"Hab ich nun wirklich alles, was ich benötige?" sprach er mit sich selbst im verwegenen Ton und fingerte nervös an dem Amulett herum, welches silbern glitzernd über seiner Jacke thronte. Isil stand bereits tief über den Bergen im Westen und noch einmal genoss Sindenwë den friedlichen Ausblick aus seinem Fenster. Sanft berührten seine Fingerspitzen die Glasscheibe, welche ihn vor der frischen Brise außerhalb bewahrte. In einem Schwung öffnete er die Türen zum Balkon hin und trat hinaus in die sternenbehangene Nacht. Bald würde sie dem Tag ihren Tribut zahlen und vor Ariens Licht weichen. Und mit der Nacht würde auch Lossë gehen.
Kühl umfing ihn der Wind und spielte mit seinen Haaren.
Lossë stützte sich auf das aus Stein gehauene Geländer und sog genüsslich die süßlich duftende Luft ein. Die Baumwipfel vor seinen Augen wogen sich im Gleichklang mit Manwës Atem und das Rascheln der Blätter erschien ihm wie ein Flüstern... so als wenn sie ihm Lebewohl sagen wollten. Dunkelgrün und düster stachen sie unter dem Sternenhimmel hervor, obwohl Lossë wusste, dass sie von lebendigeren Farben waren sobald Ariens Licht auf sie fiel. Er rief die Erinnerung vor seinem inneren Auge wach und der Hauch eines Lächelns spiegelte sich auf seinen Lippen wieder. Es blieb ihm keine Zeit mehr, diesen Anblick ein letztes Mal gewahr zu werden, und bei dieser Erkenntnis seufzte er leise.
Ein ungewöhnlich lautes Rascheln unterm Balkon riss ihn aus seinen Gedanken und er sah hinunter. Etwas graues huschte zwischen den Zweigen im Unterholz umher, und auch wenn er es nicht genau erkennen konnte, so wusste er doch, was es war.
"Silveran!" rief er .
Das graue Getier hielt inne und richtete seine Ohren nach der Stimme. Auf leisen Pfoten kam es aus dem Unterholz geschlichen und gab den Blick auf seinen geschmeidigen Katzenkörper frei. Blaugraue Augen schauten hinauf, scharf und eindringlich war ihr Blick. Das Fell leuchtete unter Isils Licht auf.
»Komm rauf.« forderte Sindenwë seinen alten Freund in Gedanken auf.
Er musste nicht lange warten und schon war Silveran in kurzen, kräftigen Sprüngen die Treppe zum Balkon hinaufgesprungen. Erfreut ging Sindenwë in die Hocke, um ihn zu begrüßen, doch etwas stimmte nicht mit ihm. Misstrauisch blieb er auf der letzten Stufe stehen und betrachtete ihn eindringlich. Seine Augen verengten sich und er fletschte die kräftigen Hauer als sich seine Ohren nach hinten anlegten und ein leises Knurren aus seiner Kehle kam. Er sträubte das Fell und wich zurück sobald sich Sindenwë ihm zu nähern versuchte.
»Aber was ist denn los?« Silveran besaß nicht das nötige Wissen, um Wörter oder gar Sätze in seinen Gedanken zu bilden, aber er war zu Emotionen fähig und Veränderungen nahm er sensibel auf. Sindenwë sah ihm in die Augen und wusste, dass Silveran seinen bevorstehenden Abschied erahnte. Seufzend ließ er sich auf Knien nieder und ließ den Blick auf die kalten Steinplatten unter ihm sinken.
»Ich verlasse Dich nur ungern, mein treuer Freund. Aber mein Frieden in Eonwës Hallen ist zuende und ich werd ihn nirgends in Aman wiederfinden. Versteh bitte, dass ich nicht länger bleiben kann...« Er suchte nach Zustimmung in den Augen der großen Katze und einen Augenblick lang glaubte er, ihn zu verlieren. Aber dann erst zögernd, dann entschlossen schritt Silveran auf ihn zu und liebkoste sein Gesicht mit der kalten, feuchten Nase. Erleichtert vergrub Lossë seine Hände in dem dichten Fell der Katze als Silverans Kopf an an seinem Ohr rieb.
Der Abschied würde ihm nun noch schwerer fallen, da er eigentlich vorgehabt hatte, sich heimlich und im Stillen davonzustehlen. Ein Blick in Silverans Augen verriet ihm, dass er ihn nicht so ohne weiteres gehen lassen würde.
"Komm mit..." sagte er einfach nur, stand auf und ging wieder zurück in sein Gemach.
Das leise Tapsen hinter ihm verriet ihm, dass er ihm folgte. Missbilligend schnüffelte er an Sindenwës Gepäck. Belustigt und traurig zugleich schaute Lossë sich das Schauspiel an bevor er sich in seinen weißen Umhang hüllte und nach dem Beutel griff, der auf seinem Bett lag.
Knurrend biss sich Silveran darin fest und zerrte solange daran herum bis Lossë mahnend die freie Hand hob. Nur schwermütig gab das Tier nach und ließ den Beutel wieder los.
Er kniete vor der stolzen Katze nieder und griff tief in ihr Fell hinein.
"Mach es mir doch nicht noch schwerer..." flüsterte er als wenn er zu sich selbst spräche.
Liebevoll kraulte er ihn hinter den Ohren, was Silveran sichtlich mit geschlossenen Augen genoss. "Auch wenn wir beide es nicht wollen... Nichts kann mich davon abhalten aufzubrechen."
Plötzlich sah er den Elb vor sich mit tiefblauen Augen mit einem Hauch von grauen Wolken so wie das Meer bei Morgengrauen sich sanft gegen die Klippen wog. Er richtete sich auf ohne den Blickkontakt zu brechen. Schnurrend schnüffelte er noch einmal an Sindenwës Hand und stupste sie an so wie im Spiel... Doch dies war kein Spiel. Viel zu zaghaft berührte er die Hand des Elben, fast wehmütig. Sprachlos machte es den Vanyar und er verstand, was sogleich geschehen würde. Tränen verschleierten seinen Blick, doch er nahm alle Kraft zusammen, um sie zurückzuhalten. Das leise Wimmern in seiner Stimme konnte er jedoch nicht zurückhalten. Langsam, ja fast träge hob Silveran den Kopf. Beider Nasen berührten sich fast. Sindenwë konnte den ruhigen Atem seines Freundes auf seinen Wangen spüren.
Er vergrub sich noch einmal in dessen Fell. Es fühlte sich so weich und warm an... und er hätte es am liebsten nicht mehr losgelassen. Doch was er nicht konnte, tat schließlich Silveran.
Das Tier wich einen Schritt vor ihm zurück, betrachtete den Elben noch einmal eindringlich und drehte sich dann um, nie wieder zurückblickend.
"Namarië, mellon-nya." Er hörte die sanften Pfoten durch das Unterholz schnellen, wagte es aber nicht hinauszuschauen.
Er wischte sich die Tränen aus den Augen, nahm seine Tasche und verließ sein Gemach.
