Titel: Herzschlag aus Eis
Part 3 - Breaking through the looking-glass
Autor: Paul (Doch ja, er hat die Hauptarbeit gemacht, das muss man ehrlich sagen...)
Teil: Eins, zwei, drei a (Is wieder nur ein Teilchen geworden, aber na ja...)
Fandom: WK
Paring: Schwarzintern. (In Part a wird sich Schu allerdings erst mal um sich selbst kümmern, also geduldet euch ein bisschen... )
Warnung: Psychomüll. Und das mein ich ernst.
Rating: R
Widmung: Für Nordi, Coco und Cu. *smiles to all of them*
Disclaimer: Nix wolle, nix habe, geh fort und lass mich in Friede...
Vorwort: Hai, wir kommen der Sache langsam näher. Was sich nicht alles für dunkle Schatten im Eis verbergen... Ich glaub, langsam sollte ich mal den lieben Doc anrufen...*sighes* Aber immerhin lest ihr das hier... was ein Trost -.-"
Nontheless, Ich gebe hiermit meine ganz persönliche Psychowarnung heraus.
*
Breaking through the looking-glass
Der Schmerz hatte ihm drei Stunden Aufschub gewährt, ihn schlafen lassen, bis die existenziellen Energiereserven sich wieder aufgefüllt hatten. Doch nur, um sich jetzt umso unbarmherziger auf die mühsam reproduzierte Kraft zu stürzen.
Schuldig schlug keuchend die Augen auf.
Der watteartig schützende Nebel, die Decke über seinem Bewusstsein wurde ihm fortgerissen, das bösartige Brennen in seinem Körper hatte ihn ruckartig in die Realität zurückgezerrt.
Die Dunkelheit drehte sich vor seinen Augen, vermischte sich mit rotausgefransten Punkten zu einem Wirbelsturm, der ihm übel werden ließ. Er hatte mit Klamotten geschlafen, sich erst in einen übergroßen Jogginganzug eingepackt und dann bis zu den Haarspitzen unter der Decke vermummt. Diese Vorsichtsmaßnahmen hatten Schutz versprochen und seine Nerven beruhigt, jetzt erstickte es ihn. In wilder Panik zerrte er alles von seiner Haut, schleuderte es von sich. Nicht mal das Gefühl des verschwitzten Lakens unter ihm konnte er noch ertragen. Er sprang auf. Krochen da nicht Ameisen über sein Bett? Unzerstörbare Insekten, Millionen rotflackernder Körper, die ihn zerfressen wollten. "NEIN!" schrie er heiser und schlug blind die Fäuste gegen die Schläfen. Einbildung, Einbildung. Aber der Schmerz ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. Er taumelte, prallte gegen eine Wand. Hektische Finger tasteten nach der Erlösung. Waren da nicht auch Ameisen? Er hämmerte gegen die kleine Plastikscheibe und hastete zurück, die Hand fest an sich gepresst, als hätte er sich verbrannt.
Nein, sein fiebriger Blick raste, keine Ameisen, Raufasertapete, nein, keine Ameisen, Frotteebettlaken und Halluzinationen seiner angestrengten Sehnerven.
Ein Moment der Erleichterung, der Stille. Er hörte das Blut rauschen, sein Herz wild pumpen. Fühlte sich losgelöst. Das Chaos lag entmachtet im Licht. Beinahe friedlich.
Sein Adrenalinspiegel sank rapide ab.
Dann explodierte der Schmerz vor seinen Augen.
Er sank auf die Knie und grub die Hände in sein Fleisch, um seinen Körper irgendwie zusammenhalten zu können. Gott, er würde zerreißen, wahnsinnig werden. Die Ecken seiner Vision wurden erneut dunkel, gelbe Flecken wirbelten. "Nein...", kam der protestierende Laut aus seiner Kehle. Die Sicht wurde einen Wimpernschlag lang klarer. "Ach, Fick dich!! Verdammt noch mal!" Seine Stimme röhrte tief in seiner Kehle. Er kämpfte sich nach oben. Taumelte. Blinzelte. Suchte nach der Kommode. Fand sie, auch wenn sie gelb flackerte. Ging zittrig darauf zu. Zerrte die oberste Schublade heraus. Kurz musste er die Augen schließen, eine Hitzewelle zwang ihn in die Knie. "Verpiss dich, Scheiße!! Zurück in die Hölle, aus der du kommst, elendes Miststück." Er brüllte den personifizierten Schmerz mit einem eisigen Flüstern an, verpasste ihm einen heftigen Hieb in den Magen, auf dass er zurückweichen musste. Worte, Worte, Worte. Heilige Waffe des Geistes. "Hau ab! Ich scheiß auf dich! Du kannst mich mal, teufelnocheins." Er zwang sich zurück auf die Beine, durchkramte mit fahrigen Bewegungen das Chaos vor ihm. "Bin besser als du...nicht hilflos...nicht...nie wieder..." verbissen wiederholte er seinen zusammenbrechenden Widerstand, wurde leiser. Es tat so weh. Dann endlich, seine Finger umklammerten das erlösungsversprechende Glas verzweifelt, schraubten es auf. Geistesabwesend irrten seine Augen über das Etikett, nahmen das Wort "Buprenorphin" (1) nicht mal richtig auf, dann schüttete er sich die Tabletten auf die Hand. Einige fielen zu Boden, so sehr zitterte er. Doch drei brachte er schließlich zu seinem Mund und schluckte sie. Hustend klopfte er gegen seinen Brustkorb, bis der Druck sich löste. Dabei stolperte er zurück zu seinem Bett, taumelte, fiel, kroch auf Knien weiter, stöhnend, und hievte sich schließlich auf die Matratze. Rollte sich zu einem festen Ball zusammen.
Der Schmerz zerrte wie ein tobender Orkan an ihm, riss ihn auseinander, brachte ihn erneut an den Rand des Wahnsinns. Aber bevor er fallen konnte, senkte sich eine schwarze Mauer herab. Als die Flut aus Feuer langsam abebbte, lächelte er verloren.
Ein Hoch auf die moderne Chemie.
Dann schaltete sein Körper ab.
*
(1) Buprenorphin = Sehr starkes Schmerzmittel. Opiat, daher mit ernstzunehmenden Nebenwirkungen wie verlangsamtes Wahrnehmungsvermögen und Bewusstseinsbeeinträchtigung.
*
Niemand hörte ihn, niemand würde wissen, dass er hier oben war, niemand würde wissen, was er hier tat. Seine Nase kräuselte sich in witternder Erwartung, leitete ihn zuverlässig durch die Schatten. Lautlos öffnete er die Zimmertür, blieb im Rahmen stehen, endlich bestätigten seine Augen das Bild, das seine Instinkte ihm schon gezeigt hatten. Schuldigs blasser Rücken entblößte sich in seiner ganzen verletzten Schönheit vor ihm. Das dreckige Blut war fortgewaschen worden, die Wunden aber nicht verarztet, so dass er jede einzelne in dunkelroter Schärfe vor sich offenbart sah. Um sie gruppierten sich tiefblaue Flecken, verwoben sich zu einem kunstvollen Gemälde der Gewalt. Farfarello lächelte verträumt. "Armer, zerbrochener Engel...", giggelte er leise, betrat den Raum. Mit ein paar aerodynamischen Schleichbewegungen war er ans Bett getreten, nun beugte er sich nah an die zusammengekrümmte Form heran. Streckte eine Hand aus und fuhr in Millimeter Entfernung ihre Umrisse nach. "Oder bist du eher ein schlafender Dämon?" Er kicherte leise. "Ja, das bist du... Hochmütig, stolz...Selbst jetzt noch..." Vernarbte Finger trafen auf schneeweiße, ausgekühlte Haut. "Ich weiß, warum er dir das angetan hat. Niemand glaubt, dass ich hier irgendetwas mitkriege, aber ich weiß es ganz genau, ja, ja... Es ist wegen dem Kind. Weil er glaubt, es beschützen zu müssen... Wie lächerlich. Aber seine Schmerzen strafen Gott, dafür, dass er so was wie Liebe auf die Welt gebracht hat. Sie tut weh. Sie macht wahnsinnig. Was glaubst du, wie viele Menschen für sie gestorben sind, he? Sinnlos, so sinnlos... Dass wir das aus ihr machen können, hat er sich wohl nicht träumen lassen...Hah, aber es geschieht ihm Recht... Er hat es verdient, meinst du nicht auch? Ja, natürlich meinst du das, ich sehe es dir doch an...Schau dich doch an..." Er brabbelte leise, verstummte dann. Jemand schrie. Das bedeutete, dieser jemand würde gleich aufwachen - ihn vielleicht finden. So schnell und lautlos wie er gekommen war, verließ er das Zimmer wieder. Schloss die Tür und huschte zurück in den Keller. Rollte sich in einer Ecke zusammen. Ein verzücktes Lächeln zuckte über seine Mundwinkel hinweg, als er seine Hand ansah. Sie kribbelte. Er hatte Schuldig angefasst. Wie erregend.
*
!:. Ein irres Grinsen entstellte das vernarbte Gesicht des Alten zu einer dämonischen Fratze. Spiegelte den Wahnsinn, der den imposanten, einst so stolzen Körper zerfressen hatte. Der Körper, der sich, animalische Kräfte an den Tag legend, an dem zerbrechlichen Geschöpf unter sich verging. Kalkweiße Beine lagen weit gespreizt am Boden, zuckten unter unkontrollierbaren Spasmen. Er starrte auf das zerbrechende Wesen - oder war es schon zerbrochen? Nein, es schrie noch. Schrie um Hilfe. Maliziöses Lachen umwickelte die Laute höllischer Qual, entehrte selbst die Hoffnung, die das Wesen auf Rettung hatte, indem es sie umwob und verspottete. Nachtblaue Saphire irrlichterten fiebrig umher, fanden ihn, krallten sich an ihm fest. Er wollte eine Hand ausstrecken und ihrem Seelenmorden Einhalt gebieten, aber da sauste ein Messer herab und zerbrach ihren Lebensschrei unter einem Schwall von Blut. Er war zu spät. !:.
Sein Schrei zerriss sich in seinen Stimmbänder, ein erstickter Laut des Protestes, zerstört am Boden liegend. Crawford saß senkrecht im Bett. Schweiß klebte an seinem Körper. Ihm war eiskalt.
Atmen. Atmen. Ein und aus. Ganz ruhig.
Mit zittrigen Gedanken versuchte er die Lähmung aus seinem Geist zu vertreiben, brachte schließlich genug Kraft auf, um die Hand zu heben und die Nachttischlampe anzuschalten. Weißes Licht vertrieb die kreiselnde Dunkelheit und trotzdem wollte sein Herzschlag sich nur mit willentlichem Zwang beruhigen lassen.
Er wischte sich über die Augen, fuhr mit gespreizten Fingern durch sein rabenschwarzes Haar. Es fühlte sich feucht und klebrig an. Wie in Trance erhob er sich. Bewegung musste den geistigen Schatten entgegenwirken. Er brauchte eine Dusche. Er brauchte Distanz. Nur ein Traum, begann er zu analysieren. Das ist schon lange her und überhaupt, Nagi hatte sein Augenlicht noch. Oder war das Teil einer Vision? Ihm schauderte. Unwillig fröstelnd rieb er über seine Oberarme, erreichte aber nur, dass die nassgeschwitzte Seide sich enger an seine Haut klebte. Er fluchte leise, riss sich den Pyjama vom Körper und stopfte ihn in den ebenhölzernen Wäschekorb unter den Waschbecken. Er würde nachher waschen, entschied er und fand, sich langsam anhand simpler Pläne zur Logik zurückhangelnd, seine Fassung wieder. Die restliche Unruhe würde das heiße Wasser vertreiben. So stieg er unter die Dusche, drehte den Hahn so weit auf, wie es nur möglich war und wartete dann, dass seine Prognose sich bestätigte. Und wartete, und wartete und wartete vergebens.
*
Der Moment des Erwachens war überlagert von einem Gewebe aus Hitze, Staub und dumpfen Pochen zwischen seinen Schläfen. Es war stickig in seinem Zimmer und hell, trotz der zugezogenen Rollläden. Unwillig stöhnend wuchtete er seinen Körper auf den Rücken, hob eine tonnenschwere Hand, um sich die verklebten Strähnen aus der Stirn zu wischen. Erst dann öffnete er die Augen und blinzelte müde, die Kraft, den Kopf zu heben, brachte er nicht auf.
"Gott, ich fühl mich beschissen", Kämpfte sich der einigermaßen klare Gedanke unter dem flauschig-stickigem Morast in seinem Kopf vor, schaffte es sogar in einem heiseren Krächzen über aufgerissene Lippen zu entweichen. Stückchenweise pochten andere hinterher, rissen die schmerztötenden Stoffe von den Rezeptoren und machten Platz für konstruktiven Informationsaustausch. Das gelbe Licht, das den Raum, von weißen Pünktchen verziert, durchwabert hatte, machte langsam Sinn, konnte er sich doch erinnern, dass er es in der Nacht angeknipst hatte. Erst noch träge, dann mit jedem Puzzleteilchen schneller, kehrten auch die anderen Erinnerungen zurück und erklärten ihm alles. Er hatte Nagi angefasst, dann war Crawford gekommen...hatte ihn die Treppe heruntergestoßen und im Keller eingesperrt...hatte ihn... - Er schloss kurz die Augen, atmete tief durch - bestraft, auf sehr beeindruckende Weise...ihn dann in die Dusche geschleppt...dann war er selbst hier her getaumelt...eingeschlafen ... und...
Schuldig hievte sich in die Senkrechte und ächzte leise. Kalte, forschend ruhige Augen tasteten mit fachmännischem Tempo das Zimmer ab. Zerwühlte Bettwäsche, hastig zusammengeknüllte Kleidung, die Notfallschublade war aufgezerrt, Tabletten und das lebenswichtige Glas lagen auf dem Fußboden. Und er selbst saß nackt in seinem künstlich hellerleuchteten Zimmer, abgeschottet vom Sonnenlicht draußen. Eindeutiger konnten die Beweise nicht sein.
Er sackte zurück auf die Matratze, rieb sich die Stirn und seufzte leicht.
Er hatte also einen Anfall gehabt.
Ein kühler, kalkulierender Ausdruck legte sich auf sein Gesicht, ein selbstfremdes Lächeln auf seine Lippen.
Ein Anfall. Gut, kein Grund zur Panik. Er kannte dieses Phänomen, auch wenn das letzte Mal lange her war. Er hatte das unter Kontrolle. Es gab Mittel und Wege diesem kraftzehrenden Wahnsinn entgegen zu wirken und es sollte eigentlich kein Problem darstellen sich diese zu Nutze zu machen.
Eine Weile trieb er in der warmen Leere seiner Entscheidung, räkelte sich in der Gedankenlosigkeit und strich sich geistesabwesend durchs Haar.
Dann, mit einem tiefen Seufzer, erhob er sich und stemmte sich von Bett hoch. "Scheint als müsste ich heute einkaufen gehen, was?", meinte er zu sich selbst und sah auf seine Füße. Der raue Stoff des Läufers kitzelte und versonnen schmunzelnd bewegte er die Zehen. Fast wie auf Gras... Ob er wohl nachher in den Park gehen sollte?
"Dass du aber auch immer so gute Ideen hast, Schu-sama", kicherte er und tapste dann ins Bad. Bevor er irgendwohin gehen konnte, gab es leider noch etwas Unangenehmes zu erledigen. Schmerztabletten halfen nicht gegen alles.
Seine Augen wurden dunkel.
*
Aufwachen, befahl er sich und schon gaben die Augenlider seine Saphire frei.
Es war ein nüchternes Gefühl. Sein Kopf war wie leergefegt, frei von jedwigen Gedanken und Wünschen. Er wunderte sich kurz, warum er nackt in seinem Bett lag, erinnerte er sich doch nicht daran, dass er sich ausgezogen hatte, aber dann wischte er die Sorge beiseite. Warum sollte er sich auch an so etwas Nichtiges erinnern? Ohne noch weiter Zeit zu verschwenden, stand er auf, machte sein Bett und suchte sich dann Kleidung heraus. Im Spiegel musterte er sich kurz. Die Falte, die sich in seinem Hemd verfangen hatte, glättete er geschickt mit den Fingern, dann ein letzter Blick durch sein Zimmer, alles perfekt aufgeräumt, und er verschwand nach draußen. Er sollte etwas Frühstücken.
*
Erniedrigend, das war das einzige Wort, um diese Aufgabe zu beschreiben, schlicht und ergreifend erniedrigend. Dieses tiefe Bewusstsein seiner Situation ließ ihm speiübel werden. Seine Finger, krampften zusammen, krallten sich so fest um das nachgiebige Plastik, dass sich die Haut über den Knöcheln bedrohlich weiß spannte. Erniedrigend, erniedrigend, erniedrigend! Ekel durchfraß jede Faser seines Körpers, wie ein giftiger Nebel, der ihn von innen heraus erstickte.
Vergewaltigt, er war vergewaltigt worden. Jemand hatte ihn missbraucht. Gedemütigt, sich seiner bemächtigt. Er war dreckig...durch und durch von seiner eigenen Schwäche beschmutzt.
Gift... Dreck... Ekel... Nebel, eine Glocke aus Gas, das all das beinhaltete... ihn töten wollte...Töten...Ersticken...Weg, weg, weg!!
Mit einem Mal panisch geworden schleuderte er den Gegenstand in seiner Hand von sich, fiel noch mit demselben Atemzug zu Boden, wo er sich zusammenkrümmte und seinem Würgereflex erlag. Er erbrach nicht, konnte nicht, schließlich hatte nichts gegessen, aber irgendwann gab seine Magenklappe nach und er spuckte mit Blut vermischte Säure. Es stank bestialisch, er riss seinen Kopf in die Höhe und zog die Luft mit blähenden Nüstern ein, schnaufte und keuchte, hyperventilierte; Ekelerregend, ekelerregend!! Er brauchte mehr Luft und alles was er bekam war das olfaktorische Echo seines Ekels, immer und immer wieder drang es in ihn ein, denn mochte er auch Augen und Ohren verschließen können, die Nase ließ das nicht mit sich machen, er musste ja atmen, er musste!
Eine nicht zu ertragende Angst schloss ihn ein, quälte ihn, trieb ihn, bis sein fiebriger Blick schließlich nur noch rotglühende Dunkelheit erfassen konnte. Kurz danach wurde alles schwarz.
Er war in sich selbst zusammengebrochen.
Lange, kostbare Sekunden spülten durch ihn hindurch, wuschen die Überreste des klaustrophobischen Anfalls sorgsam aus. In seinem Inneren arbeitete es, während sein Geist in rabenschwarzer Stille abgekapselt war. Neue Mauern mussten errichtet werden, schnell, schnell, ein besseres Konstrukt musste her, ein härteres, ein sichereres. Ein alt bewährtes.
Eine halbe Minute später schlug er wieder die Augen auf, als das neue alte Abbild eines Menschen. Der rote Engel lächelte zärtlich.
In der lasziven Ruhe des Erwachens räkelten sich seine Gedanken, trieben Flügen und entfalteten sich, gewannen nach und nach das Bewusstsein, die Kontrolle über seine Sinne.
Dumpfes, weiches Licht erhellte den Raum, schien von den Wänden aufgesogen und jeglicher Härte beraubt zu werden. Es war beinahe angenehm. Oder wäre es gewesen, wenn es ihn interessiert hätte. Doch das tat es nicht. Vom einen Augenblick zum anderen war jedes Empfinden für solche Ästhetik nüchternem Kalkül gewichen. Sein Schädel dröhnte wie nach einem Rausch und doch fühlte er sich seltsam leicht... Er richtete sich auf, strich sich eine Strähne aus der Stirn. Klare, kalte Augen sahen sich um, nahmen die Umgebung in sich auf, spiegelten sie, damit der präzise Verstand, für den sie arbeiteten, das Bild analysieren konnte.
Er saß auf dem Boden. Der Boden bestand aus schwarzem Granit, kalter Stein. Zur Linken eine großzügig ausgelegte Dusch, geriffelte Milchglastüren in zwei Flügeln angelegt. Seinen Füßen gegenüber befand sich die Tür, eingerahmt von zwei hohen schmalen Schränken, offenbar zahllose Schubladen. Kurz rief er sich in Erinnerung, was dort drinnen alles verborgen lag, und das verschaffte ihm einen weiteren Stein in der Mauer aus weißem Stein, die sich sein momentanes Bewusstsein nannte. Dann wandte er den Kopf nach rechts, alles langsam und bedächtig, nüchternes Interesse, das nur einem einzigen Zweck diente: Wissen beschaffen zur Kontrolle seiner Umgebung.
Er nahm das Bild einer einladend großen Eckbadewanne in sich auf, und das der Kommode aus Ebenholz daneben, sie beherbergte drei tiefe, abschließbare Schubladen aus, in der obersten steckte der Schlüssel aus Gold.
Mit einem Mal spannte er seine Muskeln, der Schmerz, den er dabei spüren sollte, war weit fort hinter einer Mauer aus geschmeidiger Präzision verborgen. Eine Hand stützte er kurz neben sich ab, dann hatte er sich schon auf die Fußballen geschwungen, und stand aufrecht.
Wie ein königliches Raubtier drehte er sich auf dem Absatz um und sondierte die letzte Wand. In ruhigen, tiefen Zügen atmete er die Luft ein, schien selbst sie zu beherrschen, mit jedem Mal, da sie durch seine Lungen wanderte. Von Boden aufwärts ließ er den Blick die Fußleiste entlang gleiten, folgte schließlich einer Fuge hinauf, über das Abflussrohr, bis er auf den makellos schwarzen Marmor des Waschbeckens traf. Er umrundete das Becken halb, es war wirklich die kleinste Unebenheit geschaffen, dann hob er den Blick langsam und sah in den Spiegel. Auch das Bild, das sich ihm da bot, nahm er mit distanziertem Interesse in sich auf, machte es sich so zu eigen. Schlanker Körper, leichte Ansätze von Muskeln, weiße Haut, ebenmäßiges Gesicht, schmale Lippen, gerade Nase, kalte, hellgrüne Augen, langes Haar, in unregelmäßigen Strähnen bis über seine Schultern gegossen, flammendes Orange, die Farbe von Feuer. Das nennt man wohl attraktiv, befand er abschließend, wirklich interessant.
Was ihn aber noch mehr interessierte als seine Wirkung auf andere, derer er sich mit einem stummen, kalten Gefühl des Verstehens plötzlich wieder erinnerte, waren die Wunden, die diesen Körper, den er gerade betrachtete, zierten. Er sah hinab, zu den Füßen, und begann mit fachmännischer Schnelligkeit eine Liste der Verletzungen anzufertigen. Da waren Schnittwunden unter den Sohlen und Kratzer auf der Oberfläche, bis auf einen, der quer durch seinen linken Fußballen verlief, nicht besonders tief, dann rote Abdrücke um seinen Knöchel herum, ein großer blauer Fleck.
So arbeitete er sich aufwärts, prüfte alles mit der selben Sorgfalt, die wohl ein Firmenchef bei der Jahresinventur verlangen würde. Bald war er fertig mit der oberflächlichen Analyse des Körpers und tastete nun weiter mit den Händen. Gut, keine Brüche, keine inneren Blutungen.
Als er zwischen seinen Beinen angelangt war, stockte er.
Ein Bild flammte auf. War schon wieder verschwunden. Er hatte die Hand zurückgezogen, hielt sie sich vor die Augen, glaubte fast, er müsse gleich erste Brandwunden erkennen. Aber bis auf ein leichtes Kribbeln hinter seiner Stirn passierte gar nichts. Angestrengt starrte er weiter auf die Hand, bis die deutlich sichtbaren Schnitte plötzlich verschwammen, sich die Farbe von getrocknetem Blut in gepunkteten Linien über die gesamte weiße Fläche zog.
Gelbe und schwarze Punkte tänzelten an dem Rand seines Sichtfelds.
Er schüttelte den Kopf - und seine Sicht war wieder normal.
Was war das gewesen? Die Frage verwirrte ihn. Es fühlte sich seltsam an, etwas nicht zu wissen, etwas nicht erklären zu können, nach etwas fragen zu müssen.
Wie in Trance senkte er die Hand wieder, verfolgte sie mit den Augen und sah zu, wie sie zwischen seinen Schenkeln verschwand. Kaum da seine Fingerspitzen auf Haut trafen, war das Bild zurück - und etwas anderes mit ihm. Schmerz!
Der Impuls kam so heftig und überraschend, dass es ihn zu Boden schickte. Er schlug hart auf und blieb benommen liegen.
Ein befremdliches Gefühl breitete sich in ihm aus. Schmerz. Schmerz. Wenn er Schmerz empfand, dann... ja, was dann?
Schmerz hatte während der ganzen Prozedur keine Rolle gespielt, er war sich nicht mal bewusst gewesen, dass es so etwas wie einen Inhalt für diesen leeren Begriff in der hintersten Ecke seines Wortschatzes gab, geschweige denn, dass er ihn je kennen lernen, je verstehen würde. Er hatte die Bewegungen einfach ausgeführt, weil es ihm als notwendig erschienen war, aber er hatte nicht gefragt, warum er überhaupt verletzt war, was er überhaupt hier tat, und auch nicht warum er sich das nicht fragte, aber jetzt, da der erste Gedanke in diese Richtung gelenkt war, folgten weitere, drehten sich umeinander, verwirbelten zu einem dunklen Strom. Hatte er sich vorher von dem Körper losgelöst gefühlt ohne zu wissen, dass es eigentlich anders sein sollte, traf ihn nun die Erkenntnis über diese Fremde wie ein Paukenschlag. Atemlos presste er die Fäuste gegen seine Schläfen, wie um seinen Kopf zusammenzuhalten. Er hyperventilierte schon wieder. Aber, bevor er sich erneut verlor, hielt ihn eine Stimme auf.
"Beruhig dich." Das körperlose Flüstern teilte die aufkeimende Panik, wischte sie beiseite als wäre sie von ihrem explosiven Zerstörungspotenzial schlichtweg unbeeindruckt. "Was bist du denn, dass du dich jetzt aufgibst?"
Das Gummiband seines Bewusstseins schnappte zurück, setzte all seine Erinnerungen, Motive und Charaktereigenschaften an ihren rechten Platz. Er schluckte heftig, fühlte sich überwältigt, aber der Moment war flüchtig, schon strich ein Hauch über sein Herz und kühlte sein Blut.
"Runyael..." keuchte er erkennend und die Stimme in seinem Kopf lachte leise.
"Ja.", antworte sie sanft. "Ich sehe, du erinnerst dich an mich."
"Warum bist du hier?"
"Weil du mich brauchst..."
Er schwieg, senkte den Kopf. Erleichterung mischte sich mit Unbehagen.
"Es ist lange her..." summte die Stimme zärtlich, Schuldig fühlte imaginäre Arme über seine Wange streichen, sein Haar liebkosen, hinter Fürsorge versteckte Besitzansprüche. Ein Zittern beherrschte ihn und er wusste nicht, ob es angenehm oder unheilverkündend war, wahrscheinlich beides.
"Du weißt, wer du bist", fuhr der tiefe, den Sinnen schmeichelnde Bass fort, "und du weißt, dass du Stärke besitzt. Willst du das alles vergessen, nur wegen so einer Lappalie? Mach dich doch nicht lächerlich, hm?" Sanfte Küsse auf seinem Nacken, seinem Ohr. Angenehm, entschied er, beruhigend, vertraut.
"Nein."
"Das ist mein braver Junge." Ein letztes zärtliches Hauchen. Dann war es weg.
Schuldig richtete sich auf. Die Hände waren zu Fäusten geballt. Jeder Muskel in ihm angespannt. Abwehrbereit. Kampfposition. Seine Augen waren kalt.
"Ich bin Schuldig."
Er kannte seine Vergangenheit, er kannte seine Fähigkeiten und er kannte seine Macht. Er würde nicht sterben.
"Nein. Nicht, bevor ich nicht bekomme, was ich will." Echote er seinen inneren Entschluss und begegnete dem Blick des Spiegelwesen fest. Er sah sich selbst. "Und du wirst mir dabei helfen!"
Dann wandte er sich nach rechts, nahm das dort stehende Regal in Augenschein. Mit seinem metallisch glänzenden Edelstahl kontrastierte es den Rest der Einrichtung und wirkte doch dazugehörig, beinahe zentral. Als er den Inhalt betrachtete, wusste er auch, warum das Regal so wichtig war. Hier bewahrte er seine medizinische Ausrüstung auf. Und hier war offenbar auch die Dose gelandet, stellte er mit hochgezogener Augenbraue fest und griff nach dem weißen Gegenstand. Mit medizinischer Professionalität prüfte er den Inhalt, zog dann aus einer Packung neue Handschuhe und zog sie sich über. Wie es schien stand seiner Selbstbehandlung nichts im Weg, Vernunft zählte angesichts seines Stolzes nichts. Kein Grund das Ganze zu dramatisieren. Es war schließlich nicht das erste Mal.
*
Die Packung glitt in seine Manteltasche und er verließ die Apotheke ohne einen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden. Die Apothekerin hatte ihn schon vergessen, würde sich nicht mal wundern, warum das überaus teure, rezeptpflichtige Medikament fehlte.
Schuldig legte den Kopf in den Nacken. Die ersten Sommertage hatten bereits eine schweißtreibende Intensität angenommen, aber ihm war es nur Recht. Wie oft hörte er in sternenklaren Nächten sehnsüchtige Gedanken an die entfernten Lichter gerichtet und wie oft dachte er dabei, dass die Menschen sie nicht mehr alle hatten. Totes Licht anzubeten war doch wirklich sinnlos. Kälte, Tod, Schwärze, was sollte daran bitteschön ersehnenswert sein? Das Sterben, das war die Poesie, das Leid, die Verzweiflung, die Schmerzen. Aufbegehrendes Leben, das war die wahre Schönheit des Todes. Er lächelte verträumt und sah direkt in die Sonne. Alle Welt erkannte in ihr den Lebensspender, aber er wusste, dass die wunderschöne Dame sie alle bloß täuschte. Einsames Wesen, dachte er und summte. Lass deine brennenden Tränen auf uns fallen, auf dass wir deine himmlischen Todesqualen spiegeln.
Beinahe vergnügt schlug er den Weg Richtung Park ein, scherte sich einen Dreck um seinen Verstand, der ihm sagen wollte, dass das Opium nur die Symptome, nicht aber die Ursachen heilte und er eigentlich Ruhe genießen sollte. Es gierte ihn nach seiner eigenen Auffassung von Ruhe. Nach Gedanken, nach Lust, nach Leben. Und dazu brauchte man nun mal Menschen.
*
"Noch Kaffee?"
Crawford sah auf, nickte minimal. Schon vor Sonnenaufgang hatte er sich zum Arbeiten auf die Terrasse gesetzt und wenn er jetzt etwas brauchen konnte, dann war es Kaffee. Bis er Nagis Frage hörte, hatte er es nur nicht bemerkt gehabt, die Konzentration seiner Gedanken war notwendigerweise zu stark gewesen, schließlich hatte er die schwere Bürde dunkler Ahnungen in Schach zu halten.
Von der knappen Antwort unbeeindruckt füllte Nagi Crawfords Tasse mit der schwarzen Flüssigkeit wieder auf, hauchte ihr dampfendes Leben ein. Ruhig stellte er die Kanne auf den Balkontisch, das eigentümlich angenehme Geräusch von Metall auf Glas nur ein leises Klicken. Während er sich schweigend zu Crawford setzte, nahm dieser den ersten Schluck der koffeinhaltigen Flüssigkeit zu sich und sah ihn über den Rand seiner Zeitung an, ein kleines Zeichen seiner Dankbarkeit. Nagi lächelte leicht. Seine Finger woben sich um den sanft glühenden Bauch seiner eigenen Tasse, sogen die Wärme des Tees durch das Porzellan in sich auf. Angenehm. Crawfords Blick verschwand wieder hinter seiner Zeitung, Nagis wanderte an ihm vorbei, tastete den Horizont ab. Ihr Appartement lag direkt unter dem Dach eines der höchsten Wolkenkratzer der Umgebung, von hier aus hatte man relativ freie Aussicht, wo man sich doch in den unteren Etagen wie lebendig begraben fühlte. Da halfen auch große Fenster nichts, wenn man in einer kleinen Arbeiterzelle sein tägliches Dasein fristete. Und doch war es nicht die endlose Weite des Blaus über ihm, das seine Aufmerksamkeit beanspruchte, was sollte er sich auch darum kümmern, wenn er nirgendwohin fliegen wollte, nein, sein Interesse galt eben jenen eingekesselten Bürofabriken, auf die er herab sehen konnte. Wie es wohl war, dort zu arbeiten, wie schwer mochte so ein Wolkenkratzer wohl sein, konnte er ihn einstürzen lassen, wie viele Menschen würden dabei wohl zerquetscht werden? Nicht, dass er eine besondere Lust am Töten gehabt hätte, der Hass, den er die vergangenen Jahre so mühsam aufrecht erhalten hatte, war verschwunden und die grimmige Befriedigung menschliches Leben auszulöschen mit ihm. Es war vielmehr eine nüchterne Faszination angesichts der Macht, die die potenzielle Energie versprach. Das Gedankenspiel, ob er sie entfesseln konnte, wie klein Menschen doch waren, verglich man sie mit dem wahren Leben. Oder dem Tod. Gegeben, um genommen werden zu können. Das lockte ihm ein versonnenes Lächeln auf die Lippen. Nur ein kleines, kaum wahrnehmbares, aber Crawford, der seine Lektüre gerade beendet und niedergelegt hatte, verharrte einen Moment, um ihn anzusehen. Wenn es nicht sie wären, die hier saßen, dann hätte ein Beobachter die entsponnene Szene wohl als friedlich erachtet. Vielleicht war sie das auch, egal wer sie waren. Nur, sie würde nicht lange anhalten. Er würde sie zerstören müssen.
"Nagi."
Dunkle Saphire klärten sich, fokussierten ihn nüchtern.
"Wir haben einen Auftrag für heute Abend."
*
(Die drei berühmten Worte ^-^) To be continued
Tja Leutchens, das war´s mit dem ersten halben dritten Teil, ich hoffe, ihr lebt noch? Ich jedenfalls bin froh, dass ich Runyael endlich vorstellen konnte und Schus Reaktion so hinbekommen hab, wie sie mir gefällt...
"Runya" ist übrigens ein elbisches Wort und bedeutet so viel wie "rote Flamme" und die Nachsilbe "-el" dürfte ja jedem bekannt sein. Ich fand den Namen ganz passend. ^-^
Und jetzt zu euch, wie hat euch das Kapitelchen gefallen?
Mailt mir eure Fragen, damit ich weiß, worauf ich noch mehr eingehen muss, Kritik, Lob und Briefbomben aller Art sind natürlich auch herzlichst willkommen.
Liebe Grüße, Diva
Part 3 - Breaking through the looking-glass
Autor: Paul (Doch ja, er hat die Hauptarbeit gemacht, das muss man ehrlich sagen...)
Teil: Eins, zwei, drei a (Is wieder nur ein Teilchen geworden, aber na ja...)
Fandom: WK
Paring: Schwarzintern. (In Part a wird sich Schu allerdings erst mal um sich selbst kümmern, also geduldet euch ein bisschen... )
Warnung: Psychomüll. Und das mein ich ernst.
Rating: R
Widmung: Für Nordi, Coco und Cu. *smiles to all of them*
Disclaimer: Nix wolle, nix habe, geh fort und lass mich in Friede...
Vorwort: Hai, wir kommen der Sache langsam näher. Was sich nicht alles für dunkle Schatten im Eis verbergen... Ich glaub, langsam sollte ich mal den lieben Doc anrufen...*sighes* Aber immerhin lest ihr das hier... was ein Trost -.-"
Nontheless, Ich gebe hiermit meine ganz persönliche Psychowarnung heraus.
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Breaking through the looking-glass
Der Schmerz hatte ihm drei Stunden Aufschub gewährt, ihn schlafen lassen, bis die existenziellen Energiereserven sich wieder aufgefüllt hatten. Doch nur, um sich jetzt umso unbarmherziger auf die mühsam reproduzierte Kraft zu stürzen.
Schuldig schlug keuchend die Augen auf.
Der watteartig schützende Nebel, die Decke über seinem Bewusstsein wurde ihm fortgerissen, das bösartige Brennen in seinem Körper hatte ihn ruckartig in die Realität zurückgezerrt.
Die Dunkelheit drehte sich vor seinen Augen, vermischte sich mit rotausgefransten Punkten zu einem Wirbelsturm, der ihm übel werden ließ. Er hatte mit Klamotten geschlafen, sich erst in einen übergroßen Jogginganzug eingepackt und dann bis zu den Haarspitzen unter der Decke vermummt. Diese Vorsichtsmaßnahmen hatten Schutz versprochen und seine Nerven beruhigt, jetzt erstickte es ihn. In wilder Panik zerrte er alles von seiner Haut, schleuderte es von sich. Nicht mal das Gefühl des verschwitzten Lakens unter ihm konnte er noch ertragen. Er sprang auf. Krochen da nicht Ameisen über sein Bett? Unzerstörbare Insekten, Millionen rotflackernder Körper, die ihn zerfressen wollten. "NEIN!" schrie er heiser und schlug blind die Fäuste gegen die Schläfen. Einbildung, Einbildung. Aber der Schmerz ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. Er taumelte, prallte gegen eine Wand. Hektische Finger tasteten nach der Erlösung. Waren da nicht auch Ameisen? Er hämmerte gegen die kleine Plastikscheibe und hastete zurück, die Hand fest an sich gepresst, als hätte er sich verbrannt.
Nein, sein fiebriger Blick raste, keine Ameisen, Raufasertapete, nein, keine Ameisen, Frotteebettlaken und Halluzinationen seiner angestrengten Sehnerven.
Ein Moment der Erleichterung, der Stille. Er hörte das Blut rauschen, sein Herz wild pumpen. Fühlte sich losgelöst. Das Chaos lag entmachtet im Licht. Beinahe friedlich.
Sein Adrenalinspiegel sank rapide ab.
Dann explodierte der Schmerz vor seinen Augen.
Er sank auf die Knie und grub die Hände in sein Fleisch, um seinen Körper irgendwie zusammenhalten zu können. Gott, er würde zerreißen, wahnsinnig werden. Die Ecken seiner Vision wurden erneut dunkel, gelbe Flecken wirbelten. "Nein...", kam der protestierende Laut aus seiner Kehle. Die Sicht wurde einen Wimpernschlag lang klarer. "Ach, Fick dich!! Verdammt noch mal!" Seine Stimme röhrte tief in seiner Kehle. Er kämpfte sich nach oben. Taumelte. Blinzelte. Suchte nach der Kommode. Fand sie, auch wenn sie gelb flackerte. Ging zittrig darauf zu. Zerrte die oberste Schublade heraus. Kurz musste er die Augen schließen, eine Hitzewelle zwang ihn in die Knie. "Verpiss dich, Scheiße!! Zurück in die Hölle, aus der du kommst, elendes Miststück." Er brüllte den personifizierten Schmerz mit einem eisigen Flüstern an, verpasste ihm einen heftigen Hieb in den Magen, auf dass er zurückweichen musste. Worte, Worte, Worte. Heilige Waffe des Geistes. "Hau ab! Ich scheiß auf dich! Du kannst mich mal, teufelnocheins." Er zwang sich zurück auf die Beine, durchkramte mit fahrigen Bewegungen das Chaos vor ihm. "Bin besser als du...nicht hilflos...nicht...nie wieder..." verbissen wiederholte er seinen zusammenbrechenden Widerstand, wurde leiser. Es tat so weh. Dann endlich, seine Finger umklammerten das erlösungsversprechende Glas verzweifelt, schraubten es auf. Geistesabwesend irrten seine Augen über das Etikett, nahmen das Wort "Buprenorphin" (1) nicht mal richtig auf, dann schüttete er sich die Tabletten auf die Hand. Einige fielen zu Boden, so sehr zitterte er. Doch drei brachte er schließlich zu seinem Mund und schluckte sie. Hustend klopfte er gegen seinen Brustkorb, bis der Druck sich löste. Dabei stolperte er zurück zu seinem Bett, taumelte, fiel, kroch auf Knien weiter, stöhnend, und hievte sich schließlich auf die Matratze. Rollte sich zu einem festen Ball zusammen.
Der Schmerz zerrte wie ein tobender Orkan an ihm, riss ihn auseinander, brachte ihn erneut an den Rand des Wahnsinns. Aber bevor er fallen konnte, senkte sich eine schwarze Mauer herab. Als die Flut aus Feuer langsam abebbte, lächelte er verloren.
Ein Hoch auf die moderne Chemie.
Dann schaltete sein Körper ab.
*
(1) Buprenorphin = Sehr starkes Schmerzmittel. Opiat, daher mit ernstzunehmenden Nebenwirkungen wie verlangsamtes Wahrnehmungsvermögen und Bewusstseinsbeeinträchtigung.
*
Niemand hörte ihn, niemand würde wissen, dass er hier oben war, niemand würde wissen, was er hier tat. Seine Nase kräuselte sich in witternder Erwartung, leitete ihn zuverlässig durch die Schatten. Lautlos öffnete er die Zimmertür, blieb im Rahmen stehen, endlich bestätigten seine Augen das Bild, das seine Instinkte ihm schon gezeigt hatten. Schuldigs blasser Rücken entblößte sich in seiner ganzen verletzten Schönheit vor ihm. Das dreckige Blut war fortgewaschen worden, die Wunden aber nicht verarztet, so dass er jede einzelne in dunkelroter Schärfe vor sich offenbart sah. Um sie gruppierten sich tiefblaue Flecken, verwoben sich zu einem kunstvollen Gemälde der Gewalt. Farfarello lächelte verträumt. "Armer, zerbrochener Engel...", giggelte er leise, betrat den Raum. Mit ein paar aerodynamischen Schleichbewegungen war er ans Bett getreten, nun beugte er sich nah an die zusammengekrümmte Form heran. Streckte eine Hand aus und fuhr in Millimeter Entfernung ihre Umrisse nach. "Oder bist du eher ein schlafender Dämon?" Er kicherte leise. "Ja, das bist du... Hochmütig, stolz...Selbst jetzt noch..." Vernarbte Finger trafen auf schneeweiße, ausgekühlte Haut. "Ich weiß, warum er dir das angetan hat. Niemand glaubt, dass ich hier irgendetwas mitkriege, aber ich weiß es ganz genau, ja, ja... Es ist wegen dem Kind. Weil er glaubt, es beschützen zu müssen... Wie lächerlich. Aber seine Schmerzen strafen Gott, dafür, dass er so was wie Liebe auf die Welt gebracht hat. Sie tut weh. Sie macht wahnsinnig. Was glaubst du, wie viele Menschen für sie gestorben sind, he? Sinnlos, so sinnlos... Dass wir das aus ihr machen können, hat er sich wohl nicht träumen lassen...Hah, aber es geschieht ihm Recht... Er hat es verdient, meinst du nicht auch? Ja, natürlich meinst du das, ich sehe es dir doch an...Schau dich doch an..." Er brabbelte leise, verstummte dann. Jemand schrie. Das bedeutete, dieser jemand würde gleich aufwachen - ihn vielleicht finden. So schnell und lautlos wie er gekommen war, verließ er das Zimmer wieder. Schloss die Tür und huschte zurück in den Keller. Rollte sich in einer Ecke zusammen. Ein verzücktes Lächeln zuckte über seine Mundwinkel hinweg, als er seine Hand ansah. Sie kribbelte. Er hatte Schuldig angefasst. Wie erregend.
*
!:. Ein irres Grinsen entstellte das vernarbte Gesicht des Alten zu einer dämonischen Fratze. Spiegelte den Wahnsinn, der den imposanten, einst so stolzen Körper zerfressen hatte. Der Körper, der sich, animalische Kräfte an den Tag legend, an dem zerbrechlichen Geschöpf unter sich verging. Kalkweiße Beine lagen weit gespreizt am Boden, zuckten unter unkontrollierbaren Spasmen. Er starrte auf das zerbrechende Wesen - oder war es schon zerbrochen? Nein, es schrie noch. Schrie um Hilfe. Maliziöses Lachen umwickelte die Laute höllischer Qual, entehrte selbst die Hoffnung, die das Wesen auf Rettung hatte, indem es sie umwob und verspottete. Nachtblaue Saphire irrlichterten fiebrig umher, fanden ihn, krallten sich an ihm fest. Er wollte eine Hand ausstrecken und ihrem Seelenmorden Einhalt gebieten, aber da sauste ein Messer herab und zerbrach ihren Lebensschrei unter einem Schwall von Blut. Er war zu spät. !:.
Sein Schrei zerriss sich in seinen Stimmbänder, ein erstickter Laut des Protestes, zerstört am Boden liegend. Crawford saß senkrecht im Bett. Schweiß klebte an seinem Körper. Ihm war eiskalt.
Atmen. Atmen. Ein und aus. Ganz ruhig.
Mit zittrigen Gedanken versuchte er die Lähmung aus seinem Geist zu vertreiben, brachte schließlich genug Kraft auf, um die Hand zu heben und die Nachttischlampe anzuschalten. Weißes Licht vertrieb die kreiselnde Dunkelheit und trotzdem wollte sein Herzschlag sich nur mit willentlichem Zwang beruhigen lassen.
Er wischte sich über die Augen, fuhr mit gespreizten Fingern durch sein rabenschwarzes Haar. Es fühlte sich feucht und klebrig an. Wie in Trance erhob er sich. Bewegung musste den geistigen Schatten entgegenwirken. Er brauchte eine Dusche. Er brauchte Distanz. Nur ein Traum, begann er zu analysieren. Das ist schon lange her und überhaupt, Nagi hatte sein Augenlicht noch. Oder war das Teil einer Vision? Ihm schauderte. Unwillig fröstelnd rieb er über seine Oberarme, erreichte aber nur, dass die nassgeschwitzte Seide sich enger an seine Haut klebte. Er fluchte leise, riss sich den Pyjama vom Körper und stopfte ihn in den ebenhölzernen Wäschekorb unter den Waschbecken. Er würde nachher waschen, entschied er und fand, sich langsam anhand simpler Pläne zur Logik zurückhangelnd, seine Fassung wieder. Die restliche Unruhe würde das heiße Wasser vertreiben. So stieg er unter die Dusche, drehte den Hahn so weit auf, wie es nur möglich war und wartete dann, dass seine Prognose sich bestätigte. Und wartete, und wartete und wartete vergebens.
*
Der Moment des Erwachens war überlagert von einem Gewebe aus Hitze, Staub und dumpfen Pochen zwischen seinen Schläfen. Es war stickig in seinem Zimmer und hell, trotz der zugezogenen Rollläden. Unwillig stöhnend wuchtete er seinen Körper auf den Rücken, hob eine tonnenschwere Hand, um sich die verklebten Strähnen aus der Stirn zu wischen. Erst dann öffnete er die Augen und blinzelte müde, die Kraft, den Kopf zu heben, brachte er nicht auf.
"Gott, ich fühl mich beschissen", Kämpfte sich der einigermaßen klare Gedanke unter dem flauschig-stickigem Morast in seinem Kopf vor, schaffte es sogar in einem heiseren Krächzen über aufgerissene Lippen zu entweichen. Stückchenweise pochten andere hinterher, rissen die schmerztötenden Stoffe von den Rezeptoren und machten Platz für konstruktiven Informationsaustausch. Das gelbe Licht, das den Raum, von weißen Pünktchen verziert, durchwabert hatte, machte langsam Sinn, konnte er sich doch erinnern, dass er es in der Nacht angeknipst hatte. Erst noch träge, dann mit jedem Puzzleteilchen schneller, kehrten auch die anderen Erinnerungen zurück und erklärten ihm alles. Er hatte Nagi angefasst, dann war Crawford gekommen...hatte ihn die Treppe heruntergestoßen und im Keller eingesperrt...hatte ihn... - Er schloss kurz die Augen, atmete tief durch - bestraft, auf sehr beeindruckende Weise...ihn dann in die Dusche geschleppt...dann war er selbst hier her getaumelt...eingeschlafen ... und...
Schuldig hievte sich in die Senkrechte und ächzte leise. Kalte, forschend ruhige Augen tasteten mit fachmännischem Tempo das Zimmer ab. Zerwühlte Bettwäsche, hastig zusammengeknüllte Kleidung, die Notfallschublade war aufgezerrt, Tabletten und das lebenswichtige Glas lagen auf dem Fußboden. Und er selbst saß nackt in seinem künstlich hellerleuchteten Zimmer, abgeschottet vom Sonnenlicht draußen. Eindeutiger konnten die Beweise nicht sein.
Er sackte zurück auf die Matratze, rieb sich die Stirn und seufzte leicht.
Er hatte also einen Anfall gehabt.
Ein kühler, kalkulierender Ausdruck legte sich auf sein Gesicht, ein selbstfremdes Lächeln auf seine Lippen.
Ein Anfall. Gut, kein Grund zur Panik. Er kannte dieses Phänomen, auch wenn das letzte Mal lange her war. Er hatte das unter Kontrolle. Es gab Mittel und Wege diesem kraftzehrenden Wahnsinn entgegen zu wirken und es sollte eigentlich kein Problem darstellen sich diese zu Nutze zu machen.
Eine Weile trieb er in der warmen Leere seiner Entscheidung, räkelte sich in der Gedankenlosigkeit und strich sich geistesabwesend durchs Haar.
Dann, mit einem tiefen Seufzer, erhob er sich und stemmte sich von Bett hoch. "Scheint als müsste ich heute einkaufen gehen, was?", meinte er zu sich selbst und sah auf seine Füße. Der raue Stoff des Läufers kitzelte und versonnen schmunzelnd bewegte er die Zehen. Fast wie auf Gras... Ob er wohl nachher in den Park gehen sollte?
"Dass du aber auch immer so gute Ideen hast, Schu-sama", kicherte er und tapste dann ins Bad. Bevor er irgendwohin gehen konnte, gab es leider noch etwas Unangenehmes zu erledigen. Schmerztabletten halfen nicht gegen alles.
Seine Augen wurden dunkel.
*
Aufwachen, befahl er sich und schon gaben die Augenlider seine Saphire frei.
Es war ein nüchternes Gefühl. Sein Kopf war wie leergefegt, frei von jedwigen Gedanken und Wünschen. Er wunderte sich kurz, warum er nackt in seinem Bett lag, erinnerte er sich doch nicht daran, dass er sich ausgezogen hatte, aber dann wischte er die Sorge beiseite. Warum sollte er sich auch an so etwas Nichtiges erinnern? Ohne noch weiter Zeit zu verschwenden, stand er auf, machte sein Bett und suchte sich dann Kleidung heraus. Im Spiegel musterte er sich kurz. Die Falte, die sich in seinem Hemd verfangen hatte, glättete er geschickt mit den Fingern, dann ein letzter Blick durch sein Zimmer, alles perfekt aufgeräumt, und er verschwand nach draußen. Er sollte etwas Frühstücken.
*
Erniedrigend, das war das einzige Wort, um diese Aufgabe zu beschreiben, schlicht und ergreifend erniedrigend. Dieses tiefe Bewusstsein seiner Situation ließ ihm speiübel werden. Seine Finger, krampften zusammen, krallten sich so fest um das nachgiebige Plastik, dass sich die Haut über den Knöcheln bedrohlich weiß spannte. Erniedrigend, erniedrigend, erniedrigend! Ekel durchfraß jede Faser seines Körpers, wie ein giftiger Nebel, der ihn von innen heraus erstickte.
Vergewaltigt, er war vergewaltigt worden. Jemand hatte ihn missbraucht. Gedemütigt, sich seiner bemächtigt. Er war dreckig...durch und durch von seiner eigenen Schwäche beschmutzt.
Gift... Dreck... Ekel... Nebel, eine Glocke aus Gas, das all das beinhaltete... ihn töten wollte...Töten...Ersticken...Weg, weg, weg!!
Mit einem Mal panisch geworden schleuderte er den Gegenstand in seiner Hand von sich, fiel noch mit demselben Atemzug zu Boden, wo er sich zusammenkrümmte und seinem Würgereflex erlag. Er erbrach nicht, konnte nicht, schließlich hatte nichts gegessen, aber irgendwann gab seine Magenklappe nach und er spuckte mit Blut vermischte Säure. Es stank bestialisch, er riss seinen Kopf in die Höhe und zog die Luft mit blähenden Nüstern ein, schnaufte und keuchte, hyperventilierte; Ekelerregend, ekelerregend!! Er brauchte mehr Luft und alles was er bekam war das olfaktorische Echo seines Ekels, immer und immer wieder drang es in ihn ein, denn mochte er auch Augen und Ohren verschließen können, die Nase ließ das nicht mit sich machen, er musste ja atmen, er musste!
Eine nicht zu ertragende Angst schloss ihn ein, quälte ihn, trieb ihn, bis sein fiebriger Blick schließlich nur noch rotglühende Dunkelheit erfassen konnte. Kurz danach wurde alles schwarz.
Er war in sich selbst zusammengebrochen.
Lange, kostbare Sekunden spülten durch ihn hindurch, wuschen die Überreste des klaustrophobischen Anfalls sorgsam aus. In seinem Inneren arbeitete es, während sein Geist in rabenschwarzer Stille abgekapselt war. Neue Mauern mussten errichtet werden, schnell, schnell, ein besseres Konstrukt musste her, ein härteres, ein sichereres. Ein alt bewährtes.
Eine halbe Minute später schlug er wieder die Augen auf, als das neue alte Abbild eines Menschen. Der rote Engel lächelte zärtlich.
In der lasziven Ruhe des Erwachens räkelten sich seine Gedanken, trieben Flügen und entfalteten sich, gewannen nach und nach das Bewusstsein, die Kontrolle über seine Sinne.
Dumpfes, weiches Licht erhellte den Raum, schien von den Wänden aufgesogen und jeglicher Härte beraubt zu werden. Es war beinahe angenehm. Oder wäre es gewesen, wenn es ihn interessiert hätte. Doch das tat es nicht. Vom einen Augenblick zum anderen war jedes Empfinden für solche Ästhetik nüchternem Kalkül gewichen. Sein Schädel dröhnte wie nach einem Rausch und doch fühlte er sich seltsam leicht... Er richtete sich auf, strich sich eine Strähne aus der Stirn. Klare, kalte Augen sahen sich um, nahmen die Umgebung in sich auf, spiegelten sie, damit der präzise Verstand, für den sie arbeiteten, das Bild analysieren konnte.
Er saß auf dem Boden. Der Boden bestand aus schwarzem Granit, kalter Stein. Zur Linken eine großzügig ausgelegte Dusch, geriffelte Milchglastüren in zwei Flügeln angelegt. Seinen Füßen gegenüber befand sich die Tür, eingerahmt von zwei hohen schmalen Schränken, offenbar zahllose Schubladen. Kurz rief er sich in Erinnerung, was dort drinnen alles verborgen lag, und das verschaffte ihm einen weiteren Stein in der Mauer aus weißem Stein, die sich sein momentanes Bewusstsein nannte. Dann wandte er den Kopf nach rechts, alles langsam und bedächtig, nüchternes Interesse, das nur einem einzigen Zweck diente: Wissen beschaffen zur Kontrolle seiner Umgebung.
Er nahm das Bild einer einladend großen Eckbadewanne in sich auf, und das der Kommode aus Ebenholz daneben, sie beherbergte drei tiefe, abschließbare Schubladen aus, in der obersten steckte der Schlüssel aus Gold.
Mit einem Mal spannte er seine Muskeln, der Schmerz, den er dabei spüren sollte, war weit fort hinter einer Mauer aus geschmeidiger Präzision verborgen. Eine Hand stützte er kurz neben sich ab, dann hatte er sich schon auf die Fußballen geschwungen, und stand aufrecht.
Wie ein königliches Raubtier drehte er sich auf dem Absatz um und sondierte die letzte Wand. In ruhigen, tiefen Zügen atmete er die Luft ein, schien selbst sie zu beherrschen, mit jedem Mal, da sie durch seine Lungen wanderte. Von Boden aufwärts ließ er den Blick die Fußleiste entlang gleiten, folgte schließlich einer Fuge hinauf, über das Abflussrohr, bis er auf den makellos schwarzen Marmor des Waschbeckens traf. Er umrundete das Becken halb, es war wirklich die kleinste Unebenheit geschaffen, dann hob er den Blick langsam und sah in den Spiegel. Auch das Bild, das sich ihm da bot, nahm er mit distanziertem Interesse in sich auf, machte es sich so zu eigen. Schlanker Körper, leichte Ansätze von Muskeln, weiße Haut, ebenmäßiges Gesicht, schmale Lippen, gerade Nase, kalte, hellgrüne Augen, langes Haar, in unregelmäßigen Strähnen bis über seine Schultern gegossen, flammendes Orange, die Farbe von Feuer. Das nennt man wohl attraktiv, befand er abschließend, wirklich interessant.
Was ihn aber noch mehr interessierte als seine Wirkung auf andere, derer er sich mit einem stummen, kalten Gefühl des Verstehens plötzlich wieder erinnerte, waren die Wunden, die diesen Körper, den er gerade betrachtete, zierten. Er sah hinab, zu den Füßen, und begann mit fachmännischer Schnelligkeit eine Liste der Verletzungen anzufertigen. Da waren Schnittwunden unter den Sohlen und Kratzer auf der Oberfläche, bis auf einen, der quer durch seinen linken Fußballen verlief, nicht besonders tief, dann rote Abdrücke um seinen Knöchel herum, ein großer blauer Fleck.
So arbeitete er sich aufwärts, prüfte alles mit der selben Sorgfalt, die wohl ein Firmenchef bei der Jahresinventur verlangen würde. Bald war er fertig mit der oberflächlichen Analyse des Körpers und tastete nun weiter mit den Händen. Gut, keine Brüche, keine inneren Blutungen.
Als er zwischen seinen Beinen angelangt war, stockte er.
Ein Bild flammte auf. War schon wieder verschwunden. Er hatte die Hand zurückgezogen, hielt sie sich vor die Augen, glaubte fast, er müsse gleich erste Brandwunden erkennen. Aber bis auf ein leichtes Kribbeln hinter seiner Stirn passierte gar nichts. Angestrengt starrte er weiter auf die Hand, bis die deutlich sichtbaren Schnitte plötzlich verschwammen, sich die Farbe von getrocknetem Blut in gepunkteten Linien über die gesamte weiße Fläche zog.
Gelbe und schwarze Punkte tänzelten an dem Rand seines Sichtfelds.
Er schüttelte den Kopf - und seine Sicht war wieder normal.
Was war das gewesen? Die Frage verwirrte ihn. Es fühlte sich seltsam an, etwas nicht zu wissen, etwas nicht erklären zu können, nach etwas fragen zu müssen.
Wie in Trance senkte er die Hand wieder, verfolgte sie mit den Augen und sah zu, wie sie zwischen seinen Schenkeln verschwand. Kaum da seine Fingerspitzen auf Haut trafen, war das Bild zurück - und etwas anderes mit ihm. Schmerz!
Der Impuls kam so heftig und überraschend, dass es ihn zu Boden schickte. Er schlug hart auf und blieb benommen liegen.
Ein befremdliches Gefühl breitete sich in ihm aus. Schmerz. Schmerz. Wenn er Schmerz empfand, dann... ja, was dann?
Schmerz hatte während der ganzen Prozedur keine Rolle gespielt, er war sich nicht mal bewusst gewesen, dass es so etwas wie einen Inhalt für diesen leeren Begriff in der hintersten Ecke seines Wortschatzes gab, geschweige denn, dass er ihn je kennen lernen, je verstehen würde. Er hatte die Bewegungen einfach ausgeführt, weil es ihm als notwendig erschienen war, aber er hatte nicht gefragt, warum er überhaupt verletzt war, was er überhaupt hier tat, und auch nicht warum er sich das nicht fragte, aber jetzt, da der erste Gedanke in diese Richtung gelenkt war, folgten weitere, drehten sich umeinander, verwirbelten zu einem dunklen Strom. Hatte er sich vorher von dem Körper losgelöst gefühlt ohne zu wissen, dass es eigentlich anders sein sollte, traf ihn nun die Erkenntnis über diese Fremde wie ein Paukenschlag. Atemlos presste er die Fäuste gegen seine Schläfen, wie um seinen Kopf zusammenzuhalten. Er hyperventilierte schon wieder. Aber, bevor er sich erneut verlor, hielt ihn eine Stimme auf.
"Beruhig dich." Das körperlose Flüstern teilte die aufkeimende Panik, wischte sie beiseite als wäre sie von ihrem explosiven Zerstörungspotenzial schlichtweg unbeeindruckt. "Was bist du denn, dass du dich jetzt aufgibst?"
Das Gummiband seines Bewusstseins schnappte zurück, setzte all seine Erinnerungen, Motive und Charaktereigenschaften an ihren rechten Platz. Er schluckte heftig, fühlte sich überwältigt, aber der Moment war flüchtig, schon strich ein Hauch über sein Herz und kühlte sein Blut.
"Runyael..." keuchte er erkennend und die Stimme in seinem Kopf lachte leise.
"Ja.", antworte sie sanft. "Ich sehe, du erinnerst dich an mich."
"Warum bist du hier?"
"Weil du mich brauchst..."
Er schwieg, senkte den Kopf. Erleichterung mischte sich mit Unbehagen.
"Es ist lange her..." summte die Stimme zärtlich, Schuldig fühlte imaginäre Arme über seine Wange streichen, sein Haar liebkosen, hinter Fürsorge versteckte Besitzansprüche. Ein Zittern beherrschte ihn und er wusste nicht, ob es angenehm oder unheilverkündend war, wahrscheinlich beides.
"Du weißt, wer du bist", fuhr der tiefe, den Sinnen schmeichelnde Bass fort, "und du weißt, dass du Stärke besitzt. Willst du das alles vergessen, nur wegen so einer Lappalie? Mach dich doch nicht lächerlich, hm?" Sanfte Küsse auf seinem Nacken, seinem Ohr. Angenehm, entschied er, beruhigend, vertraut.
"Nein."
"Das ist mein braver Junge." Ein letztes zärtliches Hauchen. Dann war es weg.
Schuldig richtete sich auf. Die Hände waren zu Fäusten geballt. Jeder Muskel in ihm angespannt. Abwehrbereit. Kampfposition. Seine Augen waren kalt.
"Ich bin Schuldig."
Er kannte seine Vergangenheit, er kannte seine Fähigkeiten und er kannte seine Macht. Er würde nicht sterben.
"Nein. Nicht, bevor ich nicht bekomme, was ich will." Echote er seinen inneren Entschluss und begegnete dem Blick des Spiegelwesen fest. Er sah sich selbst. "Und du wirst mir dabei helfen!"
Dann wandte er sich nach rechts, nahm das dort stehende Regal in Augenschein. Mit seinem metallisch glänzenden Edelstahl kontrastierte es den Rest der Einrichtung und wirkte doch dazugehörig, beinahe zentral. Als er den Inhalt betrachtete, wusste er auch, warum das Regal so wichtig war. Hier bewahrte er seine medizinische Ausrüstung auf. Und hier war offenbar auch die Dose gelandet, stellte er mit hochgezogener Augenbraue fest und griff nach dem weißen Gegenstand. Mit medizinischer Professionalität prüfte er den Inhalt, zog dann aus einer Packung neue Handschuhe und zog sie sich über. Wie es schien stand seiner Selbstbehandlung nichts im Weg, Vernunft zählte angesichts seines Stolzes nichts. Kein Grund das Ganze zu dramatisieren. Es war schließlich nicht das erste Mal.
*
Die Packung glitt in seine Manteltasche und er verließ die Apotheke ohne einen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden. Die Apothekerin hatte ihn schon vergessen, würde sich nicht mal wundern, warum das überaus teure, rezeptpflichtige Medikament fehlte.
Schuldig legte den Kopf in den Nacken. Die ersten Sommertage hatten bereits eine schweißtreibende Intensität angenommen, aber ihm war es nur Recht. Wie oft hörte er in sternenklaren Nächten sehnsüchtige Gedanken an die entfernten Lichter gerichtet und wie oft dachte er dabei, dass die Menschen sie nicht mehr alle hatten. Totes Licht anzubeten war doch wirklich sinnlos. Kälte, Tod, Schwärze, was sollte daran bitteschön ersehnenswert sein? Das Sterben, das war die Poesie, das Leid, die Verzweiflung, die Schmerzen. Aufbegehrendes Leben, das war die wahre Schönheit des Todes. Er lächelte verträumt und sah direkt in die Sonne. Alle Welt erkannte in ihr den Lebensspender, aber er wusste, dass die wunderschöne Dame sie alle bloß täuschte. Einsames Wesen, dachte er und summte. Lass deine brennenden Tränen auf uns fallen, auf dass wir deine himmlischen Todesqualen spiegeln.
Beinahe vergnügt schlug er den Weg Richtung Park ein, scherte sich einen Dreck um seinen Verstand, der ihm sagen wollte, dass das Opium nur die Symptome, nicht aber die Ursachen heilte und er eigentlich Ruhe genießen sollte. Es gierte ihn nach seiner eigenen Auffassung von Ruhe. Nach Gedanken, nach Lust, nach Leben. Und dazu brauchte man nun mal Menschen.
*
"Noch Kaffee?"
Crawford sah auf, nickte minimal. Schon vor Sonnenaufgang hatte er sich zum Arbeiten auf die Terrasse gesetzt und wenn er jetzt etwas brauchen konnte, dann war es Kaffee. Bis er Nagis Frage hörte, hatte er es nur nicht bemerkt gehabt, die Konzentration seiner Gedanken war notwendigerweise zu stark gewesen, schließlich hatte er die schwere Bürde dunkler Ahnungen in Schach zu halten.
Von der knappen Antwort unbeeindruckt füllte Nagi Crawfords Tasse mit der schwarzen Flüssigkeit wieder auf, hauchte ihr dampfendes Leben ein. Ruhig stellte er die Kanne auf den Balkontisch, das eigentümlich angenehme Geräusch von Metall auf Glas nur ein leises Klicken. Während er sich schweigend zu Crawford setzte, nahm dieser den ersten Schluck der koffeinhaltigen Flüssigkeit zu sich und sah ihn über den Rand seiner Zeitung an, ein kleines Zeichen seiner Dankbarkeit. Nagi lächelte leicht. Seine Finger woben sich um den sanft glühenden Bauch seiner eigenen Tasse, sogen die Wärme des Tees durch das Porzellan in sich auf. Angenehm. Crawfords Blick verschwand wieder hinter seiner Zeitung, Nagis wanderte an ihm vorbei, tastete den Horizont ab. Ihr Appartement lag direkt unter dem Dach eines der höchsten Wolkenkratzer der Umgebung, von hier aus hatte man relativ freie Aussicht, wo man sich doch in den unteren Etagen wie lebendig begraben fühlte. Da halfen auch große Fenster nichts, wenn man in einer kleinen Arbeiterzelle sein tägliches Dasein fristete. Und doch war es nicht die endlose Weite des Blaus über ihm, das seine Aufmerksamkeit beanspruchte, was sollte er sich auch darum kümmern, wenn er nirgendwohin fliegen wollte, nein, sein Interesse galt eben jenen eingekesselten Bürofabriken, auf die er herab sehen konnte. Wie es wohl war, dort zu arbeiten, wie schwer mochte so ein Wolkenkratzer wohl sein, konnte er ihn einstürzen lassen, wie viele Menschen würden dabei wohl zerquetscht werden? Nicht, dass er eine besondere Lust am Töten gehabt hätte, der Hass, den er die vergangenen Jahre so mühsam aufrecht erhalten hatte, war verschwunden und die grimmige Befriedigung menschliches Leben auszulöschen mit ihm. Es war vielmehr eine nüchterne Faszination angesichts der Macht, die die potenzielle Energie versprach. Das Gedankenspiel, ob er sie entfesseln konnte, wie klein Menschen doch waren, verglich man sie mit dem wahren Leben. Oder dem Tod. Gegeben, um genommen werden zu können. Das lockte ihm ein versonnenes Lächeln auf die Lippen. Nur ein kleines, kaum wahrnehmbares, aber Crawford, der seine Lektüre gerade beendet und niedergelegt hatte, verharrte einen Moment, um ihn anzusehen. Wenn es nicht sie wären, die hier saßen, dann hätte ein Beobachter die entsponnene Szene wohl als friedlich erachtet. Vielleicht war sie das auch, egal wer sie waren. Nur, sie würde nicht lange anhalten. Er würde sie zerstören müssen.
"Nagi."
Dunkle Saphire klärten sich, fokussierten ihn nüchtern.
"Wir haben einen Auftrag für heute Abend."
*
(Die drei berühmten Worte ^-^) To be continued
Tja Leutchens, das war´s mit dem ersten halben dritten Teil, ich hoffe, ihr lebt noch? Ich jedenfalls bin froh, dass ich Runyael endlich vorstellen konnte und Schus Reaktion so hinbekommen hab, wie sie mir gefällt...
"Runya" ist übrigens ein elbisches Wort und bedeutet so viel wie "rote Flamme" und die Nachsilbe "-el" dürfte ja jedem bekannt sein. Ich fand den Namen ganz passend. ^-^
Und jetzt zu euch, wie hat euch das Kapitelchen gefallen?
Mailt mir eure Fragen, damit ich weiß, worauf ich noch mehr eingehen muss, Kritik, Lob und Briefbomben aller Art sind natürlich auch herzlichst willkommen.
Liebe Grüße, Diva
