Die Wetterspitze
Aran-dûr beobachtete befriedigt, wie das feindliche Heer ausharrte. Er hatte seine eigenen Streitkräfte eine gute Meile von der Wetterspitze entfernt halten lassen. Er wollte die Stunde des Mittags verstreichen lassen, denn die Sonne verdunkelte seinen Geist, auch wenn sie hinter den Wolken verborgen war, die drohend am Himmel hingen.
Er hatte keine Sorge, dass die Dúnedain den ersten Schritt wagen würden. Ihre Anführer waren klug genug, den Vorteil, den ihr Standpunkt an der Wetterspitze bildete, nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzten. Sie konnten mit relativ wenigen Kriegern das Gebiet verteidigen, und den Zugriff auf den Turm vereiteln, während der Großteil der Kämpfer das feindliche Heer davon abzuhalten versuchen würde, weiter nach Cardolan vorzudringen und sich dann nach Fornost, der Hauptstadt Arthedains, zu wenden. Denn es führte nur ein Weg dorthin, den ein Heer ohne Mühen nutzen konnte: die Große Oststraße, die an der Wetterspitze vorbeilief. Ringsum war das Land für eine Streitmacht, zudem im Winter, kaum zu passieren, und Aran-dûr wollte es auch nicht versuchen. Ihm lag es an Schnelligkeit, zudem hatte er keinen Zweifel daran, die Reihen der Dúnedain durchbrechen zu können, obwohl sie unerwartet zahlreich waren.
Die scharfen Augen des Königs von Angmar schweiften über das Heer des Feindes hinweg.
Er sah die prächtigen Fahnen Cardolans und Arthedains vereint.
Die Fürsten der zwei Reiche hatten ihre Streitigkeiten also beigelegt. Insgeheim hatte er damit gerechnet. Jeder Herrscher mit einem Funken Vernunft sah, wann es Not tat, den eigenen Stolz zu überwinden und um Hilfe zu ersuchen.
Aber das würde weder Cardolan noch Arthedain noch etwas nützen. Ja, sie taten ihm sogar einen Gefallen mit ihrem Bündnis, denn sie kamen gemeinsam zu ihm und er konnte sie beide schlagen. Eine einzige große Schlacht würde die Entscheidung bringen, schnell und unabwendbar ...
König Arveleg fiel es nicht leicht, zu warten. Er war ein impulsiver Mann, gewohnt Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Aber er stimmte mit Varahir darin überein, den Feind den Zeitpunkt für die Schlacht wählen zu lassen, zu sehen, was er tat, um gebührend darauf antworten zu können.
Arveleg hoffte, dass sich diese Strategie als die richtige erwies. Wenn nicht, dann war das Schicksal Cardolans und Arthedains besiegelt!
Mit Wehmut dachte der König an das Reich, das Arnor einst gewesen war, und von dem die Lieder der Menschen und Elben so trefflich und wundervoll berichteten ...
Als Schiffbrüchiger war der große Fürst Elendil nach Mittelerde gekommen und als Herrscher eines gewaltigen Reiches durfte er zu seinen Ahnen eingehen. Prachtvoll und mächtig war Arnor zu Elendils Zeiten gewesen und auch lange Jahre danach.
Der erste König hatte es weise und mit starker Hand regiert; seine Getreuen aus Númenor zur Seite. Auch das Oberhaupt über Gondor war er gewesen, welches seine Söhne Isildur und Anárion im Süden gegründet hatten. Elendil hatte Annúminas zur Hauptstadt Arnors erhoben; ihre Schönheit wurde damals weithin gerühmt.
Legendär war des Königs Freundschaft zu Gil-Galad dem Fürsten der Noldor gewesen. Elb und Mensch hatte ein Geist vereint, wie es selten war zwischen den Sterblichen und den Erstgeborenen.
Aber bald schon war der Stern der Dúnedain gesunken. Der Krieg des Letzten Bündnisses gegen Sauron hatte nicht nur Elendil, Isildur und Anárion das Leben gekostet, sondern auch viele Dúnedain, so dass ihre Zahl in Arnor gering wurde. Annúminas war den Verfall preisgegeben worden und die nachfolgenden Könige hatten Fornost als ihren Sitz gewählt.
Vor nunmehr fünfhundert Jahren - nach dem Tode Earendurs, des zehnten Königs - war unter dessen Söhnen ein Streit um die Thronfolge aufgekommen und Arnor in die drei Reiche Arthedain, das für die reine Linie stand, Cardolan und Rhudaur zerfallen ...
Sie alle begehrten seitdem die Herrschaft über den Amon Sûl, eines kostbaren Schatzes wegen, der im Turm auf der Wetterspitze verborgen war. Ein Palantír war es, einer jener schwarzen Steine unterschiedlicher Größe, die demjenigen, der hineinblickte, vieles offenbarten, was in fernen Landen geschah. Auch dienten sie der Kommunikation, wenn sie miteinander in Verbindung traten.
Sieben Palantíri gab es einst in Mittelerde. Sie waren mit Elendil aus dem fernen Númenor gekommen, eine Erinnerung an die verlorene Heimat der Menschen aus dem Westen.
Wertvoller und begehrter als Gold, Geschmeide, ja selbst Mithril waren sie, denn sie wogen gar manches Königreich auf. Einen davon hatte Elendil auf den Turm des Amon Sûl bringen lassen, der eigens dafür errichtet worden war. Hoch hatte man ihn gebaut, so dass jeder ihn sehen konnte, mochte er auch Meilen entfernt sein. Und prächtig - ein würdiges Äußeres für den Schatz, den er barg.
Quader aus hellem Stein, der nie verwitterte, bildeten sein Fundament. Neun Bögen, kunstvoll verziert, umgaben den Fuß des Turmes wie Blätter eine kostbare Blüte. Unter dem größten, der nach Westen blickte, war die Tür.
Eine Krone, in Gold gelegt, beherrschte ihre Mitte, und das hellpolierte Holz vermochte das Licht zu reflektieren, so dass die Krone in einen überirdischen Schein getaucht war, wenn die Sonne auf sie fiel.
Vor dieser Tür, hinter der sich nun kein Palantír mehr befand, standen König Arveleg und König Varahir. Mit feierlichem Ernst reichten sie sich die Hände, und dann umarmten sie sich. So wurde das Bündnis zwischen Cardolan und Arthedain gegen den Schrecken aus Angmar besiegelt. Die Dúnedain brachen in Hochrufe aus, so dass ihre Stimmen über das zuvor so stille Heer getragen wurden.
Die Krieger aus Angmar erwiderten den jäh aufbrandenden Jubel mit wüstem Geschrei und Schmährufen. Sie brannten darauf, dass die Schlacht begann, Wildheit und Blutdurst ließ sie unruhig werden. Immer wieder huschten die Blicke der Kämpfer zu der reglosen, gänzlich durch eine dunkle Rüstung verborgenen Gestalt ihres Herrn. Aran-dûr saß gleichmütig auf seinem schwarzen Streitross, doch nach kurzer Zeit hob er eine Hand, und sofort verstummten seine Krieger, denn Furcht erfasste sie wie eine eisige Hand – selbst die Trolle und Warge duckten sich ängstlich, als die Welle der Kälte über sie hinwegzog.
Auch die Dúnedain wurden still und Schweigen legte sich jetzt wieder über die beiden Heere. Aber die Stille und Reglosigkeit würde nicht mehr lange währen, das wussten alle Kämpfer. Sie spürten es, so wie ihre Pferde, die aufgeregt zu stampfen begannen und an den Zügeln zerrten. Helme wurden zurechtgerückt, Schilde gehoben und Hände an Waffen gelegt ...
Aran-dûr warf einen Blick über sein Heer. Dann nickte er Grotraug zu, der neben ihm auf einem stämmigen Pferd saß und die Befehle des Königs erwartete. Der Wilde Mensch verneigte sich, und rief einen scharfen Befehl. Seine Stimme war kaum verklungen, da begannen dumpfe Trommeln einen langsamen Rhythmus zu schlagen.
Der Hexenkönig gab seinem Ross die Zügel frei. Stolz warf es den Kopf zurück und wieherte. Die Horde aus Angmar setzte sich in Marsch.
König Arveleg und König Varahir schwangen sich auf ihre Pferde, als Bewegung in die feindlichen Truppen kam. Gemeinsam ritten sie den Amon Sûl hinab und durch die Reihen ihrer ernsten Krieger, bis sie an der Spitze des Heeres standen.
"Nun ist das Ende nahe, denn die finsteren Scharen aus Angmar sind bereit", sagte Varahir langsam und leise.
"Ich fürchte, du hast recht", erwiderte Arveleg, während er seinen Blick zum Feind schweifen ließ, der nicht weiter als eine knappe Meile entfernt war.
"Eine solche Streitmacht hat uns noch niemals bedroht. Aber lass uns mutig in den Kampf ziehen und so viele Feinde mit ins Verderben nehmen, wie uns möglich ist."
Mit diesen Worten zog Arveleg sein Schwert. Varahir tat es ihm gleich und so warteten die beiden Fürsten gefasst auf die erste Angriffswelle. Als sie herankam, stießen die Dúnedain den Schlachtruf ihrer Ahnen aus. Schwerter und Speere hoben sich, die Bogenschützen waren bereit und hinter ihnen harrten die Berittenen aus. Um den Fuß des Amon Sûl hatten die Krieger einen engen Ring gebildet, denn auch wenn der Palantír nicht mehr im Turm war, so wollte man das Symbol einstiger Größe vor dem Zugriff des Feindes schützen. Kein Ork sollte die hellen Mauern besudeln, solange noch ein Funken Leben in den Verteidigern war ...
Mit Wucht prallten die Heere aufeinander und eine gewaltige Schlacht entbrannte.
Der Feind hatte seine Reihen nicht geordnet. Ihm standen so viele Hände mit Waffen zur Verfügung, dass es nicht nötig war. Für einen gefallenen Ork kamen zwei anderen, und auch Menschen und Warge waren zahlreich genug, um den Verlust an Kämpfern aufzufangen.
Gar grässlich waren sie alle anzusehen, die großen Orks in ihren Kettenhemden und mit kurzen Spießen und Schwertern in den Klauen, die Zähne zu einem hässlichen Grinsen gebleckt und auf das Blut der Dúnedain aus. Die Trolle mit Keulen, die Knochen zermalmen konnten wie trockenes Geäst, die Menschen aus dem Nebelgebirge in ihren groben Fellen. Sie hatten Schwerter, Speere und Bögen, mit denen sie lange, schwarze und vergiftete Pfeile abschossen, die den Getroffenen einen qualvollen Tod bescherten. Warge schlichen zwischen ihnen dahin, ihre großen Mäuler gierig verzogen.
Aber die größte Furcht kam in die Herzen der Menschen, wenn sie den Hexenkönig von Angmar auf seinem Streitross erblickten.
In eine schwarze Rüstung hatte er sich gekleidet, die verziert war
mit Runen einer längst vergessenen Schrift. Sein Gesicht blieb
verborgen hinter einer schwarzen Maske, die eine Fratze von abscheulicher Hässlichkeit darstellte. Es schien, als brenne ein schwarzes Feuer um ihn herum, sein Ross schnaubte Flammen und hatte rote Augen und Nüstern, wie ein Pferd aus einem vergessenen Zeitalter.
Niemand bestand gegen den grausamen Fürsten, der nicht nur mit dem Schwert in der Hand kämpfte und einer starken Lanze, sondern auch mit dunklen Künsten, die die Krieger der Dúnedain fällten wie ein Axthieb einen morschen Baum, denn ihre Knochen wurden zerschmettert von einer unsichtbaren Kraft. Aber todesmutig stellten die Männer von Cardolan und Arthedain sich diesem Feind entgegen ... jedoch vermochte niemand ihn zu bezwingen.
Der Himmel über den Kämpfenden verdunkelte sich, obwohl es erst früher Nachmittag war, und Schnee begann zu fallen, so dicht, dass er das Sehen erschwerte.
Das Schlachtfeld war erfüllt von Geschrei und dem Klirren der Waffen. Bald mischte sich das Klagen der Verwundeten und Sterbenden darunter und der Schnee färbte sich rot vom Blut der Menschen und schwarz von dem der Orks.
Tapfer waren die Dúnedain und tapfer waren ihre Könige.
Doch Tapferkeit und Mut allein retteten König Varahir nicht vor den Waffen seiner Widersacher.
Der alte König wurde schnell müde, und auch wenn seine Getreuen - allen voran Oronir, sein Heermeister - alles daran setzten, ihren Fürsten zu schützen, so vermochten sie nichts gegen den gut gezielten Ger eines Wilden Menschen auszurichten, der den König mit Wucht in die Brust traf. Er durchschlug die Panzerung Varahirs und verwundete den König schwer.
Der alte Fürst sank in die Arme Oronirs, der herbeigeeilt war, um seinen stürzenden Herrn aufzufangen. Verzweifelt versuchte der Heermeister das Blut zu stillen, aber es nützte nur wenig. Varahirs Atem ging schwer und seine Wangen verloren all ihre Farbe.
Die Dúnedain aus Cardolan klagten um ihren Fürsten. Sie hielten die Feinde ab, die sich um die kleine Schar zusammenrotteten, und ihre Kampfeswut war groß.
König Arveleg wurde es gewahr. Er sah das reiterlose Pferd Varahirs und dunkle Ahnungen erfüllten sein Herz.
Er sammelte einige seiner Männer und kämpfte sich zu Varahir vor. Einen letzten Gefallen wollte er dem alten Fürsten erweisen, der tapfer und freundlich gewesen war und den er lieb gewonnen hatte. Deshalb befahl er den Kriegern, die ihn begleitet hatten, Varahir vom Schlachtfeld zu tragen und in Sicherheit zu bringen. Vielleicht gelang es, den schwer Verwundeten nach Fornost zu schaffen. Falls seine Kräfte reichten, waren dort fähige Heiler, die alles für den König von Cardolan tun würden.
So verließen die Dúnedain aus Arthedain mit Varahir die Stätte des Todes - sie waren einige der wenigen Glücklichen.
Viele Stunden währte der Kampf nun schon und ein Ende war nicht abzusehen.
Die Dúnedain stritten tapfer, töteten zahlreiche Feinde und hielten den Amon Sûl frei von den Scharen aus Angmar.
Es schien, als sei die Menge der Gegner zwar zahlreich, aber nicht stark genug, um die Verteidiger zu überrennen.
Jedoch, nur ein Aufschub war ihnen vergönnt, denn am späten Nachmittag zeigte sich die Übermacht des Feindes in ihrer ganzen Stärke.
