Putz bröckelte von der niedrigen Betondecke als Takato die Pforte aus Eisen hinter sich schloss. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das verrostete Gitter, und schienen den kleinen Raum, in dem er nun stand, aus einer zweijährigen Dunkelheit wiederzuerwecken. Das Licht fiel auf den staubigen Boden und verlor sich in einem dunklen Erdloch, das in die hintere Wand des Raumes gegraben war. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das Schloss auszuwechseln oder das Loch in der Wand zu schließen, alles hier schien wirklich unberührt. Wie heute hatte Takato vor zwei Jahren hier am Eingang der Höhle gestanden, mit der Schulmappe auf dem Rücken und der Morgensonne im Nacken. Nichts hatte sich verändert.

Alle außer ihm hatten Gillmons Versteck, dieses letzte Portal zur Digiwelt, vergessen. Was wäre wohl geschehen, hätte er dieses Geheimnis, das ihm damals von den Digignomen offenbart worden war, nicht für sich behalten? Irgendwann hätte es Yamaki erfahren und hätte er nicht gehandelt, wäre ein anderer Regierungsbeauftragter an seine Stelle getreten. Er meidete Yamaki seit dieser Zeit, obwohl dieser ihn zu mögen schien, und er redete mit niemandem mehr über Digimon, der in der Lage war, ihn endgültig von seinem Partner zu trennen.

Es war gut so, dass alle dachten, die Digiwelt wäre endgültig von dieser getrennt worden. Natürlich tat es ihm weh, seinen Freunden nicht die Wahrheit sagen zu dürfen aber irgendwann würde er das tun, irgendwann, wenn er einen Weg gefunden hatte, für immer mit den Digimon zusammenleben zu können.

Takato schritt auf das Tor zu. Beim Loch an der Rückwand des Raumes angekommen, beugte er sich in die Dunkelheit. Ein paar Meter entfernt, doch keineswegs am Ende der Höhle, nahm er ein diffuses Farbenspiel war, als würden alle Farben des Regenbogens darum wetteifern, die Leuchtenste von ihnen zu sein. Das Portal!

Früher hatte er ein wenig Angst gehabt, sich in diesen Regenbogen zu werfen. Einmal darin eingetaucht, würde er fallen, immerfort fallen, bis es weder Schwerkraft noch Materie mehr gäbe und sein Gehirn ganz einfach bewusstlos würde, unfähig das Fehlen solcher Konstanten zu verarbeiten. Beim ersten, beim einzigen Mal zuvor war es so passiert. Nach einem scheinbar unendlich langen Flug und wirren, zusammenhangslosen Träumen war er aufgewacht in einer Welt, in der sein Körper nur ein Abbild war, in der er weder Hunger noch Durst verspürte.

Eines hatte sich seit damals geändert: Jetzt kannte er keine Angst mehr, die Sehnsucht nach seinen Partner würde ihm den Mut geben, durch das Portal zu gehen, nicht wissend, ob er jemals zurückkehren könnte. Heute würde er Gillmon wiedersehen!

Kurz bevor er den Sprung in die Höhle wagen wollte, geschah etwas, das ihn innehalten ließ: Sein Magen knurrte. Takato musste lächeln – Noch war er nicht in der Digiwelt! Also streifte er die Schulmappe von seinem Rücken und setzte sich auf die Kante des Durchbruchs. Dies würde seine letzte Mahlzeit für lange Zeit sein. Als er seine Tasche öffnete um nach einer Papiertüte mit der Aufschrift ‚Bäckerei Matsuda' zu suchen, fiel plötzlich sein Notizblock hinaus auf den staubigen Höhlenboden. Er hatte ihn ganz nach oben gepackt, als er vorhin die Abschiedsbotschaft herausgerissen hatte. Nachdem er die Tüte gefunden und sein letztes Brötchen in den Mund gesteckt hatte, nahm er den Block in die Hand und schüttelte den Sand heraus.

Die gebundenen Seiten waren schon fast vergilbt, der Pappdeckel nach der letzten Seite fehlte. Jetzt erst stellte er fest, dass er heute früh die Rückseite des Blocks beschrieben hatte. Takatos Augen weiteten sich, als er sah, welchen Notizblock er gerade in den Händen hielt. Die ersten Seiten waren herausgerissen und nachträglich mit Klebestreifen wieder befestigt worden. Sie alle zeigten die ihm so vertrauten, mit rotem und schwarzem Filzstift gemalten Bilder: Gillmon von vorne, von der Seite, seine einzelnen Körperteile im Detail und die dazugehörigen Maße.

Gillmon war nicht auf dem Reißbrett entstanden, nicht von einem Programmierer wie ein Spielzeug zusammengebastelt worden. Er war in Takatos Phantasie geboren worden, als ihn sein Tamer vor zweieinhalb Jahren auf diesen Notizblock gezeichnet hatte und durch das Wohlwollen der Digignome war er zum Leben erwacht.

Staunend blätterte Takato durch die Seiten, wunderte sich, wie lebendig diese Bilder doch noch in seinen Erinnerungen waren. Beim Studieren der Notizen und Maße stutzte er. War Gillmon nicht größer gewesen? Mit prüfendem Blick stand er auf und schätzte die Höhe an seinem Körper ab. Aber natürlich, er war doch in der Zwischenzeit gewachsen!

Wieder beugte er sich nach vorn in die Höhle.

„Da hast du aber ganz schön gebuddelt, Gillmon!", kicherte er.

Jetzt fiel ihm auf, dass er damals auf seinem Block gar nicht geschrieben hatte, dass Gillmon so gut graben konnte. So viele Dinge hatte er in seiner Phantasie gar nicht berücksichtigt, Gillmon war mehr als nur ein paar Daten! Schnell zog er sein Digivice aus der Hosentasche und machte eine Bewegung, als wollte er eine Karte hindurchziehen:

„Card Slash! ... Stahlbohr...ahh!"

Er hatte sich ein wenig zu weit hinausgelehnt. Mit seinem Digivice in der einen und dem Block in der anderen Hand stürzte er von der Kante und fiel mit dem Gesicht voran in den Staub. Mehre Steine waren aus dem Mauervorsprung gebrochen und hatten Takato ins Taumeln gebracht. Als er die Augen öffnete, wollte er nicht glauben, was er sah. Der alte Notizblock war nun endgültig zerfetzt. Die einzelnen Seiten lagen verstreut auf dem abfallenden Höhlenboden, sein Digivice war nirgends zu sehen.

Alles, was er noch in der Hand hielt, war ein einziges Blatt. Ein Gesicht bedeckt von Staub lächelte ihm darauf entgegen.

„Du bist mir also noch geblieben...", flüsterte Takato als er mit der Hand über das Papier wischte. „...Juri." Eine Träne kullerte an seiner Wange hinunter und landete auf ihrer Stirn. Das Papier saugte den Tropfen auf, wurde durchsichtig und verschwommen konnte er auf der anderen Seite seine Handschrift erkennen. Es war die letzte Seite des Blocks, die ihm noch geblieben war, jene lange Abschiedsbotschaft, die er heute früh geschrieben hatte.

‚Kaasan, Tousan', las erst in der ersten Zeile ‚Wenn ihr diese Nachricht lest, werde ich nicht mehr bei euch sein. Ihr tragt keine Schuld für das, was ich heute getan habe. Bitte, habt keine Angst um mich, denn auch ich habe keine Angst. Ihr habt mich immer beschützt und dafür bin ich euch dankbar. Doch hätte ich euch gesagt, was ich vorhabe, dann hättet ihr mich nicht gehen lassen.

Vor zwei Jahren war es Gillmon, der mich immer beschützt hat. Ich weiß, ihr habt immer versucht mir gute Eltern zu sein, ihr habt mir immer das Gefühl gegeben, geliebt zu werden. Aber ihr konntet mir nicht die Sehnsucht nach Gillmon nehmen. Jetzt bin ich wieder bei ihm' Takato musste kurz innehalten, blickte noch einmal in das Farbenspiel wenige Meter vor ihm, dann las er weiter.

‚Vielleicht versteht ihr die Gründe nicht, warum ich so plötzlich gegangen bin. Vielleicht wisst ihr nicht, dass Gillmon nicht mein einziger Verlust war. Ihr habt mir immer gesagt, es gäbe auch noch so viel Schönes in dieser Welt, solche Dinge wie die Liebe. Aber das Mädchen, für das ich einmal etwas empfunden habe, ist heute von mir noch weiter entfernt als Gillmon...'

Hier hatte Takato an diesem Morgen nicht weiter geschrieben, hatte nicht den Mut aufgebracht, seinen Eltern die Wahrheit zu erzählen, die Wahrheit über Gillmon, über Juri und die Wahrheit über Lee. Nun saß er hier in dieser Höhle und seine Tränen tropften auf das vergilbte Papier. Wenige Schritte vor ihm glitzerten die Farben des Regenbogens, schienen ihn in eine andere, eine bessere Welt locken zu wollen.

„Juri, es tut mir leid...", schluchzte er und legte das Blatt wieder in den Staub. Dann versuchte er aufzustehen, doch die Höhle war nicht hoch genug, fast stieß er sich den Kopf an der niedrigen Decke. Also kroch er auf den Knien durch den Sand, suchte in der Dämmerung nach einem anderen Bild, einem anderen lächelnden Gesicht, das ihm soviel bedeutete. Ein Blatt nach dem anderen las er vom Boden auf, doch das Bild, was er suchte, war nicht darunter. Mühsam versuchte er an das Letzte von ihnen heranzukommen, es war in eine Spalte gefallen, wenige Zentimeter vom leuchtenden Portal entfernt. Er streckte seinen Arm aus, seine Finger berührten den hellen Schein des Regenbogens, glitten hindurch und erreichten endlich das Bild. Es war nicht schwer, den Arm wieder hinauszuziehen, aber als er das Blatt vor sich sah, da war es leer.

Eine neue Woge von Tränen überrollte Takato. Er schien nicht mehr die Kraft zu haben um aufzustehen, also blieb er auf der Erde sitzen, das Portal war nur einen Schritt von ihm entfernt.

„Ich bin so allein. Was hält mich noch hier?", wimmerte er in der Dunkelheit, nur seine Tränen reflektierten die Strahlen des Regenbogens. Dann herrschte Stille in der Dämmerung der Höhle.