„Takato?" Es war Lees Stimme, die er da hörte. „Takato, wach auf!" Mit einem Mal waren seine Augen offen, von einem Moment zum anderen nahm er die Umgebung wie selbstverständlich wahr.

Er lag in einem breiten Bett, ein weiches Kissen war unter seinen Kopf geschoben worden. Es war nicht sein Bett, nicht sein Zimmer, in dem er sich jetzt befand, doch alles hier strahlte eine von allen Sorgen befreiende Vertrautheit aus, also blieb er liegen.

„Jenrya, wo bist du denn?", fragte er leise, der wunderschöne Nebel in diesem Raum schien jeden Ton zu dämpfen.

„Aber Takato, hier bin ich doch", hörte er die tiefe, beruhigende Stimme seines Freundes direkt neben sich. Takato drehte seinen Kopf und da stand er, schien schon die ganze Zeit neben seinem Bett gewacht zu haben. Jenrya hatte immer noch seine nasse, von Regen und Matsch verunreinigte Hose an, auch die fast vollkommen verschwitzte Jacke seiner Schuluniform hatte er nicht ausgezogen, er schien nicht ganz in dieses warme, prächtige Schlafzimmer zu passen.

Und wie sah es mit ihm selbst aus? Takato fühlte mit seinen Händen unter die warme Decke, die ihm bis zu den Schultern hochgezogen war. Er war fast nackt, jemand musste ihn bis auf seine Unterhose ausgezogen haben, seine Sachen konnte er nirgends sehen.

„Du bist eingenickt, Takato. Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe", fuhr Lee fort. Der Gefundene setzte sich auf, behielt die Decke noch über den Schultern. Langsam kehrten Takatos Erinnerungen zurück, doch sie alle schienen so unwichtig, blieben immer noch fern von ihm hinter einer milchigen Wand.

„Wo bin ich?", fragte er und gleich danach: „Was ist das für ein Ort?"

Jenryas Gesicht drückte für eine Sekunde Verwirrung aus, als müsste er erst darüber nachdenken, dann glättete sich aber die Falte auf seiner Stirn, die ihn eben noch so erwachsen gemacht hatte.

„Keine Angst, ich habe dich nicht zu deinen Eltern zurückgebracht."

Seine Eltern, er war ja von zu Hause weggelaufen! Er war auf der Suche gewesen nach seinem Freund... Aber sein Freund war doch hier! Takato wunderte sich über diese Erinnerungen, die nicht zusammenpassen wollten. Wer hatte ihm denn gerade gesagt, dass er ihn liebte? Juri – nein! Es war Jenrya gewesen, jetzt sah er ihn wieder deutlich vor sich, er hatte seine Hand gehalten. Warum hatte er seine Hand gehalten?

„Ich liebe dich, Takato", wieder hörte er diese wunderschönen Worte, wusste aber nicht, ob jemand sie eben wirklich ausgesprochen oder ob er sich nur daran erinnert hatte.

„Ich dich auch", ohne nachzudenken hatte Takato das zu Jenrya gesagt, was er ihm schon so lange hatte gestehen wollen.

„Was hast du eben gesagt?", Jenrya setzte sich auf die Bettkante. Seine Stimme war nur ein Flüstern. „Du liebst mich?"

Takato konnte Jenryas Hand auf seiner Schulter spüren wie sie versuchte die Decke herunterzuschieben. Er wich zurück. Ein Mädchen! Ein Junge liebt ein Mädchen, das hatten ihm seine Eltern beigebracht. Doch wo war sein Mädchen?

„Es ist keine Besuchszeit, komm später wieder!" Takato sah einen langen, weißen Gang vor sich. Ärzte in Kitteln, deren Farbe noch heller schien als die der Wände, liefen an ihm vorbei, beachteten ihn nicht. „Juri, wo bist du?", seine helle Stimme verlor sich in den endlosen Korridoren des Krankenhauses. Dann fühlte er eine Hand auf seiner Schulter, jemand stand hinter ihm.

„Du kannst jetzt nicht zu ihr", das hatte Jenrya damals gesagt, hatte ihn dann vor einem Jahr nach Hause begleitet. Takatos Erinnerung an diesen Abend waren auf einmal wieder so klar, als stünde er gerade jetzt noch vor der Intensivstation, mit dem Geruch von Desinfektionsmitteln in der Nase. Er hatte das Mädchen, das auch einmal ein Tamer gewesen war, seitdem nicht wiedergesehen. Eine Träne tropfte auf die Bettdecke, für einen Moment war die Einsamkeit wieder in sein Herz zurückgekehrt. Die Hand auf seiner Schulter war verschwunden.

Wieder musste er für einen Moment die Augen geschlossen haben, denn statt den Flur der Station sah er jetzt erneut das Schlafzimmer vor sich. Lee saß noch immer neben ihm auf dem Bett, er machte ein Gesicht, als wollte er sich dafür entschuldigen, seinen Freund eben berührt zu haben.

„Sag mal, Jenrya", unterbrach Takato die peinliche Stille, „wie hast du mich eigentlich gefunden?"

Der Gefragte fing an zu lächeln. „Du hast mich selbst zu dir geführt. Deine Nachricht, Takato, deine Nachricht, sie war der Schlüssel!"

Dann beobachtete Takato, wie sein Freund etwas aus der Tasche zog: ein geknittertes Blatt Papier, es schien aus seinem Notizblock zu stammen.

„Dein Bild, es hat mir erst gezeigt, wie sehr ich dich liebe, Takato", eine leichte Röte erschien auf seinen Wangen, scheinbar hatte ihn die häufige Benutzung des Wortes ‚Liebe' ein wenig verlegen gemacht. „Es hat sogar mein Digivice wieder zum Leben erweckt, so konnte ich dich finden."

Wie verzaubert starrte Takato auf den Zettel, den Jenrya nun in der Hand hielt. Es war das letzte Bild gewesen, dass er gemalt hatte, an jenem Abend vor einem Jahr. Diese Zeichnung von Jenrya, entstanden in Takatos heimlichen Phantasien, hatte ihn damals getröstet von der Sorge um Juri, hatte ihm auch später immer Trost geschenkt, wenn er allein war.

„Ich habe es gesucht... heute in der Höhle", stotterte Takato, „ich... ich dachte es wäre zusammen mit meinem Digivice in das Portal gefallen, ich dachte es wäre für immer verloren."

„Naja, verloren ist es nicht", Jenrya steckte den Zettel wieder in die Hosentasche, „aber es ist leider ziemlich zerknittert und verwischt... das war wohl meine Schuld. Und außerdem... ist es nicht mehr ganz aktuell!" Er grinste und stand auf. „Willst du mir nicht ein Neues zeichnen? Es würde sich in meinem Familienalbum nicht schlecht machen."

Takato sah seinen Freund mit großen Augen ungläubig an. „So ein Bild?"

„Ja. Ich würde dir auch gerne Modell stehen... aber natürlich nur, wenn du eines brauchst, großer Künstler!", fügte dieser mit einer gespielten Ernsthaftigkeit hinzu.

„Ich... ich zeichne aber nicht mehr... seit damals", stammelte der große Künstler. „Ich kann so etwas nicht." Er spürte, wie seine Wangen rot wurden, Hitze wallte in seinem Körper auf.

„Klar kannst du das! Du...", Jenrya zog seine Jacke aus, „...bist doch das beste...", als nächstes knöpften seine Finger das Hemd auf, „Zeichenass weit und breit!"

Schweißtropfen erschienen auf Takatos Stirn. Er spürte, wie sie an seiner erhitzten Haut hinunterliefen. Sein Gesicht, sein ganzer Körper glühte, als er Jenryas nackten Oberkörper vor sich sah. Nun machte sich dieser an seinem Gürtel zu schaffen, entledigte sich erst von seiner Hose, dann von seinen Boxershorts. Takato war froh, dass die Bettdecke noch immer auf seinem Schoß lag, wusste er doch nicht, welchen Streich ihm sein heranwachsender Körper vielleicht spielen würde. Gebannt war sein Blick auf den nackten Körper seines Freundes, betrachtete ihn in seiner ganzen Schönheit.

Lee bückte sich, hob einen Zeichenblock vom Boden auf und drückte ihn Takato in die Hand. Er war neu, das Papier strahlte weiß und frisch. Nachdem er wie aus dem Nichts auch noch ein paar Stifte herbeigeholt hatte, legte er sich auf die gegenüberliegende Seite des Bettes, streckte sich aus und lächelte Takato an.

„Liege ich richtig so?", seine Hände hatte Jenrya in den Schoß gelegt, so fiel es Takato etwas leichter ihn anzusehen, ohne zu erröten.

„Ja, es ist... gut so", Takato versuchte sich etwas zu beruhigen. Er setzte den Stift auf den Block, zeichnete die ersten Linien, erst grob, dann mit immer mehr Details. Alles ging so einfach, sein Stift wanderte wie von selbst über das strahlend weiße Papier. Seine Augen blickten verlegen über den Rand des Blocks hinweg, suchten nach jeder Einzelheit an Jenryas Körper: seine Zehen, sein schlankes Becken, seine nun nicht mehr ausschließlich knabenhaften Schultern. Bei Lees Gesicht musste Takato innehalten. Diese Augen, diese großen, grauen und wunderschönen Augen konnte Takato einfach nicht auf das Papier bringen.

Er rückte etwas näher an seinen Freund heran, immer noch bemüht, die schützende Decke auf seinem Schoß zu behalten. Wenige Zentimeter vor Jenryas Gesicht stoppte Takato, sah ganz genau in das geheimnisvolle Grau seiner Augen. Waren das die Strahlen der untergehenden Sonne auf seiner Haut, oder war auch Lee ein wenig errötet?

„Hör auf, ich spüre deinen Atem in meinem Gesicht...", kicherte er, „Wenn ich lachen muss, dann kann ich die Pose nicht einhalten."

Mit einem Mal schlang er seine Arme um ihn und küsste Takato. Erschrocken ließ der Junge mit den brauen Haaren Block und Stifte fallen, für Sekunden waren Jenryas Lippen das einzige, was er spürte. Es war wie ein Traum.

War es denn kein Traum? Takato war aufgesprungen, rannte nur mit seiner Unterhose bekleidet zum Fenster. Eine Tür führte auf einen Balkon, er öffnete sie und ging hindurch. Draußen blickte er auf die Stadt hinunter. Eine Art milchiger Schleier verdeckte alle Details, ließ es nicht zu, dass Takatos Augen sich orientierten. Ein blutroter Sonnenuntergang schien wie auf den Horizont gemalt. Es musste früher Abend sein.

Wieder spürte er wie sich Lees Arme um ihn schlangen. Er stand hinter ihm, flüsterte beruhigende Worte.

„Es tut mir leid, Takato, wenn dich erschreckt habe", sein bloßer Oberkörper berührte Takatos Rücken, er spürte keine Kälte, obwohl es schon Abend zu sein schien. „Ich wollte dir doch nur zeigen, wie gern ich dich habe. Ich werde dich immer beschützen, immer bei dir sein."

Alles schien perfekt zu sein in diesem intimen Moment. Takato lehnte an der Brüstung, starrte in den milchigen Abendhimmel und war verwirrt. Jenrya Lee liebte ihn und er – ja er liebte ihn auch. Warum war in diesem Moment alles nur so einfach? Er hätte sich jetzt fallen lassen können, Lee hätte ihn aufgefangen.

„Jenrya, du hast mich doch gefragt, ob ich dich liebe", sagte er mit leiser Stimme, „Ja, ich liebe..."

„Die Höhle stürzt ein! Takato, nimm meine Hand!" Wie ein Blitz durchzuckten Lees Schreie plötzlich Takatos Geständnis. Es war nicht der Lee hinter ihm, die Stimme schien von weit her zu kommen.

Takato wurde schwindelig. Diese Schreie, warum kamen sie gerade jetzt? Warum wurde er ausgerechnet in diesem Augenblick von der Wirklichkeit eingeholt?

„Ich liebe dich, Takato", ganz deutlich hörte er es nun. Er stand nicht mehr auf einem Balkon, alles was er sah war ein blendendes Licht. Dann spürte er nur noch wie er fiel, immer tiefer hinabstürzte, bis er irgendwann das Bewusstsein verlor. Niemand hatte ihn aufgefangen.

~~ENDE?~~

ANMERKUNG: Diese FanFiction ist ein Beitrag für den Tamers-Fanstuff-Contest von DigimonCity. Auf Grund der begrenzten Seitenzahl (und meiner zunehmenden Müdigkeit ^^) habe ich ein offenes Ende gewählt. Sollte wirklich ein Interesse bestehen, werde ich vielleicht noch irgendwann eine Fortsetzung schreiben, aber ich verspreche es nicht! ^_^

Bei dieser Geschichte habe ich mich bemüht so nahe wie möglich am Original zu bleiben. Deshalb habe ich auch ausschließlich die japanischen Namen der Charaktere verwendet.

‚Kaasan' ‚Tousan' und ‚Onichan' bedeuten ‚Mutter' ‚Vater' und ‚großer Bruder'.