Kapitel 5

Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, als sie seine festen Schritte auf dem Teppichboden hört. Verzweifelt sieht sie in Harukas Gesicht, die ihren Blick ratlos erwidert. Panisch überlegt sie, ob es möglich ist in Windeseile ihre Kleidung zusammen zu suchen und hinein zu schlüpfen. Sinnlos! Dafür ist keine Zeit mehr. Mit einer 99 prozentigen Wahrscheinlichkeit wird Mister Joel im unmittelbar nächsten Augenblick an ihrem Schreibtisch angekommen sein. Eigentlich hat sie keine Angst gefeuert zu werden. Sie mag den Job ja eh nicht. Aber die Demütigung dieser Situation könnte sie nicht ertragen. Tiefe Scham steigt aus ihrer Magengegend empor. Nein, es ist nicht einmal, weil es sich um eine Frau handelt, mit der sie hier erwischt werden würde. Das stört sie komischerweise gar nicht. Fühlt sich eigentlich an wie das Normalste der Welt. Als hätte sie nie anderes getan, als Frauen zu lieben. Generell in dieser Situation zu sein treibt ihr schon wieder eine hektische Schamesröte auf die Wangen. Es wäre ihr genauso peinlich, wenn es ein Mann wäre, der da unbekleidet neben ihr hockte und der Dinge harrte, die da kommen mochten. Strategisch denken kann Michiru in diesem Schockzustand nicht mehr. Um so überraschter ist sie, als sich ihr Körper wie von selbst auf den Rand des Schreibtisches zu bewegt. Sie funktioniert einfach ohne nachzudenken. Ihre Lippen öffnen sich in einem kopflosen Versuch die gefürchtete Situation noch abzuwenden und sie hört ihre eigene Stimme in bestimmten Ton rufen: "Halt! Keinen Schritt weiter! Nicht bewegen! Meine Kontaktlinse! Ich hab sie verloren!" Gerade so weit, dass nur ihr Gesicht zu sehen ist schaut sie, auf allen Vieren krauchend, um ihren Schreibtisch herum und sieht erleichtert, den zur Salzsäule erstarrten Mann mittleren Alters. Die Lippen zu einem teils mitleidigen, teils schadenfrohen Grinsen verzogen schaut er auf sie herunter. "In welchem Umkreis ist sie denn? Soll ich suchen helfen?" "Um Gottes Willen, bloß nicht. Ich weiß nicht genau. Die Dinger bekommen manchmal Beine." Jammert Michiru in gespielter Verzweiflung. "Am besten, sie gehen gaaanz langsam und vorsichtig erst mal wieder raus, ja?" Mit sämtlichem weiblichen Charme, den sie in dieser unangenehmen Situation aufbringen kann, blinzelt sie ihren Chef lieb bittend, aus großen Mädchenaugen an. "Bloß nicht näher kommen, sie könnte überall sein. Ich ruf sie an wenn sie in Sicherheit ist, ja? Dann besprechen wir ihr Anliegen, dann bin ich ganz für Sie da, ok?" Mister Joel ist auch nur ein Mann. Er kann Michirus süßen Mädchencharme keine Sekunde widerstehen. Langsam und unheimlich vorsichtig schleicht er leichtfüßig zum Ausgang. Mit aller Konzentration darauf bedacht den Boden auf seinem Weg mit messerscharfem Blick ab zu suchen. Zu gerne wäre er der heldenhafte Retter von Michirus Sehkraft. Aber Fehlanzeige. Er brummelt noch irgendetwas in seinen Dreitagebart, bevor er mit enttäuschtem Blick den Raum verlässt. Während die Tür noch ins Schloss fällt, kann sich Michiru das Lachen kaum noch verkneifen. Sie prustet durch fest aufeinandergepresste Lippen, dreht sich schnell zu Haruka um, die sich gemeiner weise die ganze Zeit während des Dialoges knabbernd und piesackend an Michirus Hinterteil zu schaffen gemacht hatte, was es nicht gerade erleichtert hatte, die Beherrschung zu behalten. Die Gequälte legt breitgrinsend einen Finger auf ihre Lippen. Sie fallen sich in die Arme und pressen fest die Gesichter an den Körper des Anderen und halten unter mühevoll gesuchter Beherrschung die Luft an, um nicht laut lachend los zu brüllen. Die Schritte des unerwünschten Eindringlings verhallen auf dem Gang. Und wie aufs Stichwort schnappen die Turteltauben nach Luft und fangen schallend zu lachen an. Beinahe rollen sie auf dem Boden umher, lachen Tränen, geben sich übermütige, kleine Schmatzer und können ihr Glück kaum fassen.