Wie doch die Morgensonne wärmte! Jenrya Lee fühlte die goldenen Strahlen in seinem Rücken, während er die Schultasche auf einer Schulter tragend die Straße entlang lief. Ein schönes Gefühl. Diese Leichtigkeit, die er jetzt verspürte, mit der er diesen Morgen schon erwacht war, das war eindeutig etwas Neues in seinem Leben.

Lange Zeit hatte er so ein Gefühl nicht gekannt, hätte es vielleicht auch als Schwäche gesehen, mal nicht erwachsen, nicht unabhängig zu wirken. Er war froh, jetzt zusammen mit Takato in einer Klasse zu sein. Wie oft hatte es dieser Junge nur allein mit seinen braunen, immer freundlich leuchtenden Augen geschafft, ein Lächeln auf Lees Lippen zu zaubern! Auch jetzt lächelte er, freute sich einfach auf die Stunden, die sie zusammen verbringen würden. Mit Takato war der Schulweg ein Spatziergang und die Stunden zusammen im Klassenraum viel zu schnell vorbei. Diese Freundschaft, ja, sie war viel mehr, als er sich noch vor zwei Jahren hätte vorstellen können.

In seiner Zeit als Tamer hatte er gelernt, wie wichtig Vertrauen war, sowohl zu Terriermon als auch zu seinen Freunden. Davor hatte er nie richtige Freundschaft gekannt, war immer distanziert und manchmal sogar gewalttätig zu anderen gewesen. War es das Vertrauen, das aus ihm einen anderen Menschen gemacht hatte? So wie Terriermon ihm die Bedeutung gezeigt hatte, auf jemanden zählen zu können, so war ihm durch Takato klar geworden, was Freundschaft bedeutet: Sich für jemanden zu öffnen, ihm beizustehen, wann immer es nötig sei. 

Nun war Terriermon nicht mehr da. Er hatte viel opfern müssen für das, was ihm wichtig war: Seine Freunde, die Eltern, ja die ganze Stadt, das alles hatte er geholfen zu retten. Jenrya schaute sich um. Der Verkehr auf der Hauptstraße hatte langsam zugenommen und Ströme von Passanten kamen über die große Kreuzung in West Shinjuku. So viele Menschen, jeder mit seinen eigenen Problemen, teilweise mit müden, auch mit gestressten Gesichtern. Jenrya lächelte noch immer. Niemand lächelte zurück.

„Du siehst heute so anders aus, Onichan. Hast du etwas Schönes geträumt?", das hatte ihn seine kleine Schwester heute früh gefragt. Mit einem Tonfall, der mehr an den berühmten Wink mit dem Zaunpfahl erinnerte als an kindliche Neugier, hatte sie hinzugefügt: ‚Du holst doch heute wieder Takato von zuhause ab... Du magst ihn, nicht wahr?'

Bei dieser Erinnerung blickte Lee mit einem beschämten Gesichtsausdruck auf den Gehweg, als befürchtete er hier auf der Straße erneut zu erröten.

Ja, er mochte Takato und es war mehr als nur Freundschaft. Sicher, sie waren von Anfang an Freunde gewesen, gute Freunde sogar, aber spätestens als sie in eine Klasse gekommen waren, hatte er den Jungen mit den haselnussbraunen Haaren aus einem anderen Blickwinkel gesehen.

Warum war es anders geworden? Warum musste er Takato immer nur ansehen, sehnte sich auch jetzt wieder nach seiner Nähe? Und dann war da noch dieser Traum, auch er war so ganz anders als die unschuldigen Phantasien die er zuvor erlebt hatte. Wie konnte nur etwas so schön sein, was eigentlich so beunruhigend sein müsste?

Jenrya lief schneller, fast so als wolle er das Klopfen seines Herzens einholen. Den gewohnten Weg bis zur Bäckerei der Matsudas waren seine Füße wie von selbst gegangen. Noch ein paar Schritte um ihn wieder zu sehen. Er würde einfach in der Tür stehen, die Schultasche auf dem Rücken und vielleicht sogar mit seiner Fliegerbrille auf dem Kopf. Und dazwischen würde er die zwei unschuldigen braunen Augen erblicken und einen lächelnden Mund, immer bereit über so vieles zu sprechen, bis auf jenes eine Gefühl, das selbst Jenrya nicht auszusprechen wagte. Bemüht nicht an das Pochen in seiner Brust oder an den Traum der letzten Nacht zu denken, würde Lee neben ihm gehen, es einfach nur genießen, bei ihm zu sein.

Mit einem einladenden ‚Ping' öffnete sich die automatische Tür der Bäckerei. Jenrya zögerte, kein Takato lächelte ihm entgegen, der Laden war menschenleer. Für einen Moment stand er einfach nur in der Tür, atmete den Duft von frischen Brötchen ein und wartete auf seinen Freund. Dann trat er einen Schritt vor, immer noch zögernd, als spürte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein weiteres ‚Ping', dann hatte sich die Tür hinter ihm wieder geschlossen.

„Warten Sie bitte... ich k...komme gleich!", durchbrach es die Stille.

„Frau Matsuda?", Jenrya konnte seine Unruhe nicht unterdrücken, in ihren Worten hatte Verzweiflung mitgeklungen. „Ich möchte Takato abholen", rief er in die Richtung aus der die Stimme von Takatos Mutter gekommen war.

Schritte erschallten von der Treppe, dann erschien sie hinter einem Vorhang: Eine Frau Ende Dreißig, sie hatte sich die Bäckerschürze nur halb umgebunden, stand vor ihm.

„Lee Jenrya... Ich habe bei euch angerufen, aber es hat niemand abgenommen."

„Meine Mutter bringt Shuichon zur Schule und ich wollte Takato... Ist Takato krank?"

Sie hob ihren Kopf, blickte direkt in das unwissende Gesicht vor sich. „Willst du mir sagen, dass du nicht weißt, wo mein Sohn ist?" In ihren Augen standen Tränen. Eine letzte Hoffnung in ihr war erloschen.

Dann erzählte sie mit nunmehr kraftloser Stimme, wie sie das Bett ihres Sohnes schon kalt vorgefunden, die Nummern seiner Freunde vergeblich gewählt hatte und dass nun sein Vater mit dem Auto nach ihm suchte. Zögernd zeigte sie Jenrya die kurze Abschiedsbotschaft.

Sie wartete bis er seine Augen von der Nachricht abwendete.

„Ich kann nicht glauben, dass er weggelaufen ist." Bemüht ihre Verzweiflung zu unterdrücken fuhr sie fort: „Nicht nach dem, was vor zwei Jahren geschehen ist. Wie konnte er nur so etwas Dummes machen?"

Jenrya antwortete nicht. Er blickte ihr nur in die Augen, diese sorgenvollen, aber klaren Augen, die ihn so sehr an die ihres Sohnes erinnerten. Was half es, wenn er ihr sagte, dass er genauso überrascht war, dass er geglaubt hatte, seinen Freund zu kennen?

In ihrem Blick war etwas, das ihm das Gefühl gab, für Takatos Verschwinden verantwortlich zu sein. So wie sie ihn ansah, schien sie zu erwarten, dass er ihren geliebten Sohn sogleich aus der Tasche ziehen würde.

„Er hat in der letzten Zeit immer nur von dir geredet, Jenrya. Kein Wort über Gillmon", fügte sie hinzu, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

Lees Herz hatte sich verschlossen. Nur mit Mühe schaffte er es ihr weiter zuzuhören. Er wollte seinen Kopf abwenden, nicht mehr in diese traurigen Augen sehen müssen. Er wollte erst einmal verarbeiten, was er soeben gehört hatte, eine Zeit lang über seine Gefühle für Takato nachdenken. Ihr Blick ließ es nicht zu. Er hatte keine Zeit, das wusste er nun.

„Frau Matsuda", es war das Erste, was er sagte, seit sich ihre Augen getroffen hatten, „hat Takato sein Digivice mitgenommen?"

„Sein... was?" Ihr seltsamer Blick war verschwunden, nur Verwirrung stand in ihrem Gesicht.

„Ein kleines Gerät, er bewahrt es immer... Darf ich in seinem Zimmer nachsehen?"

Sie nickte. „Du kennst den Weg..."

Takatos Zimmer bot einen unaufgeräumten Anblick. Jenrya wusste nicht, ob Takato es so zurückgelassen oder seine Eltern nach etwas gesucht hatten. Bei seinem Weg zum Schreibtisch musste er über zahlreiche Hefter und Bücher steigen, Takatos Schultasche konnte er nirgends sehen. Ihr Inhalt war auf dem Boden verstreut, nur ein kläglicher Rest an Notizblättern und Heften lag noch gestapelt auf dem Tisch. Zielsicher öffnete er die oberste Schreibtischschublade, erwartete ein rotes Licht in einem goldenen Rund zu erblicken.

Takatos Digivice war das letzte der Tamer, das sein Leuchten behalten hatte. Nach und nach hatten alle anderen Kartenleser, die ursprünglich die Verbindung zwischen Tamer und Digimon ermöglichten, ihre Funktion eingestellt.

Damals hatte Jenrya diese Besonderheit seinem Vater zeigen wollen, doch Takato hatte ihm nur geantwortet: „Was soll daran besonderes sein? Solange ich fest daran glaube, Gillmon wiederzusehen, wird es leuchten und irgendwann wird es mich zu ihm führen."

Er hatte es akzeptiert, vielleicht auch nur, weil ihn Takatos braune Augen so hoffnungsvoll angeschaut hatten. Er hatte nicht das Vertrauen seines Freundes, die digitale Welt irgendwann wiederzusehen – nicht nach allem, was ihm sein Vater über die Gesetze dieser Dimension erzählt hatte.

Jetzt verstand er Takatos Worte besser. Seine Hoffnung hatte sein Digivice und damit auch seine Verbindung zu Gillmon am Leben erhalten, auch wenn er lange Zeit nicht mit ihm darüber gesprochen hatte. Irgendwann hatte sein Freund eine Möglichkeit gefunden, in die Digiwelt zurückzukehren und nun hatte er seinen Plan in die Tat umgesetzt. Sein Digivice war nicht mehr da.

Jenrya ballte eine Faust und schlug auf den Tisch. Jetzt war alles umsonst. Takato hatte sich für Gillmon entschieden, hatte ihn und alle seine Freunde allein gelassen. Vielleicht hatte seine Mutter Recht, vielleicht war er wirklich Schuld am Verschwinden ihres Sohnes. Das letzte Jahr war er so oft mit ihm zusammen gewesen aber in keinem Moment hatte er geahnt, was Takato wirklich beschäftigte, was an ihm gezehrt hatte für so lange Zeit. Hatte er sich denn wirklich eingebildet, diesen Jungen zu kennen? Ihn zu lieben? Geliebt zu werden?

„Er hat in der letzten Zeit immer nur von dir geredet, Jenrya. Kein Wort über Gillmon", schallte es in seinem Kopf.

Seine Faust entspannte sich. Jetzt erst spürte er, was er die ganze Zeit noch in der Hand gehalten hatte: Takatos Nachricht. Er faltete das zerknüllte Blatt Papier auseinander. Die in der Eile notierten Wörter waren verwischt, kaum lesbar. Doch da war noch etwas Anderes. Auf der Rückseite des Notizzettels erblickte er eine kleine, nun ebenfalls verschmierte Zeichnung. Takato musste sie gemalt haben, irgendwann bevor er diese Abschiedsbotschaft verfasst hatte.

Zuerst konnte er nicht glauben, was er sah, dann lächelte er. Das auf dem Papier war er selbst! Es war ein Bild aus ihrer Zeit als Tamer, jedoch keines, was Takato ihm je gezeigt hatte. Jenrya staunte. Alles war mit so viel Liebe gezeichnet worden: sein Gesicht, der lächelnde Mund und seine damals noch knabenhaften Schultern. Ja, Takato hatte ihn mit bloßem Oberkörper gemalt, die feinen Bleistiftlinien endeten bei seiner Taille.

„Und, hast du etwas gefunden?" Frau Matsuda lehnte an der Tür, Jenrya hatte ihr Kommen nicht gehört. Reflexartig verbarg er das Blatt hinter seinem Rücken, er war sich nicht sicher, ob sie die Zeichnung schon gesehen hatte. Hastig schüttelte er den Kopf.

„Aber hat er dir denn nicht gesagt, wo er sein Gerät aufbewahrt? Ihr wart doch in den letzten Wochen so oft zusammen. Ich glaube, er mag dich sehr..."

Wieder spürte er den Zettel in seiner Hand, von ihm schien eine besondere Kraft auszugehen. „Ja, wir sind Freunde", sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen und stand auf, „und ich werde ihn finden!"

In diesem Moment drang ein gleißender Lichtstrahl aus seiner Hose. Geblendet hielt er sich eine Hand vor die Augen während er ein kleines Gerät aus seiner Tasche zog. Nach dem Abebben des Lichts erkannte er eine rote Kompassnadel in einem blauen Rund. Sein Digivice war wieder erwacht und wies ihm den Weg! Er hatte die Verbindung zu seinem Freund die ganze Zeit bei sich getragen. Jenrya Lee wusste, was nun zu tun war.