Recherche II


Für eine umfassende Abfrage in Sachen transzendente Entitäten musste sich Alpha wohl oder übel wieder an den Hauptrechner bequemen. Das Lesegerät war nur mit der blutleeren Auflistung der Lebens- und IBftA-Daten der lokalen und überlokalen Götter bestückt. Zugegeben, er hatte die Liste so abgefragt, aber wenn er die Organisationsstruktur dieser Überdimension verstehen wollte, war sowieso der Raum-Zeit-Computer gefragt.

Dieser „kleine" Einbruch in die Relaisstation war gar nicht so klein, wenn ein vor fünf Tagen bestellter Wunschdrache mit zweifelhafter rechtlicher Basis der IBftA eins auswischen wollte. Ganz zu Schweigen von einem schizophrenen Gott, der einfach so seinen Dienst quittierte. Oder dem Kind, das ihn ohne Anleitung ersetzen sollte.

Dafür benötigte Alpha ein Diagramm, hübsch bunt und übersichtlich. Mehrdimensional und mit Details bitte. Das Lesegerät gab das nicht her. Der Agent seufzte und stand auf. Mehr oder weniger aus Reflex nahm er die Teetasse und führte sie zum Mund. Erst als der widerliche Geschmack des Fenchel-Anis-Kümmel – Tees ausblieb, merkte er, dass sie leer war. Jetzt trank er den Tee schon freiwillig... Obwohl, wenn er ehrlich war, hatte er Hunger. Erbsensuppe und Tubennahrung waren ganz klar nicht nahrhaft genug für ihn. Allerdings gab es nichts besseres, ausser er ass Schrauben und Metallverkleidungen. Und so weit war sein Unbehagen wirklich noch nicht gediehen.

Die Sons würden ja bald wieder kommen, und sie hatten hoffentlich neben Omega noch ein paar Lebensmittel dabei. Sonst hätte er bald ein mittelgrosses Problem – aber das liess sich auch lösen, wenn Omega und er schnell genug durch das Basisportal kämen. Nur hätten sie dann einen kleinen Erklärungsnotstand... Warum der Pilot des Teams so unterzuckert war, dass er nicht geradeaus laufen konnte.

Aber das war jetzt erst mal irrelevant. Wichtig waren die lokalen und überlokalen transzendenten Entitäten dieses Universums. Alpha stellte die Tasse entschieden auf den Tisch zurück und ging in den Kontrollraum. Er umrundete einmal den Rechner und tippte kurz auf die Bildschirme, um sich zu versichern, dass die Segmente noch ordnungsgemäss funktionierten. Ein flüchtiger Blick auf die Statusanzeigen gab normale Werte aus. Die Sache mit der Damentoilette war wirklich peinlich gewesen. Kien hatte so eine Angewohnheit...

Alpha klatschte in die Hände, um den Gedanken zu vertreiben. Darum ging es nicht. Er brauchte nicht hohe sondern niedrige Politik, und zwar gleich. Transzendente Entitäten der fünften und sechsten Generation, lokales Universum. Er hatte sich diese „Pause" verdient.

Der Computer der Bank Süd war zur Zeit nicht beschäftigt. Alpha setzte sich an das Kontrollpanel. Dass er dabei den aktiven Toren von Nord den Rücken zuwandte, stimmte ihn nicht gerade fröhlicher. Dafür war Süd aber auch das leistungsfähigste und am Besten abgesicherte der vier Rechnersegmente, da es notfalls als einziges noch funktionierendes System ein Basisportal aufbauen musste. Die Aktion dauerte dann zwar Stunden, aber wenn nichts anderes übrig blieb...

Transzendente Entitäten des lokalen Universums. Das Lesegerät hatte immer noch die Namensliste im Speicher. Die sollte er eigentlich als Basis für den Datensammler benutzen können. Alpha zog die Wiege über die immer noch staubige Verkleidung des Rechners zu sich und warf das elektronische Buch hinein. Der Rechner sollte auch was zu tun haben.


Eine halbe Stunde später hatte Alpha ein Programm zusammengehackt, dass seinen Ansprüchen genügte und auch noch halbwegs schnell war. Die Rechenleistung des Computers war ja nicht die höchste – aber dafür war das Teil stabil. Er gab den Inhalt des Lesegerätes als Parameter an und liess den blitzschnellen Vollidioten machen. Es war eine Schande, dass die IBftA solche Rechercheprogramme nicht schon standardmässig mitschickte. Bei seinen diversen Einsätzen mit Omega hatte er schon ein paar vergleichbare Programme schreiben müssen. Aber sein oberster Brötchengeber glaubte anscheinend noch immer an lange bürokratische Listen.

Alpha sollte sich vielleicht einfach einen eigenen Datenträger mit brauchbaren Hilfsprogrammen zusammenstellen, die er dann einfach so mitnahm. Unter den ganzen anderen technischen Spielereien, die er laut Vorschrift immer mit sich herumzuschleppen hatte – der Neuronalisolator war noch das wenigste, auch wenn Alpha ihn herzlich hasste – konnte er einen kleinen UniversalSP sicher verstecken. Das müsste er sich noch mal ernsthaft überlegen.

Während er noch überlegte, welches Gadget aus seinem Arsenal am unauffälligsten mit dem UniversalSP auszurüsten war, blinkte der Promt auffordernd. Alpha starrte ihn lange Minuten an ohne ihn wirklich wahrzunehmen, dann schrak er zusammen. Er hatte beim Programmieren den End-Piepser vergessen.

Oder doch nicht. Die Recherche war durch, jetzt musste er sie nur abfragen. Er forderte zuerst ein Systemschema an, Blickpunkt Erde.

Zuerst gab es die intelligenten Lebewesen, dann ihre Verwaltung, und dann die anderen Verwaltungsebenen... Darüber die assistierenden transzendenten Entitäten... mindere Götter. Dann der planetare Gott Dende – die „lokale transzendente Entität des Planeten Erde". Der lokale Gott war einem „Kaiou" unterstellt, der seinen Amtssitz in einer Nebendimension hatte. Diese überlokale transzendente Entität der ersten Stufe verwaltete einen ganzen Quadranten seiner Galaxis. Auf diesem Schreibtisch sammelte die Berufung des neuen Gottes der Erde Staub en Masse, wenn Alpha das richtig sah.

Die vier Kaious einer gegeben Galaxis waren wiederum einem Dai-Kaiou zugeordnet. Darüber gab es dann noch die Kaioushin und Dai-Kaioushin. Dieses Universum war im Prinzip geviertelt. Nur eine Person, die für vier Planeten zuständig war, gab es anscheinend nicht. Das System bestand schon seit sehr langer Zeit, und das Bemerkenswerte daran war, dass sich seit seiner Einsetzung anscheinend nichts geändert hatte – ausser den Namen der Amtsinhaber, natürlich. Die lokalen Posten und Kaious wurden an interessierte und geeignete Persönlichkeiten auf Lebenszeit vergeben, die überlokalen Jobs der Kaioushin waren anscheinend erblich – oder wurden zumindest von einer einzigen langlebigen Art monopolisiert.

Alpha hatte schon viele Gross- und Kleindimensionen besucht, und die meisten waren durch undurchschaubare Göttersysteme gekennzeichnet – und halsbrecherische Politik. Das hier war absolut anormal. Kein Gott hier schien sich auch nur annähernd für Politik und Macht zu interessieren. Was in anderen Dimensionen eindeutig des Guten zu viel war – vor lauter Machtgier vergassen die Götter ihre eigentlichen Aufgaben – fehlte hier völlig. Alles stand still. Das war wirklich eigenartig.

Alpha liess das Organigramm rotieren. Auf den zweiten Blick fielen ihm grosse Lücken ins Auge. Die gesamte obere Führungsschicht war ausgefallen - und niemand kümmerte sich darum. Eine Abfrage der Kaious kennzeichnete diese als „im Amt," nicht unbedingt aber als fleissig tätig. Der Kaiou des Nordens zum Beispiel hatte nichts besseres zu tun, als Kämpfer zu trainieren und in seinem Garten zu pennen. Die Auseinandersetzung auf der Erde war ihm wohl völlig entgangen. Das war ja nicht unbedingt das göttliche Verhalten, das Alpha gewohnt war. Ob das an der allgemeinen Apathie der Führungskräfte hier lag? Das musste er genauer herausfinden.

Alpha schaltete auf eine andere Konsole und rief den Rekonstruktor auf. Das Programm informierte ihn, dass jede Benutzung ausführlich geloggt und in der Zentrale gemeldet werden müsste. Erstens war es experimentelle Software und zweitens hatten normale Agenten keinen Zugriff auf diese nützliche Spielerei. Alpha nickte und bestätigte fleissig. Mittlerweile war ihm die Sache so egal... Er musste sowieso alle Logs fälschen, die nach der Fluktuation des Basistores entstanden waren. Da waren ein paar hundert leicht zu findende Einträge kein wirkliches Problem.

Endlich war er durch. Er sah noch einmal in seiner selbst zusammengehackten Recherche nach und setzte den Rechner auf die Amtseinsetzung des Kindgottes an – zumindest der Teil, der am Amtssitz des Kaiou stattfand. Kurz darauf hatte er „Wort und Bild zum Anfassen" – der Holoprojektor liess über dem Rechnergehäuse eine Szene in drei Dimensionen entstehen. Alpha stellte die Wiege mit dem Lesegerät auf die Konsole. Sie störte den Bildaufbau.

Eine Gestalt erschien auf einer grünen Wiese, im Hintergrund ein kleines Haus. Ein käferartiges Wesen stand in der Tür. Neben dem Neuankömmling – es war Son Goku – stand der kleine Gott der Erde. „Ich bin gerade von Namek zurück," sagte Son Goku, „Das ist der neue Gott der Erde!" und zappte wieder weg. Das Käferwesen – es musste der Kaiou des Nordens sein, der für die Erde zuständig war – rief ihm noch ein „Warte, Goku..." hinterher, aber er war zu spät. Dann seufzte er und watschelte in das Haus zurück. Die Szene endete.

Das war die Amtseinsetzung des Gottes der Erde? Goku zappte nach Namek und besorgte einen neuen Gott für die Erde, den er dann dem Kaiou eine Sekunde lang vorstellte und ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand. Alpha konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Da war die Sache mit der Schnapsflasche ja noch harmlos dagegen.

Er konnte sich schon vorstellen, was vorausgegangen und hinterher passiert war. Der Gott der Erde hatte seine Macht erhalten, also hatte sich der Kaiou des Nordens mit Son Gokus Eigenmächtigkeit zumindest abgefunden, wenn er sie nicht sogar unterstützte. Und dann hatte der junge Gott der Erde einen Drachen berufen... den „göttlichen Drachen" Shen-long.

Und wenn er schon dabei war: Wusste der Kaiou überhaupt von der Anwesenheit Shen-longs? Alpha änderte die Parameter des Rekonstruktor. Es gab keinen Zweifel. Goku wurde auf Anraten des Kaious nach einer bestimmten Zeit wiederbelebt – selbstverständlich unter Einsatz von Shen-long – und verliess ihn dann in Richtung Erde...

Einen Moment. Wie schaffte es eigentlich ein Individuum dieser speziellen Dimension, in die Paralleldimension der Kaiou-Welt einzudringen? Und erst Recht durch Zappen?

Alpha schaltete auf eine dritte Konsole. Son Gokus dimensionale Aktivitäten... er war ein Mal gestorben und wiederbelebt worden. Die Zeit in der Paralleldimension hatte er mit Training unter dem Kaiou des Nordens verbracht. Dann hatte er einen Planeten besucht und dort hatte er eine Technik namens „momentane Teleportation" gelernt. Das war gerade noch innerhalb der von Raum gestellten Regeln. Aber dann wandte er diese Technik an, um Dimensionsgrenzen zu überwinden... namentlich zappte er von der Erde zum Planet des Kaiou... Natürlich innerhalb des Dimensionenpaares, aber in klarem Verstoss gegen Chronos' Gesetze...

Alpha lachte. Er konnte nicht anders. Regeln gab es für Son Goku nicht. Und die IBftA war unfähig, Übertretungen dieser Art zu ahnden... weil sie sie nicht registrieren konnten. Zeitmaschinen waren leicht zu finden, aber Individuen mit Spezialfähigkeiten? Goku hätte auch ohne die Hilfe von Shen-long in die Station kommen können. Der Kerl war ein wildes Talent!

Alpha sackte auf seinem Hocker zusammen und kicherte hilflos.


Als er sich wieder beruhigt hatte, schaltete er wieder auf das Organigramm seines kleinen Hacks. In der Dimension fehlten ein paar Dai-Kaious und es existierte nur noch ein Kaioushin. Der war – an seiner Lebenserwartung gemessen – auch ein Kleinkind. Alpha schüttelte den Kopf. So eine verschlafene Dimension hatte er noch nicht erlebt. Das wäre eine Sache für Werdandi und Skuld.

Er holte eine Speicherplatte aus dem Lagerraum und kopierte den Inhalt des Lesegerätes und die Ergebnisse seiner verschiedenen Recherchen auf den Datenträger. Urd hatte noch nie protestiert, wenn er ihnen Arbeit mitgebracht hatte. Das gab dann eine gute Entschuldigung für ein „Arbeitsessen" mit Werdandi. Die Platte würde er wie üblich durch den Zoll bringen. Aufnahmen für den Boss wurden schliesslich persönlich überbracht.

Als der Transfer erledigt war, löschte er die Programme und dazugehörigen Daten. Omegas Verschwinden und Kiens Pläne mussten unbedingt vertuscht werden. Die überlokalen Götter wussten von Shen-long und tolerierten ihn, Shen-long selbst hatte keine Sympathien für die IBftA. Die Götter hier würden in ihrer Langsamkeit und mit ihren kleinen Geheimnissen also kaum nachhaken, wenn die IBftA die Sache nicht weiter verfolgte. Und er könnte Schicksal vielleicht dazu überreden, etwas lenkend einzugreifen, damit die Sache unter dem Teppich blieb.

Und die einzig relevante Frage war immer noch, was Kien mit Chronos' Behörde anstellen wollte. Vorher sollte er aber noch ein paar Spuren vernichten, sonst müsste er diese Fragen für Ronos beantworten... Und das wollte er auf keinen Fall.