Der Park! Hierhin also hatte sein Digivice Jenrya geführt. Die rote Kompassnadel, die das kleine Gerät projizierte, zeigte seit Minuten starr in dieselbe Richtung, während Lee den einsamen Weg durch den morgendlichen Stadtpark lief. Wasser spritzte an seine Hose, als er durch die unzähligen Pfützen rannte, die das Gewitter in der Nacht verteilt hatte. Der Boden war aufgeweicht und war zusammen mit dem ersten gefallenen Laub dieses anbrechenden Herbstes eine matschige Verbindung eingegangen.
Jenrya Lee schwitzte. Er spürte wie das Sonnenlicht abwechselnd zwischen den langen Schatten der Bäume hindurch auf sein Gesicht fiel, so dass es beim Laufen ein ständiges Flackern ergab, er nahm wahr wie das feuchte Laub an seinen Schuhen klebte und spürte wie sein Herz in der Brust hämmerte. Er war Kampfsportler, kein Ausdauerläufer! Sein Blick war fest auf sein Digivice gerichtet, das ihm den Weg wies. So lief er immer geradeaus, achtete nicht auf den Weg oder auf die Pfützen. Jenrya versuchte nur auf sein Herz zu hören, seine Schuldgefühle für einen Moment zu vergessen.
Wie lange war Takato nun schon da draußen? Hatte er zu lange gezögert, war es nicht unwichtig ob Takato ihn liebte oder nicht? Er musste ihn finden, er konnte nicht zulassen, ihn gerade jetzt zu verlieren. Monatelang war Jenrya im siebten Himmel gewesen, hatte Takatos Zeichen nicht bemerkt, und nun war dieser Junge dabei eine große Dummheit zu machen.
Die virtuelle Nadel schlug wieder aus. Jenrya blickte um sich, er war ganz in der Nähe von Gillmons Versteck. Mit einem Mal verschwand sie, erschien wieder und drehte sich wild im Kreis. Ein rotes Blinken wurde von seinen Augen reflektiert, als er ungläubig auf sein Gerät starrte. ‚Ich bin bei Gillmon', er erinnerte sich an Takatos Botschaft. Bei Gillmon! Er geht durch das Tor in Gillmons Versteck! Immer wieder durchfuhr ihn dieser Gedanke.
„Takato! Nicht!", schrie er, doch die Kompassnadel auf seinem Bildschirm war schon verschwunden. Dreißig Sekunden später hatte er die Treppe erreicht. Viele Stufen über sich sah er den Eingang zur Höhle, die Gittertür war nur angelehnt. Die dritte Stufe! Er nahm die Treppenstufen doppelt, bekam Seitenstiche, doch er lief weiter. Die Zeit schien stillzustehen. Er glaubte Takato vor sich zu sehen, wie er sich noch einmal suchend umschaute, dann einen Schritt nach vorne machte und aus seinen Augen verschwand. Die vorletzte Stufe! Wieder spürte er matschiges Laub unter seinen Schuhen, doch diesmal verlor sein rechter Fuß den Halt und rutschte weg. Sein Bein traf die Kante der letzten Stufe, mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er sich abzustützen aber auch seine Hände glitten weg und er lag nun ausgestreckt in einer Pfütze vor der Pforte.
„Takato, ich bin hier", seine Stimme hatte an Kraft verloren, „warte auf mich!" Für einen Moment unfähig sich zu bewegen, spähte er in den Raum vor sich. Takato war nicht zu sehen.
Später erinnerte sich Jenrya nicht mehr, wie er es bis in die Höhle geschafft hatte, wie er ungläubig nach unten geschaut und Takatos wuscheligen Haare wenige Meter entfernt erblickt hatte.
„Takato, was machst du denn da?", rief er ihm zu, seine Stimme war jetzt ruhig und ernst. Dennoch kamen ihm vor Erleichterung die Tränen, als der Junge da unten den Kopf zu ihm drehte und ihn mit seinen großen braunen Augen ansah. Takato schien auch geweint zu haben, sein Gesicht sah müde und traurig aus.
„Jenrya? Wie kommst du denn hier her?" Wie jemand, der aus einem tiefen Schlaf erwacht, sah er jetzt seinen Freund an.
„Ich habe dich gesucht, Takato, deine Eltern haben sich schon Sorgen gemacht. Hier, nimm meine Hand!" Jenrya beugte sich in die Tiefe und streckte seinen Arm nach ihm aus. Er spürte einen heißen Schmerz in seinem Bein.
„Nein, bitte, bringe mich nicht zu ihnen zurück!" Unsicher wich Takato ein Stück zurück, sofern das in der Enge der Höhle möglich war. „Ich gehe zu Gillmon und du kannst mich nicht davon abhalten." Demonstrativ rückte er noch ein Stück näher an das Portal, musste sich dabei aber an der abbröckelnden Höhlenwand festhalten, der Untergrund war steiler geworden.
„Das werde ich nicht zulassen, Takato", Jenryas Stimme blieb ruhig, „wenn du springst, springe ich auch!"
Die Augen seines Freundes weiteten sich, damit schien er nicht gerechnet zu haben. „Aber... du weißt nicht, ob du jemals zurückkehren kannst. Dein Vater hat doch damals gesagt, die Chancen es noch einmal mit einer Arche zu schaffen, wären gleich Null!"
In diesem Moment fühlte Jenrya, wie sehr er doch diesen Jungen liebte. Vielleicht hatte er ihn bis heute nicht richtig gekannt, vielleicht hatte er sich sogar darin geirrt, von ihm geliebt zu werden, aber was spielten diese Fragen, die er sich an diesem Morgen gestellt hatte, jetzt noch für eine Rolle? Er blickte jetzt einfach in Takatos Augen, sah die Tränen aber auch den Mut in ihnen, allein in eine so gefährliche Welt zu gehen, und er wusste, dass er ihn liebte. Mit einem Lächeln streckte er erneut seine Hand nach ihm aus.
„Aber Takato, weißt du denn nicht, wie viel du mir bedeutest? Ich könnte doch nie meinen besten Freund alleine gehen lassen. Mir ist es egal, ob ich je wieder zurückkehren könnte, nur bei dir zu sein ist mir wichtig", er machte eine kurze Pause und sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, „Aber zusammen mit dir wäre ich doch lieber in dieser Welt. Also komm, nimm meine Hand!"
Auch Takato lächelte nun. Vielleicht hatte er in diesem Moment bemerkt, dass es jemanden gab, der ihn liebte, vielleicht hatte er Gillmon auch für einen Augenblick vergessen. Nun streckte auch er seine Hand aus, nur Zentimeter trennten seine von Jenryas Fingern. Wieder stützte er sich an der Höhlenwand ab, stellte sich auf die Zehenspitzen und stemmte sich seinem Freund entgegen. Sand rieselte den geneigten Schacht herunter, verschwand im Portal.
Jenrya hatte es schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Der Tag, an dem sie vor Jahren ihre Reise in die Digiwelt angetreten hatten, war für ihn nur noch ein dunkles Fragment in seiner Erinnerung. Trotzdem wunderte er sich, schaute mit sorgenvoller Miene in das Farbenspiel. War das Portal damals nicht kleiner, nicht viel weiter entfernt vom Eingang der Höhle gewesen?
Er hatte keine Zeit mehr, sich darüber Gedanken zu machen, denn mit einem plötzlich Knacken hatte sich ein Riss unterhalb des Portals gebildet und beängstigend große Erdmassen rutschen in die Leere. Ein weiteres Knacken, diesmal ertönte es über ihm.
„Die Höhle stürzt ein! Takato!", seine Stimme überschlug sich, „Schnell, nimm meine Hand!" Noch immer konnte er Takatos Finger nicht spüren. Mit einem Satz warf er sich auf den Boden, sein Unterschenkel schmerzte ununterbrochen.
„Takato!", schrie er ein letztes Mal, dann war Höhle vor ihm verschwunden. Was nun an ihre Stelle getreten war, schien so unbegreiflich, dass Jenrya Augen sich nicht an den Anblick gewöhnen wollten. Unter ihm, in einer Tiefe, die er nicht abschätzen konnte, befand sich ein Hohlraum, der fast die gesamte Fläche des Parks zu untergraben schien. Und wieder darunter erblickte er das unglaubliche Farbenspiel des Portals, nur dass es jetzt nicht mehr die Form eines Portals, sondern die einer gigantischen Sphäre hatte, so groß, als könne sie diese ganze Stadt aufnehmen.
Er wendete seinen Blick ab von dieser Unwirklichkeit vor sich und schaute nach unten in das ihm so angenehm vertraute Gesicht seines Freundes. Im letzten Moment hatte er Takatos Hand zu fassen bekommen, er lag nun ganz an der Kante, hinter der nur noch die Farben jenes schrecklichen Regenbogens zu sehen waren.
Das Gesicht seines Freundes lächelte nicht mehr. „Zieh mich rauf, Lee!", schrie er mit verzweifelter Stimme, „ich will nicht mehr durch dieses Portal oder was immer das da unten ist, es macht mir Angst!"
Doch Jenrya brachte nicht die Kraft dazu auf, mit beiden Händen hielt er Takato fest, konnte sich selbst aber nirgendwo festhalten. Immer näher rutschte er auf den Abgrund zu, unfähig sich zu bewegen, sein Bein war taub vor Schmerz.
Als er spürte, dass er keinen Halt mehr hatte, als ein erneutes Bersten die Höhle um ihn herum zum Erzittern brachte, da lächelte Jenrya Lee plötzlich wieder, denn seine Angst war mit einem Mal verflogen.
„Ich liebe dich, Takato", flüsterte er, dann verlor sein Körper jegliches Gefühl für die Schwerkraft. Das letzte, was er spürte, war Takatos Hand wie sie seine fest umschloss. Keine Macht der Welt könnte sie jemals wieder voneinander trennen.
