Arthedain
Fornost war zum Greifen nah. In der Ferne konnte man schon die Feuer erkennen, die auf den Mauern der Stadt für die Wachen entzündet worden waren, die in der Kälte der Nacht ihren Dienst verrichten mussten. Nur noch wenige Meilen trennten Aran-dûr von seinem endgültigen Triumph über die Dúnedain des Nordens.
Lange hatte es gedauert und viele Kräfte erfordert.
Doch Beharrlichkeit zahlte sich irgendwann aus, und der König von Angmar konnte Ewigkeiten warten, wenn es sein musste. Die Zeit hatte für ihn ebensowenig Bedeutung wie für die Unsterblichen, er war ihr nicht mehr unterworfen.
Es war kurz nach Mitternacht, als am Ende des Zuges Unruhe aufkam. Die feinen Ohren der Warge vernahmen Geräusche, die aus dem Dunkel der Nacht drangen, die wie ein schwarzes Tuch hinter ihnen hing. Auch die Orks begannen zu lauschen. Und schließlich hielten die Wilden Menschen in den leisen Gesprächen, die sie miteinander führten, inne.
Knarrte da nicht Sattelzeug? Klirrte nicht ein Schwert?
Aber so angestrengt sie auch in die Finsternis starrten, ihre Augen sahen nichts und ihre Ohren hörten nur die Geräusche der eigenen Gefährten.
Aran-dûr spürte die plötzlich aufkommende Unruhe, die das Heer erfasst hatte. Wachsam sah er sich um. Aber die Dunkelheit behinderte auch seine Sicht, sie war ein tiefschwarzer Schleier, durch den er nicht zu blicken vermochte. Selbst ein schnell gewebter Zauber, der ein geisterhaftes Licht schuf, das über der Streitmacht aus Angmar schwebte, erhellte die Nacht nicht. Es wurde einfach zerstreut. Der Hexenkönig stieß einen erbitterten Fluch aus.
Er war nicht der einzige in Arnor, der über mächtige Kräfte gebieten konnte. Die undurchdringliche Dunkelheit war geboren aus Zauberei!
Elbischer Zauberei!
Noch bevor Aran-dûr seinen Truppenführern eine Warnung zukommen lassen konnte, brach das Unglück über das Heer aus Angmar herein, denn mit einem Mal senkte sich der Vorhang aus Schwärze und gab sein Geheimnis preis.
Voller Hass, aber auch Faszination, sah Aran-dûr die Elben kommen.
Auf schlanken und geschmeidigen Pferden jagten sie aus der Finsternis heran, Glöckchen schrillten an den Zaumzeugen. Die Reiter trugen Langbögen, mit denen sie jedes Ziel trafen und schwangen Schwerter aus Mithril, die durch Elbenzauber gestärkt in den Händen ihrer Besitzer in einem goldenen Licht leuchteten.
Aran-dûr kannte diese Waffen nur zu gut, und erschauerte.
Sie konnten ihm schmerzhafte Wunden schlagen und ihn schwächen. Noch unerträglicher aber war für ihn ihr Ruf.
"Elbereth!" schrien sie mit klaren Stimmen, als sie durch die Reihen der Orks und Wilden Menschen jagten wie ein Sturmwind. Geisterhaftes Licht begleitete sie und schien milde über den Kämpfenden.
Mit ihnen ritten Dúnedain.
Cevaron und seine Männer ...
Es war den Elben von Bruchtal nicht lange verborgen geblieben, dass sich der Schatten von Angmar wieder regte. Sie hatten immer einen wachsamen Blick auf die verrufene Gegend im Norden gehabt, denn sie trauten dem Frieden nicht, der Jahrzehnte lang geherrscht hatte. Für sie - die Unsterblichen - war es ein winziger Augenblick gewesen, aber für die Menschen eine kostbare Zeitspanne.
Als plötzlich der Winter über Arnor hereinbrach, waren die Elben gewarnt.
Aufmerksam beobachteten sie und gewahrten besorgt, dass die Dúnedain Cardolans an die Grenze zogen.
Die feurigeren unter den Erstgeborenen drängten darauf, den Menschen Hilfe zu leisten, andere wiederum mahnten zur Besonnenheit; sie kümmerte das Schicksal der Sterblichen wenig, und sie waren müde geworden.
Als Späher jedoch berichteten, dass ein gewaltiges Heer aus Angmar nach Cardolan marschiere, ließen sich auch die Säumigen bewegen, und eine Elbenstreitmacht zog wenige Tage später aus Bruchtal hinaus, dem Feind hinterher, denn Elrond erinnerte sich an das Letzte Bündnis und an Elendil, dessen Erben schon zu lange in Bedrängnis waren.
Auf ihrem Wege trafen die Elben Cevaron mit seinen Getreuen und nahmen die erschöpften Dúnedain freundlich in ihre Mitte ...
Ein wilder Kampf entbrannte. Die Krieger aus Angmar wurden von Raserei gepackt, galt es doch, das Leben zu behalten oder so teuer zu verkaufen, wie es nur möglich war. Das Heer wurde im Laufe der Zeit vorangetrieben, weiter auf die Hauptstadt Arthedains zu. Bald erklang ein dumpfes Dröhnen aus dieser Richtung. Lichter tanzten heran und nicht lange, da wurden sie zu Fackeln in der Dunkelheit, gehalten von zahlreichen Reitern, die heranpreschten und einen Kriegsruf ausstießen.
Die Dúnedain von Arthedain waren es: die Verteidiger Fornosts und die wenigen, die der Schlacht um den Amon Sûl entgangen waren. Mit neuem Mut und gestärkt gingen sie den Feind an. An ihrer Seite waren gleichfalls Elben.
Círdan, einstmals Gefährte und Freund Gil-Galads und seit dessen Dahinscheiden Herr über das Reich Lindon, hatte eine Botschaft aus Bruchtal erhalten und war mit seinen Kriegern nach Fornost geeilt. Dort hatte er den todwunden Varahir gefunden und von den Dúnedain erfahren, dass es schlecht um sie stehe und dass Cardolan nicht mehr zu halten sei.
Círdan half den Bewohnern Fornosts, die Stadt für eine Belagerung bereit zu machen.
Als er jedoch die Kunde erhielt, dass das Heer aus Angmar klein geworden war, sammelte er seine Krieger und die Dúnedain von Arthedain, die bereitwillig und mit neuem Mut in einen zweiten Kampf ziehen wollten, um auf den rechten Augenblick zu warten, denn er wusste, dass seine Brüder aus Imladris der gegnerischen Streitmacht nahe waren.
So kam es denn, dass Círdan mit Araphor, dem halbwüchsigen Thronfolger, der es sich nicht nehmen lassen wollte, an der Spitze seiner Männer zu stehen, gegen den Feind vor den Toren der Stadt zog.
Unruhe überkam den Herrn von Angmar, als er sah, wie sein Heer in Auflösung begriffen war. Nicht einmal mehr seine beängstigende Anwesenheit hielt die Reihen zusammen. Und als die Elben ihn zu bedrängen begannen, verließen seine Gedanken die Hauptleute, die nun führerlos waren.
Aran-dûr hatte Mühe, sich gegen die heftigen Angriffe der Elben zu verteidigen. Sie jagten auf ihren wendigen Pferden um ihn herum und reizten ihn mit spielerischen Ausfällen, ohne ihm wirklich nahe zu kommen - aber ihre Waffen trafen seine Rüstung und sein Ross. Wütend verschaffte Aran-dûr sich mit seinem Schwert immer wieder freie Bahn, aber er konnte den Kreis nicht durchbrechen.
Die wohlklingenden Stimmen der Elben waren Gift für seine Ohren, er ertrug es kaum, wenn sie sich etwas zuriefen. Aber als sie einen Gesang anstimmten, der an die ruhmreichen Taten verehrter, alter Fürsten erinnern sollte, glaubte Aran-dûr den Verstand zu verlieren.
Er stieß einen gepeinigten Schrei aus und entfesselte seine Kräfte.
Die Elben wurden von einer unsichtbaren Hand ergriffen und von ihren Pferden geworfen. Sie nahmen keinen Schaden, aber sie waren für einige Augenblicke verblüfft, denn Aran-dûrs Zauber war weniger auf Zerstörung ausgerichtet, denn auf Verwirrung.
Der Herr von Angmar entzog sich weiteren Angriffen, indem er seinem Pferd die Sporen gab und die Flucht ergriff.
Grotraug fand sich mit einem Mal inmitten eines Knäuels Orks wieder, die wild umherrannten und den Waffen der Elben auszuweichen versuchten, die überall waren. Pfeile regneten auf die verängstigten Orks herab und dann Schwerter, denn die Elben-Krieger verlegten sich auf einen Nahkampf vom Pferde aus, als das Getümmel dichter wurde.
Grotraug drängte sich an den Rand der Horde; blieb er zwischen den verzweifelten Kreaturen, fand er unweigerlich den Tod. Wenn er jedoch etwas mehr Spielraum hatte, dann konnte er sich vielleicht retten.
Ihm war bewusst, dass er gegen die Elben nicht würde bestehen können. Ihre Kampfeskunst war der seinen weit überlegen, so gut er auch mit Schwert und Ger umgehen konnte, aber Grotraug wollte auch gar nicht kämpfen, er wollte einfach davonrennen.
Der Wilde Mensch hielt nichts von der versponnenen Meinung, dass ein Krieger auf dem Schlachtfeld zu sterben habe und dem Feind niemals der Rücken zukehre, weil das als unehrenhaft verschrieen war. Wenn man zwischen Ehre und Leben wählen konnte, dann entschied sich nur ein Dummkopf für die Ehre!
Der Mensch aus dem Nebelgebirge war kein Dummkopf und auch nicht feige. Niemand konnte ihm verübeln, dass er einen aussichtslosen Kampf erst gar nicht zu gewinnen versuchte.
Grotraug verschaffte sich mit seinen Langschwert freie Bahn und entkam dem Gewirr aus aufgeschreckten Orks, die zu Dutzenden unter den Streichen der Elben fielen. Die hochgewachsenen Krieger gaben sich nicht sonderlich Mühe mit der Erledigung ihrer Feinde, da sie wussten, dass früher oder später jeder, der sich nicht in Sicherheit bringen konnte, ihr Opfer wurde.
Dieser Ungezwungenheit verdankte Grotraug es, dass er sich zwischen den wiehernden und stampfenden Pferden hindurchdrängen und das Weite suchen konnte.
Erleichterung erfüllte sein Herz, als er die Elben hinter sich zurückließ. So schnell er vermochte, hastete er durch den zerwühlten und geröteten Schnee. Er stolperte über Orks, Menschen und Warge, rutschte in Matsch und Blut aus und kam außer Atem.
Nur noch ein kleines Stück und er war weit genug entfernt von den Scharmützeln, die hier und da noch im Gange waren. An einer guten Stelle wollte er sich einfach zwischen die Erschlagenen auf den Boden werfen und warten. Er hoffte, dass Elben und Dúnedain sich nicht zu sehr damit beeilen würden, die unweit der Hauptstadt gefallenen Feinde zu verbrennen.
Bald würde der Morgen anbrechen, schon wich die Dunkelheit einem grauen Zwielicht. In seinem Schutze wollte Grotraug sich davonschleichen, denn die letzten Kämpfe verebbten. Der Mensch nahm an, dass die Sieger dann nur noch wenig Wachsamkeit an den Tag legen würden ...
Eine wohlklingende Stimme hinter ihm, ließ Grotraug zusammenfahren.
"Ai! Rófiriel!" rief sie, und obwohl Grotraug der elbischen Sprache nicht mächtig war, ahnte er, was die Worte bedeuteten. Der Wilde Mensch stolperte weiter. Alle seine Pläne wurden durch den Elb zunichte gemacht. Gegen seinen Willen warf er einen Blick über die Schulter.
Hinter ihm kam ein Krieger auf einem Schimmel heran. Das Pferd setzte mühelos über die Gefallenen hinweg und strauchelte nicht ein einziges Mal. Viele kleine Glöckchen bimmelten wild am ledernen Zaumzeug.
Der Elb war schlank und groß, aber von sehr kräftiger Gestalt. Langes, blondes Haar umspielte sein feines Gesicht und seine grünen Augen blitzten entschlossen.
Grotraug sah mit Entsetzen, dass der Elb einen Langbogen von der Schulter nahm und einen Pfeil aus dem Köcher, der am Sattelzeug baumelte. Elegant spannte er den Bogen und während das Pferd über das Schlachtfeld fegte, ließ er den Pfeil von der Sehne fliegen.
Der Mensch aus dem Nebelgebirge war unfähig, sich zu bewegen. Er konnte dem Pfeil mit den Augen nicht mehr folgen.
Das Geschoss traf Grotraug mit ungeheurer Wucht in die Brust und warf ihn nach hinten. In einer letzten verzweifelten Geste griffen seine Hände nach dem gefiederten Schaft, aber sie erreichten ihn nicht.
Während er noch fiel, erstarben seine Augen. Blicklos starrte er in den Himmel. Niemals mehr würde er die verblassenden Sterne sehen können, die jetzt durch die aufbrechende Wolkendecke hervorkamen und das Firmament mit dem Funkeln winziger Edelsteine schmückten.
Ein klarer Morgen zog herauf, der die Schneewolken aus dem Osten vor sich herjagte und vertrieb.
Der Elb gönnte dem gefallenen Feind keinen weiteren Blick, sondern ließ seine scharfen Augen über das allmählich heller werdende Schlachtfeld gleiten, um nach anderen Flüchtigen Ausschau zu halten. Da er niemanden mehr entdeckte, den er mit seinen Pfeilen hätte erreichen können, zog er sein Pferd auf der Hinterhand herum und wandte sich in gestrecktem Galopp seinen Gefährten zu, die sich sammelten, um die letzten Widerstände des Feindes zu brechen.
Brennender Hass tobte im Herzen des Königs von Angmar, während er von der Stätte seiner Niederlage
floh und sah, was aus seinem einstmals so machtvollen Heer geworden war: ein heillos durcheinandergeratener Haufen, bar jeder Kontrolle, aufgerieben in kurzer Zeit und der Vernichtung nahe.
Wieder einmal waren es die Elben, die seinen Eroberungszug gestoppt hatten. Aus dem Reiche Lindon waren sie gekommen, das einst von Gil-Galad gegründet worden war. Und aus Imladris, der Heimstatt Elronds. Ihre Banner flatterten stolz in der Morgendämmerung. Wie er die Erstgeborenen verabscheute!
Aber trotz allem konnte Aran-dûr zufrieden sein. Rhudaur stand schon lange unter seiner Herrschaft und Cardolan war ein zerstörtes Land, von wenig Nutzen für diejenigen, die dem mordenden und brandschatzenden Heer aus Angmar entkommen waren. König Arveleg von Arthedain war unter seiner Hand gefallen und dem Schatten unterworfen worden. Der Turm auf dem Amon Sûl war geschleift. Eine große Schlacht hatte er gewonnen, auch wenn er den Kampf um die Hauptstadt Arthedains verloren geben musste. Viel hatte er erreicht, denn die Menschen waren dezimiert und geschwächt worden; das alles diente dem einen Ziel: das Königreich Arnor endgültig zu vernichten.
Das Schicksal der Menschen des Nordens war besiegelt.
Aran-dûr gedachte zurückzukehren und sein Werk zu vollenden.
Elendils Erben würden vom Angesicht der Welt gefegt werden und so für die Schmach büßen, die ihr Stammvater dem Dunklen Herrscher und seinen Getreuen zugefügt hatte - und wenn es viele Menschenalter dauern sollte ...
© Heru n' nertë 12/2001, 01/2002
überarbeitet 6/2003
