Arveleg
König Arveleg von Arthedain betrachtete den Turm auf dem Amon Sûl.
Ein Zeichen der Wachsamkeit und des Glanzes, den die Dúnedain einst nach Mittelerde gebracht hatten. Vieles von diesem Glanz war verblasst, denn die Erben der Númenórer aus Westernis wurden in Arnor weniger und kraftloser.
Die Dúnedain aus Gondor gar vermischten sich schon seit Jahrhunderten mit den gewöhnlichen Menschen. Das ließ sie überleben, aber machte die reine Linie zunichte.
Jedoch erschien es Arveleg manchmal mehr als wünschenswert, auch den Dúnedain Arnors neues Blut hinzuzufügen. Aber statt in die Zukunft zu sehen, bekämpften sie sich lieber gegenseitig und stritten um die Herrschaft über ein Land, das im Niedergang begriffen war.
Und sie kämpften um den Amon Sûl, um das, was der Turm auf dem Hügel seit Menschengedenken in seinen starken Mauern barg.
Keines der drei Königreiche hatte bis jetzt die unumschränkte Herrschaft über die Wetterspitze errungen, obwohl das Gebiet zu Arthedain gehörte.
So wie es aussah, wurde ihnen jetzt eine Entscheidung von Außen aufgezwungen.
Arveleg wandte sich an Varahir, der neben ihm auf einem schwarzen Streitross saß und seinen Blick ebenfalls über die Wetterspitze schweifen ließ. Der jüngere Mann übertraf den älteren an Gestalt und Kraft bei weitem, aber Arveleg hatte großen Respekt vor dem gebrechlichen König. Es dauerte ihn nicht wenig, dass er Varahir erst in Zeiten der Not zu schätzen lernte.
Unzählige Jahre waren sie Rivalen um der Vorherrschaft in Arnor gewesen und nun brachte die Bedrohung aus Angmar sie zusammen und versöhnte sie. Arveleg war es zufrieden. Insgeheim hatte er sich über die Streitereien zwischen den Reichen gegrämt, aber sein Stolz hatte ihm ein Einlenken verboten. Er vermutete, dass es auch Varahir schwer gefallen war, zu streiten, denn der König hatte ihn aufrichtig und ohne Scheu begrüßt, so als habe niemals etwas zwischen ihnen gestanden.
"Varahir, mein Verwandter und Freund", sagte Arveleg mit tiefem Ernst. "Lange Zeit waren wir getrennt durch nichtige Zwistigkeiten. Nun sind wir zusammen in der Not. Ich danke dem gütigen Schicksal dafür, aber ich verfluche es zugleich als unbarmherzig, denn es hat uns keine besseren Zeiten für unsere Versöhnung zugebilligt."
Varahir nickte stumm. Fest sah er dem stattlichen Mann neben sich in die Augen.
Arveleg stand in der Blüte seiner Jahre. Er war hochgewachsen und kräftig. Sein schmales Gesicht wurde von dunklen Haaren eingerahmt und von einem Paar eisgrauer Augen beherrscht, die nun kummervoll, aber entschlossen blickten. Er trug ein einfaches, helles Gewand, ein langes Kettenhemd und darüber einen schlichten Brustpanzer.
Vor wenigen Tagen war das Heer aus Arthedain eingetroffen, angeführt von König Arveleg, der den Ruf aus Cardolan erhört hatte. Varahir hatte ihn mit offenen Armen empfangen und willkommen geheißen. Die beiden Könige hatten nach langen Jahren des Schweigens ein ernstes und aufrichtiges Gespräch miteinander geführt und sich – zur Freude vieler – versöhnt.
Nun standen sie mit ihren vereinten Heeren an der Wetterspitze bereit, um sich der Bedrohung aus Angmar zu stellen.
Arveleg fuhr fort: "Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Du weißt, was den Bösen aus dem Schreckensreich im Norden an den Amon Sûl verschlägt. Wir sollten das Kleinod in Sicherheit bringen, solange noch Zeit dafür ist. Ich bitte dich, mir zu erlauben, es nach Fornost schaffen zu lassen. Dort ist es für's erste vor den Klauen unseres Feindes geschützt."
"Du sprichst recht, mein Verwandter!" erwiderte König Varahir. "Deine Worte sind weise und sie finden meine Zustimmung. Vergessen sind die Streitereien um den kostbaren Besitz, den der Turm birgt. Lass den Schatz von einem geeigneten Boten in deine Hauptstadt schaffen!"
Arveleg rief einen Krieger heran. Der Mann verneigte sich ehrerbietig vor den beiden Fürsten und sah dann seinen König an.
"Hole Nardil, Schwertmann", befahl Arveleg.
Es gab viele Recken in seiner Schar, die mit Leib und Leben für das Gelingen der bevorstehenden Aufgabe eingestanden hätten, aber Arveleg wollte den Schatz aus dem Turm nur einem anvertrauen, dessen Herz und Geist stark genug waren.
Nach kurzer Zeit kam ein braunes Ross herangetrabt. Der Reiter führte das Hauptbanner des Heeres aus Arthedain mit sich. Er lenkte sein Pferd zu Arveleg und neigte den behelmten Kopf. "Mein Fürst!" sagte er mit leiser, aber wohlklingender Stimme.
Arveleg betrachtete seinen treuen Heermeister und langjährigen Kampfgefährten eine Weile schweigend. Es fiel ihm schwer, einen vortrefflichen Kämpfer und Anführer vom Schlachtfeld zu schicken – gerade weil man ihn brauchen würde. Aber es galt auch, die Kostbarkeit aus dem Turm auf dem Amon Sûl fortzuschaffen und in Sicherheit zu bringen.
"Nardil, ich habe eine Bitte an dich", begann König Arveleg zögernd, denn er wusste wohl, dass er seinem Heermeister etwas abverlangte, dass dieser nur widerwillig zu tun bereit sein würde.
"Ich möchte, dass du dich nach Fornost zurückziehst ...", begann er.
"Nein! Hör mich an, bevor du widersprichst", sagte er schnell, als Nardil zu einer Erwiderung ansetzte. "Es ist eine sehr wichtige Aufgabe, die ich dir anvertrauen will. Ich weiß, dass du der richtige Mann bist, sie auszuführen. Hole den Schatz aus dem Turm und bring ihn in Sicherheit. Doch hüte dich vor den Verlockungen, die er dir bereiten wird. Eile nach Fornost, so schnell dein Pferd dich tragen kann. Nimm ein paar zuverlässige Krieger mit dir. Auch König Varahir wird dir Kämpfer an die Seite stellen. Sie alle sollen dich mit ihren Leben beschützen, falls der Feind auf deine Spur gelangt!" Nardil wollte etwas entgegnen, aber König Arveleg schüttelte den Kopf und fuhr fort: "Dies ist der Wille Varahirs und Arvelegs, die sich versöhnt haben!"
Und so geschah es.
Nardil, des Königs treuer Heermeister, fügte sich dem Wunsch der beiden Könige.
Er wäre lieber an der Seite seines Fürsten geblieben, um für ihn zu kämpfen und auch zu sterben, wenn es das Schicksal so bestimmte. Aber der Schatz des Amon Sûl war wichtiger als selbst das Leben eines Herrschers. Widerstrebend suchte er den Turm auf und als er hinauskam hatte er ein schweres Bündel aus dunklem Stoff geschultert. Ein Blick von der Wetterspitze nach Nordosten ließ ihn davoneilen. Der Feind war nahe ...
Weißgraue Wolken zogen drohend hinter dem Heer aus Angmar auf, das sich langsam voranschob. Es war selbst von der Wetterspitze aus nur schwer zu überblicken, so groß war die Zahl der Feinde. König Varahir kämpfte gegen die Besorgnis an, die sich seiner bemächtigte. Nicht genug, dass der Feind viele Krieger befehligte, es schien sogar, als habe selbst das Wetter sich gegen die Dúnedain verschworen. Unzweifelhaft brachten die Wolken Schnee mit sich, um die Menschen erneut leiden zu lassen. Wie man es auch betrachtete, es stand nicht gut für die Menschen in Arnor.
Varahir sah sich von seinem erhöhten Standpunkt aus um.
Die vereinigten Heere der Dúnedain aus Cardolan und Arthedain waren bereit und harrten aus, um den Feind aus Angmar den ersten Schritt tun zu lassen. Auch die Zahl ihrer Krieger war nicht gering. Ihre Waffen und Rüstungen waren vortrefflich, ihr Mut ungebrochen, aber dennoch fehlte etwas Entscheidendes: die Zuversicht.
Stille herrschte unter den Kriegern. Nur das vereinzelte Klirren von Waffen und ein stampfendes oder schnaubendes Pferd verursachten Geräusche. Es war, als warte ein Geisterheer auf einen letzten Kampf, um dann in die Verdammnis zu gehen.
König Varahir fröstelte es und das lag nicht allein an der Kälte, die wieder schlimmer wurde. Er war viel zu alt für einen solchen Feldzug, dessen Ausgang für die Dúnedain kein guter sein würde. Um das zu erkennen, brauchte es nicht viel Weitsicht. Doch vielleicht meinte das Schicksal es gut mit den Kriegern aus Cardolan und Arthedain.
Aber ganz gleich wie es endete, Varahir wollte an der Spitze seiner Männer stehen; und wenn es das Letzte war, was er tat, dann war es gut.
Er hatte viele Kämpfe bestanden; immer an vorderster Front und mit unerschütterlichem Mut. Nun war sein Kettenhemd schwer geworden und seine Hände zitterten. Nur kraftlos würde er sein Schwert führen können. Todesahnungen überkamen Varahir - dennoch war er ruhig und gelassen, als er zu seinem Pferd trat und sich von einem seiner Recken in den Sattel helfen ließ. Der König lächelte den Mann dankbar an. Varahir versuchte so viel Zuversicht in diese Geste zu legen, wie ihm möglich war und erleichtert sah er, dass der Krieger etwas von der Anspannung verlor, die seinen Körper und sein Gemüt ergriffen hatte. So aussichtslos der kommende Kampf auch sein mochte, Varahir wusste, dass die Dúnedain ihr Bestes geben würden, um den Feind zu schwächen und davon abzuhalten, weiter vorzudringen. Wenn dadurch wenigstens Arthedain dem Ansturm der finsteren Horden trotzen konnte, war viel gewonnen. Der König von Cardolan trieb sein Pferd sanft an. Er wollte ein letztes Mal die Reihen seiner Krieger abreiten, den Männern Mut zusprechen und ein Vorbild an Ruhe und Gelassenheit sein ...
