einen schwarzen Raben und flog schnurstracks davon. Gleichzeitig löste sich der durch einen Zauber gebannte Feyt Slytherin auf. Branwen erhob ihre Arme und wurde zu einer Windbrise, die durch Hermiones noch halbnasses Haar zog und im Himmel verschwand. Nicneven selbst machte ein paar Schritte auf die Menschen zu.

„Es war nötig, dass dieses Mädchen ihr Blut vergossen hat," begann die Göttin mit ihrer sanften Stimme. „Ihr werdet das jetzt vielleicht nicht verstehen, ehrenwerte Hexen und Zauberer – aber so ist nun mal der Lauf der Dinge. Ein Fluch fordert. Auch wenn er besiegt ist oder besiegt scheint... Die Allianz zwischen Morrigan und Feyt Slytherin war nicht rechtens, ebenso wenig Branwens gutgemeintes Eingreifen. Sie haben gegen unsere höchsten Regeln verstoßen, indem sie dieser Weise agierten und sich gegen ihr eigenes Schicksal stellten. Aber deshalb darf ich nicht ebenso handeln. Auch wenn es um ein Menschenleben geht..." Nicneven neigte respektvoll den Kopf und trat einen Schritt zurück.

„Werdet Ihr nun gehen?" fragte Hermione leise.

„Ja. Morrigan und Branwen sind bereits in die Ewigkeit zurückgekehrt. Für mich wird es nun auch Zeit. Aber zuvor sollt Ihr noch etwas wissen, was es vielleicht etwas verständlicher macht – alles was heute Nacht geschehen ist, war genauso vorherbestimmt." Sie sah Hermione an. „Nur dieses Mädchen, nur du hattest die Macht den Fluch aufzuheben."

„Was... warum?" flüsterte Hermione heiser und war den Tränen nahe.

„Warum konntest du Branwen wohl herbeirufen? – Weil Branwen darauf gewartet hatte. Sie sah, was Morrigan einst tat. Sie lag schon damals mit ihr im Streit und so schuf sie passend zum existenten ‚Schlupfloch' in diesem Fluch ein Puzzleteil, das genau hineinpasste. Ein Gegenstück um das Gleichgewicht zu halten. Sie ließ zu Feyt Slytherin, der den Fluch mit seinem Blut begonnen hat, einen Gegenpart entstehen, der dem Fluch mit seinem Blut wiederum ein Ende setzten konnte. Und das bist du," erklärte die Göttin und sah Hermione direkt in die Augen. „Du – in jeder Welt, die existiert."

Hermione presste die Lippen zusammen und schüttelte langsam den Kopf, während die ersten Tränen über ihre Wangen rollten. Sie wollte eine Frage stellen, doch sie brachte keinen Ton heraus.

„Deine Geburt hat dich dazu bestimmt," antwortete Nicneven auf Hermiones unausgesprochenen Frage. „Feyt Slytherin wurde am 19. Tag des Monats September geboren. Genau wie du."

Schweigen. Nach dieser Offenbarung wagte keiner etwas zu sagen. Auch die Göttin sprach nicht weiter. Sie neigte lediglich den Kopf und trat einen Schritt zurück. Sie erhob ihren Blick in den Himmel und wurde zu einer Lichtsäule, die sich in den Himmel des beginnenden Morgengrauens erhob und mit dem nun verblassenden Leuchten der nächtlichen Sterne verband.