Kapitel 6

Die Kurse schienen überhaupt nicht enden zu wollen. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Ayumi war extra früh aufgestanden, hatte geduscht und war schon um 8 Uhr in der Universität über ihrer Forschungsarbeit gesessen. Professor Sotomura hatte sie besucht und sie hatten sich kurz über ihre Fortschritte unterhalten. Sie bewunderte den Professor sehr. Er war ein sehr kompetenter Mann und ihr absolutes Vorbild. Er schien wirklich auf jedes chemische Problem eine Antwort zu haben. Danach war sie zum Labor gegangen um ihre beiden Kurse abzuhalten. Der eine war ein Kurs für Erstsemesterstudenten, der meistens irgendwo im Chaos endete. Die Studenten sollten mit ihrer Hilfe chemische Versuche nachvollziehen, die ihnen Professor Sotomura oder Dr. Asimov in seiner Vorlesung gezeigt hatte. Nur meistens endeten diese Veranstaltungen mit einer kleineren Explosion, weil einige Studenten noch nicht die richtige Sorgfalt entwickelt hatten. Aber trotzdem liebte sie diesen Kurs. Nur heute wollte sie ihn so schnell wie möglich über die Bühne bringen. Der zweite Kurs beschäftigte sich mit DNA Analysen für höhere Semester. Ayumi fand diesen Kurs eigentlich zum Sterben langweilig, weil sie nicht viel zu tun hatte außer ein paar vereinzelte Fragen zu klären. Aber irgendwann war auch dieser Kurs vorbei. Nervös sah sie auf ihre Uhr. 13:45 Uhr. 'Noch eine Viertelstunde, sehr gut' dachte sie, rannte zu ihrem Büro und zog sich schnell einen anderen Rock und ein T- Shirt an, dass sie für ihre Verabredung mitgebracht hatte. Sie betrachtete sich noch einmal im Spiegel, fuhr sich durch die Haare und machte sich dann auf den Weg zum Festplatz der Uni wo der große Springbrunnen stand.

Es war wundervolles Wetter. Die Sonne schien und es war keine Wolke am Himmel zu sehen. Auf dem Festplatz tummelten sich unzählige Studenten. Einige lagen faul in der Sonne, andere lasen in Büchern, manche standen in Gruppen zusammen und diskutierten über Veranstaltungen und Dozenten oder einfach nur darüber in welche Kneipe es abends hingehen würde. Einige Studenten hatten ihre Kinder mitgebracht, die jetzt vor dem Brunnen oder auf der Wiese zusammen spielten. Alles in allem war es ein friedliches Bild. Ayumi ging auf den Brunnen zu. Es war noch kein Ken zu entdecken. 'Naja, es ist noch nicht ganz 14 Uhr. Vielleicht ist auch viel im Blumenladen los...' dachte sie und entdeckte eine Gruppe von Chemiestudenten, die sie freundlich zu sich riefen. Nachdem sie sich einige Minuten mit den Studenten unterhalten hatte, fiel ihr Blick wieder auf den Brunnen. Da stand er. Ken war da und hatte einen Strauß Blumen in der Hand. 'Wie süß' schwärmte Ayumi und verabschiedete sich von den anderen Studenten. "Also dann, bis morgen!" rief sie ihnen zu und rannte in Richtung Ken. "Ken!" Als er sie entdeckte lachte er fröhlich. "Hallo!" rief er und breitete seine Arme aus, in die Ayumi überglücklich hineinsank. Natürlich war das den Studenten nicht entgangen. "Sagt mal, ist das nicht der eine aus diesem Blumenladen?" fragte eine Studentin. "Oh, der ist aber süß" bemerkte eine andere. "Die hat vielleicht ein Glück!" Aber Ayumi und Ken hatten die Welt um sich herum vergessen. Die Lippen der beiden Liebenden kamen sich immer näher. Ayumi schloss glücklich die Augen. Sie konnte es kaum erwarten seine weichen Lippen auf ihren zu spüren. Ihre Lippen berührten sich beinahe, als auf einmal...

..."AAAHHH" ein markerschütternder Schrei die Ruhe und den Frieden auf dem Universitätsgelände störte. Ayumi zuckte erschrocken zusammen und sah in die Richtung aus der der Schrei gekommen war. "Was war das?" fragte sie. "Ich weiß nicht, lass uns nachsehen" schlug Ken vor. Die beiden liefen los. Auf einmal begannen Menschen in Panik durcheinander zu laufen. "Er hat eine Waffe!" schrie jemand von irgendwoher, ein anderer "Bringt euch in Sicherheit!" Und da sahen Ayumi und Ken auch schon was los war. Auf der Mitte des Platzes stand ein Mann und hielt etwas in die Höhe. "Er hat ein Katana[1]!" Ken stockte der Atem. "Er wird doch damit nicht auf unschuldige Menschen losgehen...." Der Mann drehte sich um und Ayumi konnte sein Gesicht erkennen. "Aber, das ist doch..." stotterte sie. "Du kennst ihn?" fragte Ken. "JA, das ist einer meiner Studenten! Sein Name ist....Hideki Toudai...." sie konnte es nicht fassen. Hideki war einer der vielversprechendsten Talente der höheren Semester, Professor Sotomura hielt viel von ihm. Wie konnte er nur so etwas tun? Die Menschen in Hidekis Umgebung hatten sich in Sicherheit gebracht. Alle, bis auf ein kleines Kind, das gedankenverloren mit einem Spielzeugauto beschäftigt war. Und genau auf dieses Kind ging Hideki mit erhobenen Katana zu. "Ken!" rief Ayumi. "Wir müssen etwas unternehmen!" Aber anstatt auf Kens Antwort zu warten, lief sie kurzentschlossen los. "Ayumi!" schrie Ken, warf seinen Blumenstrauß zur Seite und rannte ihr hinterher. Sie hatte das Kind fast erreicht. "Hideki! Du kennst mich doch! Hör auf!" schrie sie den Mann an und versuchte an seine Vernunft zu appellieren. "Komm zu Dir! HIDEKI" Doch dieser drehte nur den Kopf in ihre Richtung und sah sie mit leeren Augen an. "Ihr werdet alle bezahlen...." stammelte er "Ich muss alle töten....alle....töten...." Ayumi war bei dem Kind angekommen und riss es in die Höhe. Sofort fing es an zu weinen, weil es sein Spielzeugauto vor Schreck verloren hatte. Sie drehte sich schützend vor das Kind. Hideki setzte ein hämisches Grinsen auf, holte mit dem Katana aus und schlug zu. Ayumi schloss die Augen. Aber da war Ken zur Stelle. Er warf sich auf den durchgedrehten Studenten und riss ihn um. Hideki schlug hart mit dem Kopf auf den Steinboden auf. Nur leider kam Ken eine hundertstel Sekunde zu spät, das Katana hatte Ayumi am Arm getroffen und ihr tief in den Oberarm geschnitten. Von der Wucht des Schlages wurde sie zu Boden geworfen. Sofort rannten andere Stundenten herbei um Ken zu helfen. "Haltet ihn fest!" befahl Ken und kickte das Katana, das dem Amokläufer aus der Hand gefallen war, einige Meter weg. "Ruft die Polizei!" Die anderen Studenten hielten den durch den Aufprall bewusstlosen Hideki weiterhin fest und fühlten sich wie die Helden der Stunde.

Dann war Ken bei Ayumi. Bei ihrem Sturz hatte sie das Kind losgelassen. Die Mutter war jetzt bei ihm und weinte vor Glück dass ihm nichts passiert war. "Danke" rief sie Ken mit tränenerstickter Stimme zu. "Vielen Dank für alles! Sie sind Helden!" 'Helden, pah' dachte Ken. Seine größere Sorge galt der braunhaarigen Schönheit die vor ihm auf dem Boden lag. "Ayumi..." rief Ken. "Hörst Du mich? Du blutest ja..." Benommen schlug sie wieder die Augen auf. "Ken..." flüsterte sie. Vorsichtig hob sie Ken hoch und trug sie zu einer Bank. Dort sah er sich die Wunde an. "Das muss genäht werden, ich bringe Dich ins Krankenhaus." erklärte er und verband ihren Arm provisorisch. Ayumi sah ihn mit großen Augen an. Ken wusste nicht ob sie wirklich verstand was er ihr gerade gesagt hatte, aber sie hob ihren gesunden Arm und berührte damit vorsichtig sein Gesicht. "Ken..." langsam hob sie den Kopf und endlich trafen sich ihre Lippen. Beide versanken in einen wunderschönen Kuss. "Ayumi, das war so dumm von Dir!" flüsterte Ken, nachdem sie sich wieder getrennt hatten, und legte ihren Kopf an seine Schulter. Dabei küsste er noch einmal ihre Stirn. Aber Ayumi hörte ihn nur noch weit entfernt, vor ihren Augen wurde alles schwarz.

----------------------- [1] Jap. Samurai-Schwert