Der Turm
Der König von Angmar trieb sein Schlachtross an. Wohin er auch kam wurden seine Feinde niedergestreckt. Zufrieden sah er, dass sich die Reihen der Dúnedain lichteten. Sie zogen sich nach und nach an den Fuß der Wetterspitze zurück – dort hielten sie wacker die Stellung.
Es war Zeit, auch diesen Widerstand zu brechen!
Aran-dûr stieß einen schrillen Schrei aus und der letzte Ansturm auf den Amon Sûl begann.
Von Raserei getrieben und der Furcht vor der Macht ihres Gebieters, stürzten sich die Orks und die wilden Krieger der Menschen mit unbändiger Wut auf das dezimierte Häufchen Dúnedain, das den Amon Sûl und den Turm zu verteidigen suchte.
Aber Wehe den Getreuen, die noch zu kämpfen vermochten!
Die Übermacht war zu gewaltig und bald wurden sie hinweggefegt wie Blätter in einem Herbststurm.
Schließlich standen nur noch wenige vor der Tür des Turmes und an den Hängen des Hügels und der Fürst von Arthedain saß auf seinem weißen Ross am Fuße der Wetterspitze.
Um seinetwillen stritten die letzten Männer von Cardolan und Arthedain – es war das Einzige, was sie noch tun konnten.
König Arveleg sah die Getreuen fallen und es wurde ihm schwer ums Herz, denn das Volk der Dúnedain war nie zahlreich gewesen in Arnor.
Erbittert wehrte er die Orks ab, die an ihm vorbei und auf den Hügel wollten. Die Wilden Menschen zögerten, ihn anzugreifen, denn er schien ihnen stärker als alle anderen Krieger der Dúnedain. Ihre Attacken waren zögerlich; dennoch fielen sie alle unter Arvelegs Streichen.
Aber plötzlich sah sich der Fürst von Arthedain einem Gegner gegenüber, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Ein schwarzes Streitross, gewaltiger als alle Pferde, die Arveleg jemals in seinem Leben erblickt hatte, trug einen hochgewachsenen Reiter, der ein blitzendes Mithril-Schwert in der Hand hielt.
Der Hexenkönig von Angmar!
Durch die Augenschlitze seiner schwarzen Maske glühte ein roter Schimmer.
König Arveleg hatte die unheimliche Gewissheit, dass es die Augen des Herrn von Angmar waren, die ihn anfunkelten, seine Seele durchdrangen und sein Herz mit Furcht füllten. Aber Arveleg war ein Dúnadan. Kampfeswut überkam ihn und der Mut seiner Vorfahren.
Beherzt gab er seinem Pferd die Sporen und stürzte sich mit erhobenem Schwert auf die Schreckensgestalt vor ihm.
Einen Schlachtruf stieß der König von Arthedain aus, in der Alten Sprache, und dann schrie er "Elendil!" und traf auf seinen Gegner.
Hart prallten die Pferde aneinander und Arvelegs treues Ross wieherte vor Schmerzen, aber es blieb auf seinen Hufen.
Das schwarze Pferd des Herrn von Angmar trat und biss, von einem bösartigen Geist erfüllt und nicht minder gefährlich als sein Reiter.
Arveleg warf seinen großen Schild von sich, packte sein Schwert mit beiden Händen und hieb auf seinen Gegner ein, so fest er es vermochte.
Fast spielerisch wehrte Aran-dûr die Hiebe ab und wenn ihn einer traf, dann achtete er nicht weiter darauf, denn keine gewöhnliche Waffe durchdrang seine Rüstung. Er ließ König Arveleg angreifen und verfolgte mit Befriedigung, wie sein Gegner schwächer wurde.
Als Arveleg unachtsam seine Deckung fallen ließ, schwang Aran-dûr sein Schwert.
Der Dúnadan konnte sich nur noch durch einen beherzten Sprung vom Pferd vor dem tödlichen Hieb retten.
Er kam hart auf dem Boden auf, aber der Schnee dämpfte seinen Fall. Schwerfällig erhob sich Arveleg und dann tat er etwas, was er in einer Schlacht noch nie getan hatte - er zog sich vor seinem Gegner zurück.
So schnell es ihm möglich war, erklomm er die Wetterspitze. Dort lagen alle Dúnedain erschlagen, aber auch unzählige Menschen und Orks hatten ihr Leben gelassen. Nur wenige von ihnen waren noch auf dem Amon Sûl. Zunächst erhoben sie ihre Waffen gegen Arveleg, aber dann wichen sie plötzlich zurück; in ihren Augen stand Furcht.
Der König war erstaunt darüber, aber als er hinter sich das Schnauben eines Pferdes vernahm, wusste er, dass seine Feinde nicht seinetwegen unschlüssig waren. Sie warteten darauf, was ihr Herr tun würde, der jetzt vor Arveleg sein Pferd zügelte und geschmeidig hinunterglitt.
Der König von Arthedain nahm sein Schwert fest in beide Hände und erwartete seinen Gegner, der größer und stärker war und dem man keine Schwäche ansehen konnte.
Bald war die Wetterspitze erfüllt vom Klirren zweier langer Schwerter, Funken stoben bei jeder Berührung der Klingen auf - und bald war das Schicksal König Arvelegs besiegelt.
Ein mächtiger Schwertstreich traf den Dúnadan in die Seite und er brach in die Knie. Ein Blutstrahl schoss hervor, heißer Schmerz durchzuckte seinen geschundenen Körper und vernebelte seinen Blick. Jeden Moment musste er den Todesstoß erhalten, also wappnete er sich gegen das Unvermeidliche.
Aber kein kalter Stahl durchstieß seinen Leib, um seiner Existenz ein Ende zu bereiten. Verwirrt blinzelte Arveleg, richtete sich mit Hilfe seines Schwertes auf und hob den Blick.
Er sah in rotglühende Augen und ein Antlitz, das sowohl von unbegreiflicher Schönheit, als auch von unfassbarer Grausamkeit war, denn der Herr von Angmar hatte seine Maske abgenommen. König Arveleg fühlte sich an uralte Gemälde erinnert, wie sie im Palast von Fornost noch dann und wann in dunklen Gängen zu finden waren. Sie zeigten die Númenórer, die Stammväter der Dúnedain und Vertriebene aus Akallabêth, der verlorenen Heimat des Westens.
Arveleg erkannte mit Grauen, dass er gegen einen Schatten aus der Vergangenheit kämpfte, der lebendig geworden war – oder niemals gestorben. Wer bist du? wollte er fragen, aber er schwieg, weil sein Feind auf ihn zutrat – und weil er die Antwort fürchtete.
"Cardolan ist besiegt, Rhudaur untersteht meiner Herrschaft schon lange Zeit und Arthedain wird folgen!"
Der Herr von Angmar lachte leise, aber es lag so viel Bosheit in diesem Lachen, dass Arveleg wünschte, seine Ohren davor verschließen zu können. "Die Schlacht ist verloren. Noch ehe die Nacht hereinbricht, wird Arthedain um seinen König klagen können, und auch Cardolan wird bald seines Herrschers beraubt sein.
Aber zuvor werde ich mir das Kleinod nehmen, um das ihr narrenhaften Fürsten so viele vergeudete Jahre gestritten habt! Hättet ihr doch den Palantír weise gehandhabt, und auf eure Feinde geachtet, statt euch gegenseitig zu belauern". Verachtung und Spott lagen in diesen Worten, die Aran-dûr an den König von Arthedain richtete.
"Holt ihn Euch, wenn Ihr es vermögt", keuchte Arveleg mit brechender Stimme. Seine Kräfte verließen ihn jetzt völlig, so als habe der Blick in die Augen des Königs von Angmar alle Lebensenergie, die ihm noch verblieben war, aus ihm herausgesogen, und erschöpft stützte er sich auf sein schartiges Schwert. Sein Kettenpanzer war von lähmender Schwere. Verbeultes und geborstenes Metall drang in sein Fleisch, dort, wo die Waffe seines Feindes den Schutz durchstoßen hatte.
Zahlreiche Wunden bedeckten Arvelegs geschundenen Körper, aus denen sein Blut auf den zertrampelten Boden floss und sich mit dem seiner getreuen Mitstreiter aus Cardolan und Arthedain vermischte, die alle gefallen waren.
König Arveleg überkam eine sonderbare Ruhe.
Die lähmende Furcht fiel von ihm ab, während er darauf wartete, was geschehen würde.
Er dachte an seinen Sohn und Trauer schlich sich in sein Herz. Araphor war noch ein Knabe und der letzte direkte Erbe Elendils durch die Linie der Könige des Nordens. Arveleg flehte stumm das Schicksal an, dass es seinen Sohn auf bessere Pfade führen würde und dass ihm vergönnt war, über Arthedain zu herrschen. Die Mauern Fornost waren stark, sicher und gut zu verteidigen. Es gab genügend Krieger dort, die Arveleg in weiser Voraussicht daheim gelassen hatte. Wenn ihr Geschick unter einem gütigen Stern stand, dann konnte die Hauptstadt dem Heer aus Angmar widerstehen, denn es war klein geworden ...
Der König von Angmar rief einen großen, grob gekleideten und zerzausten Menschen zu sich und sprach zu dem zitternden und demütig zu Boden blickenden Mann in einer Sprache, die Arveleg nicht verstand und auch nicht verstehen wollte, denn sie tat seinen Ohren weh. Der Wilde nickte, nahm sich ein paar Orks und brach die Tür des Wachturmes auf. Dann verschwanden die Krieger in den Tiefen des runden Bauwerkes.
Man hörte Rumoren, so als werde alles, was sich in dem Turm befand, durcheinandergeworfen und zerstört und nach einiger Zeit kamen die Orks und der Mensch zurück.
"Mein Fürst!"
Grotraug, der Führer der Wilden Menschen aus dem Nebelgebirge, warf sich vor Aran-dûr in einer demütigen Geste zu Boden. Bebend hielt er den Kopf gesenkt, um seinen Herrn nicht ansehen zu müssen, der reglos hoch aufgerichtet vor dem erschöpften König von Arthedain stand.
"Mein Fürst, der Turm ist leer", stammelte Grotraug mit kaum vernehmbarer Stimme. "Wir haben überall nach dem gesucht, was Ihr begehrt, Herr."
Aran-dûr blieb zunächst stumm und unbewegt. Doch dann stieß er einen Fluch aus in der Schwarzen Sprache von Mordor und alle, die ihn hörten, erzitterten und wichen zurück.
Alle, bis auf einen.
König Arveleg lachte leise. Mochte ihm auch der Tod bevorstehen ... er starb mit dem Wissen, dem Herrn von Angmar wenigsten eine winzige Niederlage zugefügt zu haben.
Unwirsch wandte sich Aran-dûr zu dem Fürsten von Arthedain um. Das Lachen hatte ihn über alle Maßen erzürnt.
"Lache nur, aber du lachst vergebens, Sterblicher!" zischte er den König an, während er einen gezackten Dolch aus seinem Gürtel zog. Die Klinge funkelte in einem bleichen Licht.
König Arveleg war zu schwach, um dem Dolchstoß auszuweichen, der auf sein Herz gezielt war, und auch wenn er noch vermocht hätte, sich zu wehren, hätte er es nicht getan. Sein Werk auf Mittelerde war erfüllt, das fühlte er. Er hatte sich mit seinem Verwandten aus Cardolan ausgesöhnt, seinen Stolz überwunden und tapfer gekämpft. Ergeben nahm er den Tod hin.
Aber wehe, der Tod war nicht sein Schicksal, denn die Klinge, die ihn traf, war verzaubert und vergiftete sein Herz, auf dass er ewig den Schatten verfiel.
Aran-dûr wandte sich von seinem gefallenen Feind ab.
Er hatte das Interesse an dem toten Körper verloren, dessen Fleisch von Kälte und böser Zauberkunst durchdrungen wurde, der zu flackern und zu verblassen begann und dessen Seele nun dem Dunklen Herrscher gehörte, zu ewiger Pein verdammt.
Der König von Angmar blickte vom Amon Sûl aus über das Schlachtfeld.
Die einstmals weiße und reine, feine Schneedecke war aufgewühlt von abertausend Füßen und Hufen und überall lagen die Erschlagenen. Das große Heer aus Angmar war klein geworden, denn die Dúnedain waren ruhmreiche Kämpfer und schonten ihre Feinde nicht und der Kampfesmut war über sie gekommen, so dass Orks, Wilde Menschen, Warge und Trolle mit ihrem Blut den Schnee tränkten.
Aber auch viele Dúnedain hatten ihr Leben gelassen.
Einzig die Krieger aus Arthedain, die von ihrem Herrn fortgeschickt worden waren, um König Varahir von Cardolan zu schützen und der Trupp, der Fürst Nardil mit dem Palantír nach Fornost begleitet hatte, waren dem Gemetzel entkommen.
Mehr als tausend Mann mochten die Dúnedain Arnors nicht mehr zählen.
Aran-dûr war zufrieden.
Auch wenn seine Reihen sich gelichtet hatten und er den Palantír nicht in den Händen hielt, so hatte er sein Ziel fast erreicht, denn Rhudaur und Cardolan standen nun unter seiner Herrschaft. Es blieb nur Arthedain.
"Grotraug!" herrschte der König von Angmar seinen obersten Heermeister an. "Lass die Krieger sammeln. Wir brechen auf, sobald die Dunkelheit herabsinkt."
Grotraug verharrte ehrerbietig in seiner kauernden Stellung und als sein Herr an ihm vorbeischritt, überkam ihn eine Kälte, die nichts mit dem Frost und dem Schnee zu tun hatte, die wieder an Stärke gewannen.
Erst als Aran-dûr ihm den Rücken zuwandte, erhob sich der wilde Mensch aus dem Nebelgebirge und antwortete: "Ja, mein Gebieter."
Dann verließ Grotraug eilig die Wetterspitze, um die Hauptleute zusammenzurufen. Die Orks huschten hinter ihm her, ebenso froh, aus der Reichweite ihres entsetzlichen Herrn zu kommen, wie der Mensch.
Einzig der König von Angmar war nun noch auf dem Amon Sûl. Er ließ sich Zeit, lauschte auf die Geräusche vom Schlachtfeld, die an seine feinen Ohren drangen, denn auch wenn der Kampf vorbei war, wurde es nicht still. Die Stimmen Verwundeter und Sterbender beider Seiten erfüllten die Luft, unterbrochen vom Wiehern verletzter Pferde und dem heulenden Wehklagen der Warge, die so den Tod begrüßten. Der Hexenkönig beobachtete, wie die Orks zwischen den Gefallenen herumstreiften. Sie suchten nach Beute, und nicht selten blitzte ein schartiges Schwert auf, um einem Verwundeten – ganz gleich ob Ork oder Mensch – das Leben zu nehmen. Es gab keine Gnade; für nichts und niemanden.
Ein unheilvolles Lächeln umspielte Aran-dûrs Lippen, als er sich dem Turm zuwandte, der hell wie der Schnee und unberührt vor ihm aufragte, ein trotziges Gebäude und ein Ärgernis.
Elendil hatte ihn erbauen lassen, als Wachturm und als Zeichen seiner Macht über Arnor.
Nun wurde die Macht der Dúnedain über den Norden Mittelerdes gebrochen und alle Zeichen ihres Daseins sollten ausgelöscht werden.
Aran-dûr ergriff sein Schwert mit beiden Händen, erhob es hoch über seinen Kopf und rief Worte der Macht. Ein blauer Blitz schoss vom grau-weißen Himmel in die Schwertspitze hinein, züngelte knisternd an der Klinge entlang, und der Hexenkönig stieß seine Waffe in den Boden.
Die Erde bebte. Ein Ächzen und Stöhnen durchlief sie, wie das Wehklagen eines uralten Geschöpfes. Von dem Schwert ging ein blaues Feuer aus, das überirdisch war und zerstörerisch.
Es jagte auf den Turm zu und traf ihn mit der Wucht eines ganzen Heeres. Schnell hüllte das Feuer das schlanke Bauwerk ein, unsichtbare Kräfte zerrten an den Mauern wie Riesen und mit einem ohrenbetäubenden Krachen stürzte der Turm auf dem Amon Sûl ein.
Nur ein doppelt mannshoher Kreis blieb übrig, der die Pracht des alten Symbols einstiger Größe wenigsten erahnen ließ - die Bögen hatten der zerstörenden Kraft fast unbeschadet widerstanden. Sie waren stumme Zeugen der Schlacht zwischen den Dúnedain von Arnor und dem Hexenkönig von Angmar und sie sollten auch dann noch stehen, als der letzte Kampf gegen das Dunkel in Mittelerde seinen Anfang nahm ...
Bis das Heer aus Angmar zum Aufbruch bereit war, verging nur wenig Zeit, denn die Krieger beeilten sich, der Anweisung ihres Gebieters Folge zu leisten und zum Anbruch der Nacht marschfertig zu sein. Geschäftig eilten sie hin und her, rafften Wertvolles zusammen, dass auf einen großen Haufen gelegt wurde, um später, wenn man zurückkam, verteilt zu werden. Waffen wurden ausgetauscht, denn selbst die Orks wussten die guten Klingen der Dúnedain zu schätzen, und herrenlose Pferde eingefangen. Zum Einbruch der Nacht konnte Grotraug seinem Herrn Meldung machen.
Aran-dûr hatte sich die ganze Zeit über auf dem Amon Sûl aufgehalten. Nun nickte er befriedigt, schwang sich auf sein Pferd, das leichtfüßig den Hügel hinablief, und setzte sich an die Spitze des Heerzuges.
Nördlich lag ein Moorgebiet, das unpassierbar war, deshalb wandte er sich wie geplant nach Westen. Die Große Oststraße, die an der Wetterspitze vorbeiführte, war gut ausgebaut und auch bei schlechtem Wetter der beste Weg. Nach ungefähr fünfzig Meilen kreuzte die Südstraße die Strecke. Dort wollte Aran-dûr sich nach Norden wenden und auf die Hauptstadt Arthedains - Fornost - zumarschieren. Binnen zweier Tage würde sein Heer vor den Toren der verhassten Stadt stehen!
Die Dunkelheit hielt die Schar nicht vom Vorankommen ab.
Orks, Warge und Trolle sahen in der Nacht nicht weniger gut, als im hellen Tageslicht - vielleicht sogar etwas besser. Den Menschen aus dem Nebelgebirge und Rhudaur kam der Schnee zu Hilfe, der die Dunkelheit weniger tief machte; der bleiche Schein wies ihnen den Weg.
Der König von Angmar gab ein zügiges Tempo vor. Das Gebiet um die Große Oststraße war ihm bekannt, und so kam das Heer schnell voran ...
