Eonwë saß auf seinem Thron und genoss die Stille, welche in seinen Hallen herrschte als das Mondlicht zwischen den hohen Säulen auf die polierten Bodenplatten fiel. Sein Finger zeichnete imaginäre Muster auf der samtenen Lehne. Den anderen Ellenbogen darauf gestützt verharrte er einen Moment in seiner Bewegung. Ihm war, als wenn er etwas gehört hätte, verwarf es jedoch gleich wieder als Einbildung seiner Sinne. Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. Irgendetwas erwartungsvolles lag in der Luft, aber was es war konnte er nicht sagen. Schwermütig erhob er sich von seinem Thron und ging langsam die Treppe hinunter, auf deren Ende sich der Thron befand. Er ging vorbei an den vielen gekreuzten Waffen und Schilden, mit welchen die Wände behangen waren. Sein Wappen hing zu beiden Seiten am Ende der Halle dort wo die Säulen begannen und das Mondlicht den Boden liebkoste. Mit dem Mondschein auf seinen Zehenspitzen blieb er stehen und blickte hinaus in die klare Nacht. Das Firmament war in ein silbernes Sternenkleid gehüllt. Varda hatte wieder wundervolle Arbeit geleistet. Seine Fingerspitzen berührten leicht das kühle Gestein neben ihm, aus dem die Säule gehauen war, als er weiter hinaus auf die Terrasse trat und sich auf das Geländer niederließ.

Der Wind verfing sich in seinen blonden Strähnen und spielte mit ihnen ein wenig. Die kühle Brise strich sanft über seine Wangen. In weiter Ferne hörte er jemanden auf der Harfe spielen. Sanft und doch etwas wehmütig waren ihre Klänge und sie machten es Eonwë nicht leichter gegen dieses unwohle Gefühl in seinem Magen anzukommen. In Gedanken versunken ließ er seinen vernebelten Blick unbestimmt über Valimar schweifen. Die Stadt der Valar lag seinen Hallen zu Füßen. Ihr Glanz ließ selbst in der Dunkelheit nicht nach.

Erst als die Schritte hinter ihm lauter durch den Gang hallten, wurde er der Gegenwart wieder gewahr. Wie er die hatte überhören können, war ihm unklar.

Erwartungsvoll drehte er sich um, so konnte es sich nur um eine Person handeln, welche um diese späte Stunde noch in den Gängen herumirren konnte.

"Sindenwë, was ist passiert?" Er legte seine Stirn in sorgenvolle Falten als sich der Elb ihm näherte.

Verwirrt blickte der Vanya um sich und wenn er auch froh war, Eonwë begegnet zu sein, so blieb das gewohnte Lächeln auf seinen Lippen aus.

Sein Gewand war schweißgetränkt und haftete an seinem muskulösen Körper beinahe wie eine zweite Haut. Nervös fuhr er sich durch das nasse Haar. Den Mund geöffnet, doch kein Wort fand den Weg aus seiner Kehle, so blieb er schließlich vor Eonwë stehen und schaute ihn hilflos an.

"Wieder einer dieser Albträume?" Eonwës Hände ruhten nun auf seinen Schultern, um ihm einen geringen Trost zu spenden, denn er wusste, den Trost, den Sindenwë suchte, konnte ihm keiner geben.

Ein wortloses Nicken folgte als Antwort und sein Blick fiel hinunter auf die kalten, mondbeschienenen Steinplatten. "Sie werden immer lebendiger..." brachte Lossë kaum hörbar über seine Lippen. Eonwë führte ihn zu einer nahestehenden Steinbank und beide nahmen Platz. Besorgt wartete er darauf, dass Lossë sich wieder fasste und weitersprach, den Blick prüfend auf dessen Antlitz gerichtet. Auch wenn er sehr mächtig war, so wusste er nicht, wie er seinem Herold helfen konnte.

Lossë atmete einmal tief durch und versuchte seine verwirrten Gedanken in Worte zu fassen.

"Ich habe das Gefühl, dass mir diese Träume irgendetwas sagen wollen...", fing er schließlich an, "Aber ich weiß nicht, was es ist..." Er ließ seinen Blick auf die Stadt weit unter den Hallen fallen. "Vielleicht ist es auch einfach nur zu leicht und ich erkenne es nicht." Wieder setzte er eine Pause ein, als wenn er sich von einem großen Gefühlschaos erholen müsste. Er spürte wie die Kälte unter sein Hemd kroch und schlang beide Arme um den bebenden Brustkorb. "Der Traum wird von Nacht zu Nacht immer klarer und das macht mir Angst. Ich habe die Dinge noch nie so gesehen wie ich sie heute im Traum wahrgenommen habe. Ich kann mir nicht helfen, aber es beunruhigt mich... und es nimmt kein Ende."

Eonwë legte seine Hand auf Lossës Schulter und verstärkte seinen Griff ein wenig in der Hoffnung sein Gemüt etwas zu erleichtern.

"Was hat dies zu bedeuten?" fragte Lossë und sah ihm plötzlich direkt in die Augen.

Resigniert ließ Eonwë den Kopf sinken und wich Sindenwës Blicken aus. "Ich weiß es nicht, mein Freund. Und auch wenn ich es wüsste, so könnte ich Dir nicht helfen. Der einzige, der hierauf eine Antwort finden kann, bist Du." Er sah ihn wieder an und legte seine Hand auf Sindenwës Brust. Stark und impulsiv schlug das Herz darin, er konnte es deutlich unter dem durchnässten Hemd spüren. "Du hast Angst." stellte Eonwë fest und lächelte sanft. "Doch das ist nur verständlich. Die Träume, welche uns geschickt werden, sind Botschaften, die nur der Eigentümer enträtseln kann."

"Aber ich verstehe sie nicht! Jede Nacht wache ich auf und frage mich, warum mir das passiert. Und jede Nacht erinnere ich mich an immer mehr Einzelheiten..." Er seufzte leise und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, das Bild seines verwesten Freundes deutlich in sein Gedächtnis gebrannt. Sein Leib zitterte leicht bei diesem Gedanken. "Mein Herz wünscht sich nichts Sehnlicheres als Wiedergutmachung, nur fragt sich mein Herz auch, wie ich dies vollbringen soll."

Wieder trat ratloses Schweigen ein.

Sindenwë konnte nur mit großer Mühe die Tränen zurückhalten, die er schon seit langem weinen wollte. "Ich habe ihm nicht Lebwohl gewünscht als er Aman verlassen hat und nach Endor aufbrach. Das ist also meine Bestrafung."

"Wenn Du es so betrachtest, dann wirst Du die Antwort wahrlich nicht in Aman finden können." Etwas lag in Lossës Augen als Eonwë das sagte. Es war weder Verwunderung noch Angst, vielmehr flammte ein unverkennbares Feuer in seinen Augen auf, getrübt von schrecklichen Erinnerungen.

"Ich wusste, dass Du das sagen würdest, mein Freund." Die Kälte kroch um seinen zitternden Leib schlingend hinauf.

"Wir sollten das Gespräch drinnen weiterführen." meinte Eonwë als er ihm seine Oberrobe um die Schultern legte.

Ohne Widerrede ließ sich Lossë den Gang hinunter zu der Feuerhalle führen. Er war dankbar, dass sie die einzigen waren, die zu dieser späten Stunde die Feuerstelle aufsuchten. Leise stahlen sie sich hinein und schlossen die Tür hinter sich. Eonwë stellte zwei Stühle mit hohen Lehnen nah an die Feuerstelle während Lossë nichtstuend noch bei der Tür stand und zuschaute. Erst als er herbeigewunken wurde, bewegte er sich auf die wohltuende Wärme zu. Der Samt unter ihm raschelte leise als er sich auf den Stuhl niederließ. Er blickte zur Seite als er das Klirren von Gläsern hörte. Eonwë schänkte Wein in zwei kristallene Gläser ein und bot ihm eines davon stumm an. Ohne ein Wort nahm er es an und nippte kurz. Der Wein belebte seine müden Knochen, während die Wärme des Feuers sein Hemd trocknete.

Beide saßen sich schweigend gegenüber.

Nur das Knistern des Feuers durchbrach die Stille.

Lossë senkte den Blick und schaute durch die tänzelnden Flammen hindurch. Diese Augen hatten Leid gesehen, zu viel Leid. Die Erinnerungen daran waren überwältigend und er wusste nicht so recht mit den Bildern umzugehen, die sich eingebrannt hatten als er seine Freunde und seine Familie sterben sah.

"Ich hatte geahnt, dass Du dies sagen würdest." flüsterte er über den Rand seines Weinglases hinweg, den Blick immer noch hypnotisiert auf das lodernde Feuer gerichtet. "Ich hatte gehofft, etwas anderes zu hören, aber scheinbar ist mir dies nicht bestimmt. Soviel hab ich bereits gesehen... Manches so wünschte ich hätte mir erspart bleiben sollen." Versunken in Erinnerungen hielt er für einen kurzen Augenblick inne bevor er Eonwë schließlich direkt ansah. "Wenn ich die Antwort hier nicht finden kann, dann bedeutet es, dass ich ihm folgen muss... Dort wo ich meinen Vater zurücklassen musste..." Mit beiden Händen umfasste er das Weinglas. "Wenn mir die Wahl bliebe, würde ich meinen Weg nie wieder dorthin leiten müssen."

"Aber Du kannst Deine Träume nicht weiter ignorieren." wandte Eonwë ein und setzte sein Glas ab. "Du musst herausfinden, was sie bedeuten, sonst werden sie Dich auf ewig verfolgen und Du verpasst somit Deine vermutlich letzte Chance das Geheimnis zu lüften."

Traurig und doch etwas erschrocken blickte Lossë auf seine Hände. Er stellte sein Glas auf den kleinen Nebentisch zwischen den beiden Stühlen ab und betrachtete wendend seine Hände.

"In jedem Traum bin ich machtlos, obwohl sie doch schon soviel geleistet haben. Ich kenne den Lauf, aber ich kann ihn nicht ändern... nicht mit meinen eigenen Händen. Ich bin wie gelähmt..." Der Schein des Feuers tanzte lebhaft auf seinem Antlitz. "Und am Ende sehe ich immer wieder diese kleine blaue Feder..." Ihm stockte fast der Atem als er diese erwähnte. Mit geweiteten Augen starrte er Eonwë an. "Ich habe sie nicht nur in meinen Träumen gesehen!" Energisch erhob er sich vom Stuhl und verringerte die Distanz zu seinem Freund. "Sie ist mir unmittelbar nach meinem Traum erschienen...! Sie leuchtete so rein und unschuldig wie das Licht Telperions in seiner vollen Blütezeit bevor er zerstört wurde!" Er ließ sich auf die Knie fallen und starrte immer noch ungläubig auf seine Hände.

Eonwë rüttelte an seinen Schultern so als wenn er ihn aus einem Tagtraum erwecken wollte. "Dann ist es Zeit für Dich zu gehen, mein Freund."

Wie benommen saß Lossë zu seinen Füßen und es verging wiederum eine Weile bis er die Sprache wiederfand. "Werde ich jemals wieder nach Valimar zurückkehren können sowie ich meine Antworten gefunden habe?"

Eonwë lachte erheitert auf, freundlich blickten ihm seine Augen entgegen. "Du hast uns noch nicht verlassen und denkst schon an Deine Wiederkehr?"

Traurig senkte Sindenwë den Blick. "Mir fällt es schwer, mich von Aman zu trennen. Ich habe hier solange in Frieden gelebt."

"Dein Leben war lang und erfüllt. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Moment, an dem Dich Dein Vater zu mir schickte und mir Deine Erziehung zur Aufgabe machte. Ich möchte mich nicht selbst rühmen, aber ich denke, ich habe meine Aufgabe gut erfüllt. Dich aufwachsen zu sehen, bereitete mir eine große Freude, und auch mir fällt es schwer, Dich ziehen zu lassen..." Eonwë suchte nach den passenden Worten. "Doch ich bin nicht blind! Dies bedeutet Dir sehr viel und wenn Du musst selber abwägen, was Dir wichtiger ist." Er hob Lossës Kinn und zwang ihn somit zum direkten Blickkontakt. Er beugte sich zu seinem Gesicht hinunter bis sich fast ihre Nasenspitzen berührten. "Brich auf! Noch heute Nacht!" flüsterte er ihm zu und sah ihn eindringlich an.

Lossë blieben die Worte im Halse stecken und nickte nur langsam.

"Am besten Du packst sofort das nötigste zusammen. Ich werde alle Vorbereitungen treffen, damit Deiner Abreise nichts im Wege steht. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Círdans Schiff in den nächsten Tagen ausläuft. Das Glück scheint Dir besonnen zu sein, mein Freund."

Immer noch sprachlos starrte Lossë ihn an.

Das Feuer in seinem Rücken knisterte und ließ ihn die Hitze in vereinzelten starken Wellen spüren. "Bleibt mir eine andere Wahl?" fragte er so leise, dass er mit sich selbst zu reden schien. "Ich möchte..." Er sah Eonwë direkt an, Willenskraft und Stärke belebten seine Augen. "Ich will... Ich kann mich nicht von den anderen verabschieden. Wenn ich sie noch einmal vor meiner Abreise sehen sollte, könnte ich Aman nicht verlassen. Ich weiß nicht, ob ich wiederkehren werde und ich möchte den anderen die Last des Abschiedes ersparen..."

"Wenn es das letzte ist, was ich Dir noch gewähren kann, so möchte ich nicht derjenige sein, der Deinen Willen nicht respektiert. Aber nun geh und bereite Dich auf eine lange Reise vor..."

Sindenwë nickte nur kurz, erhob sich und verließ entschlossenen Schrittes die Feuerhalle. Das Hemd wehte um den kräftig gebauten Körper und eine leichte Brise verfing sich in seinen Strähnen als er in der Dunkelheit des Flurenlabyrinths verschwand.

Eonwë blieb in der Halle allein sitzen und nippte an seinem Glas Wein. Sein Blick verlief sich in der Feuerpracht vor ihm.