Kapitel 6

Endlich Feierabend! Michiru lässt alles stehen und liegen wie es gerade ist, springt auf, packt ihre Sachen und stürzt zur Tür. Schon die ganze Zeit konnte sie es kaum erwarten, bis der Arbeitstag vorbei war. Eigentlich ging es ihr schon die ganze Woche so. Sie konnte sich nicht erinnern schon einmal so häufig hintereinander und über solch einen langen Zeitraum verteilt auf die Uhr gestarrt zu haben. Wie quälend können Sekundenzeiger sein und Minutenzeiger, die sich schier in Zeitlupe über das Ziffernblatt zu bewegen scheinen. Eine Woche ist das turbulente Erlebnis mit Haruka her und seither dreht sich Michirus Welt nur noch um sie. An nichts Anderes vermag sie mehr zu denken. Mühsam bringt sie Tag um Tag die Arbeit hinter sich, um dann erwartungsvoll in ihr neues Liebesnest zu eilen. Sie ist schon fast zu Hause in dem großen Loft, das Haruka ihr Heim nennt. Nirgendwo anders möchte sie mehr sein. Und Haruka tut alles, um es ihnen so schön wie möglich zu machen. Sie genießen das Leben, gehen aus, schauen Filme, diskutieren über Bücher, treffen Harukas Freunde und lieben sich und lieben sich und lieben sich.... Wie konnte sie sich nur je ein Leben ohne diesen wunderbaren Menschen vorstellen? Aber heute macht sich langsam Nervosität in ihr breit. Es ist so weit. Die ersten wirklich bewegenden Konsequenzen sind fällig. Heute wird ihr Verlobter von der Geschäftsreise wiederkommen, die ihr diese unkomplizierte Zeit mit Haruka ermöglicht hat. Fest entschlossen ist sie ihm die Wahrheit zu sagen, die Verlobung zu lösen und sich entgültig zu trennen. Vermutlich wird sie sich auch das erste mal outen. Ich liebe eine Frau! Wird sie tatsächlich schon den Mut haben diesen Satz über die Lippen zu bringen? Es zu tun und darüber zu reden sind eindeutig zwei verschiedene Dinge. Sie weiß es wirklich nicht. Ach, sie wird es einfach auf sich zukommen lassen. Es wird sich schon fügen, wie es sein soll. So ist es doch immer, seit sie Haruka kennt. Alles scheint seinen Lauf zu nehmen, wie es immer hat sein sollen. Alles passt zusammen. Sie ist einfach glücklich. Konnte sie das je zuvor in ihrem Leben behaupten? Vorloren in diesem immer weitergreifenden Gedankengeflecht ist sie ganz automatisch den gewohnten Heimweg gegan....... Moment mal! Falscher Weg! Sie ist fast bei Haruka angekommen! Meine Güte! Wieder ein klarer Beweis dafür, dass man immer dort zu Hause ist, wo die Menschen sind, die man liebt. Mühevoll hält sie der Versuchung stand einfach ihre Planung über den Haufen zu werfen, zu Haruka hinein zu laufen und das zu tun, was sie jetzt viel lieber tun würde, als ihr unbequemes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Einfach Verdrängen, dass da noch ein Mann existiert mit dem sie lebt, dem sie versprochen ist. Ja, unglaublich aber wahr. Diese Lieson ist beinahe so etwas wie von den Eltern arrangiert. Ok, es ist nicht so, dass die Eltern ihr einen Unbekannten als ihren zukünftigen Mann vorgestellt hätten. Ganz so mittelalterlich sind die Zustände und Traditionen in ihrer Familie dann nun doch nicht. Im Gegenteil. Micha und sie kennen sich schon ewig. Eigentlich ist er fast wie ihr Bruder. Als Kinder zweier sehr gut befreundeter Familien haben sie eine extrem verknüpfte Vergangenheit. Viele gemeinsame Reisen und Feste verbinden ihre Erinnerungen. Eine gemeinsame Schulzeit, Studium an der gleichen Uni. Liegt ja fast nahe, dass man sich da näher kommt, oder? Aber waren sie sich denn je wirklich nahe? Intensiv versetzt Michiru sich zurück in die Vergangenheit durchforstet ihre Erlebnisse und spürt nach, was sie für Gefühle für diesen Menschen hegt. Hm, gut auf ihre seltsame Weise hatten sie sich schon immer verstanden. Er war eben ein paar Jahre älter gewesen. Hatte sie geneckt und geärgert wie ein älterer Bruder das wohl tun würde, hatte ihr später Dinge abgenommen, Unannehmlichkeiten abgewendet, sie vor den Neckereien anderer Kinder beschützt. Ja, er konnte schon auf seine Weise lieb sein, und auch wenn sie nie ein wirklich persönliches, vertrautes oder inniges Verhältnis gehabt - gar intime Geheimnisse oder Emotionen geteilt hatten, fühlte sie sich diesem Menschen schon irgendwie nahe. Und es war ja auch bequem gewesen. Sie musste nichts entscheiden, sich keine Sorgen um die Zukunft machen, sich ihren Eltern nicht widersetzen. Es war für sie immer eine gegebene Tatsache gewesen, dass sie einen Mann heiraten, ihm Kinder schenken würde, mit dem sie ein extrem oberflächliches Umgehen pflegte. Sie kannte es ja nicht anders. Mutter und Vater hatten es ihr immer so vorgelebt. Mit Haruka erstürmte sie da völlig unerforschtes Territorium. Sie musste sich erst schwer daran gewöhnen sich so zu öffnen und mit der Intensität einer so offenen Frau konfrontiert zu werden. Und muss es noch. Zwar ist Haruka auf den ersten Blick cool, selbstbewusst, fast rüde. Sie öffnet sich nicht jedem. Aber der Klischeebehaftete Spruch "Harte Schale - weicher Kern" trifft bei ihr wie die Faust aufs Auge. Nun ist Michiru wirklich dort angekommen, wo sie einst vorhatte ihr gesamtes Dasein bis zum Ende ihres Lebens zu fristen. Michas Wagen steht, wie erwartet, in der Einfahrt. Mit klopfendem Herzen und zögernden Schritten nähert sie sich der Tür. Sie tritt ein und kaum dass sie die Diele auch nur annähernd durchquert hat kommt ihr auch schon Micha mit langen Schritten entgegen. "Hallo Schatz!" sagt er mit höflichem Gesicht und haucht ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. So platonisch ist ihre Beziehung eigentlich fast durchgängig, mal abgesehen von den wenigen unbeholfenen Anläufen miteinander zu schlafen, die man obligatorisch vornahm, weil es sich ja schließlich so gehörte, wenn man zusammen war. Begeistert waren sie wohl beide nie gewesen, auch wenn es nie einer von Beiden geäußert oder sich anmerken lassen hätte. "Wie war Deine Zeit?" fügt er, ganz offensichtlich rhetorisch gemeint hinzu, dreht sich auf dem Absatz um ohne eine Antwort abzuwarten und geht voran in "die gute Stube". "Ich hab noch zu arbeiten. Du entschuldigst mich?" "Nein! Ich muss dringend etwas mit Dir besprechen!" Unterbricht ihn Michiru mit aufgeregt leiser Stimme. "Das hat doch Zeit bis zum Abendbrot!" Tut er ihren Einwand sachlich ab. "Nein!!! - Es ist wichtig! Wir reden jetzt!" Michirus Stimme wird entschiedener und lässt keinen Widerspruch mehr zu. Sie ist verzweifelt. Keinen Moment mehr will sie dieses Gespräch noch hinauszögern. Keine Zeit mehr vergeuden, die sie mit ihrer Liebe verbringen könnte. Nicht riskieren, dass sie kalte Füße bekommt, wegläuft und ihn einfach Wortlos verlässt, ohne zu erklären, ohne ihre Sachen mit zu nehmen, ohne sich umzusehen.... Nein, so stillos möchte sie nicht sein. Schließlich ist sie eine erwachsene Frau. Da stellt man sich doch schweren Situationen. Erstaunt zieht Micha eine Augenbraue hoch und sieht sie fragend, aber ohne sich weiter zu wiedersetzen an. So hat er seine Zukünftige bisher nur selten erlebt. Sie hatte immer still und ergeben alles hin genommen. Selten ihr wahres Temperament gezeigt. Er kannte sie nicht, genau wie ihre Eltern. "Also schön, was gibt es denn?" Fügt er hektisch hinzu, in der Annahme, dass sie das in ein zwei Sätzen abschließen würde und er wieder sich wieder seinen Angelegenheiten widmen könnte. Was konnte Michiru schon großartig zu sagen haben? Sie hatten sich nie viel zu sagen gehabt. "Setz dich besser hin! Es dauert einen Moment und ich fühle mich gehetzt, wenn wir hier zwischen Tür und Angel reden." Ganz klar und gefasst wartet Michiru nun ab, wärend er sich ein Glas mit einem der teuren Weinbrände füllt und sich hinsetzt.